Wärme hat, wie Carnot schon in seiner Abhandlung: „Betrachtung über die bewegende Kraft des Feuers“ feststellte, immer eine Bewegungsrichtung: von Warm nach Kalt. Das, was Dampfmaschinen antreibt und einst eine industrielle Revolution hervorrief, funktioniert nur mit sehr einfachen Gesetzen. Ebenso verhält es sich mit Gesellschaften: durch Druck überhitzt, haben sie die Tendenz, ihre überschüssige Energie an die Umgebung abzugeben, um damit die bereits bestehende Unordnung zu vergrößern und selbst abzukühlen.

Ein einfaches Gesetz dies. Doch, wie schon Faraday erkannte, kann man diese Eigenschaft der Wärme auch für Nützliches einsetzen: Zum Beispiel können Lebensmittel in besonders dafür hergestellten Apparaturen gekühlt werden. Leider dachte Faraday noch nicht an die praktische Ausbeutung seiner Idee. Dies überließ er anderen Generationen. Bis dahin sollte es noch ein langer Weg sein. Am Anfang war das Experiment und die damit verbunden Heilserwartungen. Bevor die technische Kühlung entwickelt wurde, bedurfte es so genannter Pioniere wie z.B. Frederic Tudor, der sich der Sache auf eine eher rudimentäre Art und Weise näherte.

Er ließ in Kanada Eisseen abernten, um die so gewonnenen Eisblöcke in die großen Städte Amerikas zu transportieren. Dort wurden sie zur Kühlung von Lebensmitteln eingesetzt. Frisches Steak, so wie die Amerikaner es mögen, aber gerade erst aufgetaut und doch Monate alt, im ewigen Eis konserviert. Das Ernten von Eis wurde der Grundstein für Tudors Vermögen. Er gilt als einer der ersten Millionäre Amerikas. Ein Pionier, der die Bedürfnisse seiner Zeit erkannte und handelte. Er war der Eiskönig seiner Zeit. Als Erster überhaupt beglückte er die Menschheit mit den Segnungen der Kälte.

 

Menschliche Kälte wird immer schlechter gehandelt als menschliche Wärme. Aber hat sie nicht auch ihre positiven Seiten? Nichts kann so schlecht sein, dass es nicht für irgendetwas taugt. Wie musste es einst Onnes in Leiden ergangen sein, als es ihm gelungen war, Helium zu verflüssigen. Dies gelingt erst bei -268 Grad Celsius; die kälteste Temperatur beträgt -273 Grad Celsius. Dies ist der so genannte absolute Nullpunkt, der Anfang vom Ende, der Stillstand überhaupt. Er musste an diesem Tag sogar von seiner Frau gefüttert werden, damit er dem Experiment der stufenweisen Abkühlung der permanenten Gase, wie Faraday dies noch vermutet hatte, keinen Augenblick fernbliebe. Zunächst sah er überhaupt nichts, war sehr enttäuscht und wollte sogleich alles hinwerfen, jedenfalls für diesen Tag. Doch zur selben Zeit hielt sich eine Art Engel in Form eines Mitarbeiters im Labor auf. Der machte ihn – den eifrigen, aufgeregten Wissenschaftler – darauf aufmerksam, einmal etwas genauer hinzuschauen. Schließlich könne man Bilder mit einer Kamera auch erst dann machen, sobald man den Schutzdeckel vom Objektiv entfernt habe.

Ja, hin und wieder sieht man nicht alles mit bloßem Auge. Wie konnte ein so außergewöhnlicher Wissenschaftler wie Onnes dies nur vergessen. Er bekam für sein Experiment letztendlich im Jahr 1913 den Nobelpreis. Fast wäre die Idee hierzu an diesem denkwürdigen 10. Juli 1908 nicht zur Ausführung gelangt. Hätte er es nicht doch gesehen, mithilfe einer Lampe am Auffangglas: das suprafluide Helium, das die Gesetze der Schwerkraft nicht zu kennen scheint, für das es kein Hindernis gibt, das anscheinend durch alle Stoffe hindurch zu fließen vermag. Das war dann tatsächlich die Entdeckung der Kälte.

Nur wenigen Menschen scheint es vergönnt zu sein, derartige Entdeckungen zu machen. Was nicht bedeutet, dass damit die Geschichte der Kälte schon zu Ende wäre. Supraleitfähigkeit ist eine weitere Entdeckung, die ohne der Entdeckung der Kälte nicht denkbar gewesen wäre. Und was geschieht, wenn man noch tiefer geht? Sich derart nahe dem absoluten Nullpunkt zu nähern, dass es keine Rolle mehr spielt, ihn ein weiteres Mal nicht erreicht zu haben?

Frage: Wie verhalten sich eigentlich Atome, wenn sie so stark unterkühlt werden, dass man fast am absoluten Nullpunkt angelangt ist? Antwort: Sie verlieren ihre Individualität und bilden nur noch ein einziges großes quantenmechanisches System. Nicht umsonst wurde für die Erzeugung des Bose-Einstein-Kondensats 2001 an Wolfgang Ketterle, Eric A. Cornell und Carl E. Wieman der Nobelpreis verliehen. Alle Individualität ist dahin im alles gleichmachenden Bose-Einstein-Konzentrat. Aber – wer nun glaubt, dass hier das Ende oder der Anfang der Welt läge, den muss man enttäuschen. Schon wurde erkannt, wie auch dieser Zustand zu nutzen sei: mit der Konstruktion eines Quantencomputers, um digitale Informationen auf atomarer Ebene zu speichern und auch zu verarbeiten.

Nichts ist so schlecht, dass man es nicht für etwas Nützliches verwenden kann. Also: Warum denn gleich verzweifeln und über seinen Zustand, seine Befindlichkeit lamentieren! Es gibt immer Möglichkeiten, man muss nur seine Augen aufmachen, die Signale erkennen, die gesendet werden, dann ist der absolute Nullpunkt nicht das Ende der Welt. Nein, es ist die Chance, aus dem unterkühlten Leben etwas ganz Besonderes zu machen. Der Optimismus ist gratis und nur besondere Menschen kommen auf die Idee, sich Bücher zu kaufen, um das zu erlernen, was angeblich abhanden gekommen ist. Der Physiker würde vielleicht sagen: Der Optimismus ist indirekt proportional zum Informationsstand, und die Proportionalitätskonstante nennt man Dummheit.

 

© Günter Opitz-Ohlsen, Oktober 2008

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