Vor mir liegt es: das Buch. Rot leuchtet der Song Cai. Rot? Nein, blutrot. Zwei Tage habe ich es gelesen. Danach verschwand es wieder im Regal. Seite 188! 188 auf meiner Festplatte gespeichert. 188 die Auskunft, „188 in Rot“; 188 ist so wie Catweazle. Am Ende verschwindet er im Wasser. Den Zauberknochen nimmt er in seine Vergangenheit mit.
Das Buch? Ein Buch über Vietnam! Kein Reisebuch, nein! Keine romantischen Farbfotos, nein. Keine Tipps für billiges und gutes Essen, Wellnessoasen oder Freizeitparks, nein, nein, nein. Das alles gab es 1955 nicht. Dafür gab es den Triumph des vietnamesischen Volkes, ja, den Triumph des echten Humanismus, ja, der völkerverbindenden Solidarität und Franz Faber, der das Buch geschrieben hat, ja, ja, ja.
Die Schlacht von Dien Biên Phu war gerade geschlagen. Gerade? Das Land wieder unabhängig. Aber der Frieden, der sollte nicht lange dauern. Die Kriegskosten müssen sich schließlich für den großen Geldgeber lohnen. Freiheit gibt es nicht umsonst. Demokratie erst recht nicht. Mit Agent Orange, Napalm und anderen Spezialitäten, weil die Franzosen es nicht hin-kriegen. Nein, nicht im Buch. Dort sind Land und Leute 1955 auf vielen Bildern nach dem ersten Krieg zu sehen. Der alte Mann hat sie damals mit einer Spiegelreflexkamera und einem der ersten Farbfilme, die die DDR produzierte, gemacht. Das einfache Leben der Menschen. Einfache Menschen, und selbst der Feldherr, der die Unabhängigkeit seines Landes gleich zweimal erfolgreich verteidigte, ist ein bescheidener Ho Chi Minh.
Die Kriegsgefangenschaft war für den Alten Mann vorbei. Er fing als Journalist an. Seine Frau lernte er in Senftenberg kennen. Ein Leben lang blieben sie zusammen. Jetzt ist er allein. Gemeinsame Arbeit, natürlich. Beide übersetzten das vietnamesische Nationalepos: Das Mädchen Kieu. Damals standen ihnen alle Türen offen im sozialistischen Teil der Welt. Warum sollte sie nicht nach Vietnam gehen? Als sie wieder in Deutschland waren, hat er das Buch in drei Monaten geschrieben.
Heute, 96, sitzt er in seinem 20 Quadratmeter Gefängnis, gelähmt im Rollstuhl, angewiesen auf Hilfe, Pflegestufe XY, und schreibt noch immer: Gedichte, Prosa auf dem Computer. Der Kopf arbeitet, aber der Körper fühlt sich schwach. 20 Quadratmeter, ebenerdig, mit Tür zur Wiese. Die Wünsche sind immer noch da. Ein Schrank wäre schön, oder? Vietnamesischen Kaffee liebt er. Guten Tag Herr Faber, wird er im Asialaden begrüßt. „Ja wissen Sie“, sagte er zu mir, „die kennen mich aus der Zeitung. Die Vietnamesen habe ihre eigene Zeitung und da stand ich einmal drin, weil ich das Nationalepos übersetzt habe, sie wissen schon!“. Ich wünsche mir für ihn, dass die freie Wiese solange frei bleibt, bis er stirbt. Danach kann sie zugebaut werden. Investoren warten bestimmt schon.
Seite 188 in meinem Kopf. Die Seite hat es in sich. Ich habe oft darüber mit ihm gesprochen. Es ist das Geheimnis des Buches. Ein Buch mit einem Geheimnis! Ja, so ist es. Keiner kann es bis jetzt lösen, auch nicht Herr Faber. Weiß er überhaupt noch, was er da geschrieben hat? Er schreibt über den Besuch eines Krankenhauses. Medikamente aus der DDR, die haben die Vietnamesen in diesem Krankenhaus bekommen, kistenweise. Schließlich konnte dieser David gegen die Goliaths nicht nur mit Hilfe der Öffentlichkeit gewinnen. Kriegspropaganda? Nein, der kleine David macht keine Propaganda, die bleibt den Großen überlassen.
Eine Bäuerin aus Kien Thiet schaut mich in Farbe an. Sie hält eine Urkunde in den Händen. Eine Besitzurkunde über eigenen Boden. Privateigentum im Sozialismus? Rote Tücher sind um den Hals gebunden. Die Kinder tanzen. Es sind Pioniere, die Erntedankfest auf Sozialistisch feiern. Der französische Beton ist schwarz-weiß auf den Fotos, die Menschen in Farbe. Festungen, wie im Krieg, die die Kolonialmacht schützen sollte. Ho Chi Minh, der die Franzosen als Feind hatte. Bald waren sie Freund. Er selbst lebte im französischen Exil und damals war ein Bergmann ein Held der Arbeit.
Vietnam, ein Land, das Unterstützung brauchte. Die kam aus der Sowjetunion. Röntgenapparate für die Krankenhäuser. Viele Kriegswaisen und vom Krieg verstümmelte Menschen suchten ihren Frieden. Leider sollte er nicht lange dauern. Aber das war damals noch nicht klar. Die Chinesen halfen auch mit Röntgenapparaten. Alles auf einen Wagen gepackt. Alles wird mit Freude entladen. Und was hat die DDR geliefert. Ich kann es immer noch nicht glauben als ich den Absatz las. Ein Wort nur, ein Wort aus der Zukunft eben. Als wäre jemand aus dem Jahr 1980 in das Jahr 1955 gereist und hätte die Krankenhäuser Vietnams mit der Technik der Zukunft ausgestattet. Catweazles müssen das gewesen sein. Herr Faber weiß nichts mehr darüber zu berichten. Herr Faber hält sich aus allem heraus. Für ihn ist das Buch geschrieben und damit beendet.
Er lässt mich im Regen stehen. Wo soll ich anfangen herauszufinden, was mit diesem Wort gemeint ist? Wer könnte mir heute noch Auskunft darüber geben? Das Buch liegt vor mir und ich lese den Absatz wieder und wieder und wieder: „Als ich mich verabschiede, trifft gerade ein Lastwagen mit neuen medizinischen Einrichtungen ein, Röntgenapparate aus der Sowjetunion und China, Ultraschallgeräte aus der Deutschen Demokratischen Republik. Mit großer Freude wird der Wagen vom Personal des Hauses entladen.“ S. 188, Rot leuchtet der Song Cai, 1955, Kongress-Verlag Berlin.
Das kann nicht sein und es steht doch da. Selbst Wikipedia weiß nichts darüber zu berichten. Die Geschichte der medizinischen Anwendung dieser Geräte wurde erst in den 60er Jahren geschrieben. Für den Militäreinsatz gab es die Geräte schon früher. Aber sie hätten den Menschen zerfetzt anstatt ihn zu durchleuchten. Erst in den 80er Jahren wurden die ersten medizinischen Geräte dieser Art entwickelt. Heute ein Standard, der für viele Zwecke eingesetzt wird, damals unmöglich! So bleibt das Geheimnis. Das Geheimnis eines Buches. Das Geheimnis eines Wortes. Das Geheimnis eines Menschen. Das Geheimnis einer Zeit. Das Rätsel eben, das einer Lösung bedarf.
© GOO, Februar 2012