Sie sehen süß aus und gehören der Gattung der Langschwanzmäuse an. Ihre kleinen Knopfaugen und ihre spitz zulaufende Schnauze hätten sie zu einem Verkaufsschlager der Stofftierindustrie machen können, wäre nicht ihr Ruf dermaßen schlecht gewesen. Schon manch einer hat seine persönliche Situation in folgende Worte gekleidet: Er könne gar nicht soviel fressen, wie er kotzen wolle. Wäre er allerdings eine dieser Langschwanzmäuse, hätte er damit seine Schwierigkeiten, denn eine Schleimhautfalte macht das Kotzen für diese Tiere fast unmöglich, obwohl sie in Verhältnissen überleben müssen, in denen das Kotzen als ein angemessener Ausdruck ihrer Lebensbedingungen gelten könnte. Dafür hat Mutter Natur diesen putzigen Tierchen einen Vorteil verschafft, um den sie einige Menschen in dieser Welt beneiden würden: sie besitzen keinerlei Schweißdrüsen und benötigen somit auch keine Duftwässerchen, um den unangenehmen Eigengeruch vor anderen zu verdecken.

Tage träumten in Herbert, und er wusste immer noch nicht, ob er sie würde hinweg träumen können. Er hatte in der Zeitung darüber gelesen: Ein Euro pro getöteter Ratte, so lautete der Vorschlag eines FDP-Politikers. Gewundert hatte sich Herbert dennoch, weil er Angehörige dieser Partei stets als Lobbyisten für den Mittelstand verstanden hatte und deshalb anfangs diesen Vorschlag nicht einordnen konnte. Die Rattenjagd wäre eher etwas für professionelle Kammerjäger gewesen und weniger für Hartz-IV- Empfänger, wie von jenem Politiker ins Gespräch gebracht. Die angesprochene Personengruppe jedoch hätte mit ein paar getöteten Ratten ihren Mehraufwand nicht einmal decken können. Insofern handelte es sich um ein gehöriges Zuschussgeschäft, während das Sammeln von Flaschen aus Mülleimern sicherlich eine lukrativere Einkommensquelle gewesen wäre, die keinerlei Kenntnisse in Biologie oder Chemie erforderte, geschweige denn der Gesetzeslage, die es nicht zuließ, dass Krethi und Plethi sich auf Rattenfang begaben. Darüber hinaus konnte man nicht einfach Ratten mit einem Knüppel erschlagen schließlich gab es ethische Grundsätze, die auch beim Töten von Ratten ihre Gültigkeit nicht verlieren durften. Eine fürwahr recht abenteuerliche Vorstellung eines Politikers, dachte Herbert, die sehr viel über den Bewusstseinsstand eines Erwachsenen verriet, der mit beiden Füßen auf dem Boden der Realität zu stehen vorgab.

Ratten sind flinke Tiere und lassen sich nicht durch Lärm erschrecken oder aus ihren Löchern vertreiben. Erst eine direkte Berührung würde den erwünschten Effekt erzielen. Eine sehr uneffektive Methode wäre dies, um Ratten zu jagen. Herbert machte sich so seine Gedanken, auf welche Weise er Ratten massenweise zusammentreiben könnte. Nach einiger Überlegung kam er zu dem Schluss, dass es nach der Hamelnschen Methode gewiss nicht funktionieren könne, schließlich seien diese Tierchen bekanntermaßen jeglichen Geräuschen gegenüber indifferent. Sex hingegen hatten sie recht häufig. Eine Rättin bringt es im Laufe ihres Lebens immerhin auf eine Deckungsrate von 200 bis an die 500 Malen. Ratten vermehren sich, wie man sieht, recht schnell und sind schon nach wenigen Wochen geschlechtsreif, hatte Herbert über das Internet in Erfahrung bringen können. Hier also müsste er den Hebel ansetzen. Ebenso, wie es beim Menschen sexuelle Schlüsselreize gibt, gab es diese nach Herberts Überzeugung auch bei Ratten. Wie gesagt, Kenntnisse in Biologie waren unvermeidlich, um das Problem zu lösen. Die Ratten mit einem Rattenbordell anzulocken und dann die Falle zuschnappen zu lassen: Klappe zu, Ratte tot so einfach konnte das in Herberts Vorstellung sein. Er träumte von einer unerschöpflichen Geldquelle, die in Berlin-Mitte sprudeln müsste, wo sich angeblich vier Millionen der niedlichen Nagetiere von Imbissresten und anderen Abfällen ernährten.

Herbert googelte weiter, um mehr über das Sexualverhalten der Ratten zu erfahren und wurde auch recht bald fündig: Aspirin sei bestens geeignet, das Sexualverhalten bei Ratten zu verändern, allerdings eher in eine Richtung, die Herbert nicht beabsichtigte. Was konnte Ratten nun so aufgeilen, dass sie freiwillig in Herberts Rattenbordell eilen würden? Ein paar Links später entdeckte er weitere, nicht weniger hilfreiche Hinweise: „Moderate doses of caffeine affect sexual behavior in female rats“. Das Experiment, das einst Guarraci und Co. an den possierlichen Nagern durchgeführt hatten, zeitigte eindeutige Ergebnisse: 15 bis 30 mg Koffein pro kg Ratte versprachen, die weiblichen Tiere rattenscharf zu machen.

Nun war es an der Zeit, ein Geschäftsmodell zu entwickeln: Herbert träumte. Für jede tote Ratte einen Euro, das macht bei einhundertausend Ratten einen stattlichen Betrag, von dem es sich sicherlich einige Zeit über die Runden kommen ließ. Auf der anderen Seite waren die Investitionskosten zu bedenken: Die Rattenfarm, die für eine derart große Anzahl von Tieren notwendig sein würde, bräuchte nicht unbedingt etwas zu kosten: eine leer stehende Ruine – davon gab es genug in seiner unmittelbaren Umgebung – würde den Zweck erfüllen. Dennoch müssten die Tierchen für eine gewisse Zeit am Leben erhalten werden, was wiederum Zusatzausgaben für Nahrung und letztendlich auch für Koffein und Aspirin bedeutete, um die Zucht entsprechend steuern zu können. Da Rattennahrung, wie Herbert ebenfalls über das Internet in Erfahrung gebracht hatte, nur zu 10% aus tierischen Eiweißstoffen besteht, fühlten sich die Ratten bei einer vegetarischen Kost am wohlsten. Dies wiederum würde unmittelbar die Kosten senken. Probleme bereiteten Herbert eher die benötigten Mengen an den besagten Aufputschmitteln. Sie waren nicht so billig zu bekommen. Beim Koffein sah die Bilanz etwas erfreulicher aus, weil man bei einer durchschnittlich großen Tasse Instant-Kaffee von einer Koffeinmenge von 60mg ausgehen konnte. Dies würde für zwei bis vier zu dopende Weibchen reichen. Würde er anfangs auf das Aspirin verzichten, so könnte er die Kosten besser unter Kontrolle halten.

Nicht nur in Zeiten einer Finanzkrise hätte Herbert für seine Rattenzucht keinen Heller von irgendeiner Bank bekommen, und ohne entsprechende Werbemaßnahmen ist bekanntermaßen kein Geschäftsmodell tragfähig. Es fehlt ihm sozusagen die Statik, die es krisensicher macht. Allerdings war es Herberts Träumereien zufolge sehr einfach, zum Ankurbeln seiner Geschäfte die Öffentlichkeit für seine Zwecke einzuspannen. Zunächst würden ein paar Ratten reichen, die er heimlich an markanten Punkten in Berlin-Mitte aussetzte. So zum Beispiel im Roten Rathaus, dem Fernsehturm, dem Einkaufszentrum Alexa oder in der „Galeria Kaufhof“ am Alexanderplatz, und schon hätte er seine Hausaufgaben gemacht und brauchte nur auf den nächsten Tag zu warten. „Rattenplage am Alexanderplatz“, „Berlin erstickt in Ratten“ hätten die Schlagzeilen lauten können und die Exklusivfotos, um die sich voraussichtlich jede Boulevardzeitung gerissen hätte, wären von ihm gekommen: Erschreckte Kunden, vom Ekel getrieben, suchen fluchtartig das Weite und finden es nicht, weil draußen, auf dem Platz, erneut von Herbert großgezogene Ratten ihre Wege kreuzen. Diese Geschäftsidee wiederum hätte ihm das fehlende Anfangskapital für seine geplante Rattenzucht eingespielt.

Alles andere wäre wie von selbst gelaufen. Die Politik wäre erneut mit dem Vorschlag bezüglich des Rattenkopfgeldes an die Öffentlichkeit getreten und hätte die Kammerjäger, die einst behauptet hatten, die Rattenpopulation in Mitte sei seit Jahren konstant geblieben, eines vermeintlich Besseren belehrt. Die Fangprämie pro erlegter Ratte wäre erst einmal von einem auf sage und schreibe zwei Euro gestiegen, die Rahmenbedingungen für die Rattenjagd – insbesondere die Abschaffung lästiger ethischer Vorgaben durch das Gesetz – wären prompt umgesetzt worden und Herbert wäre endlich das gewesen, was er schon immer sein wollte: Regisseur seiner selbst inszenierten Uraufführung.

Eventuell hätte man sogar auf Leihkapital aus der freien Marktwirtschaft hoffen können, die wiederum die Rattenjagd in der zweiten heißen Phase über eine Rattenbörse in Schwung gebracht hätte. Angebot und Nachfrage hätten somit die Fangprämie bestimmt, während die Politik, hiervon war Herbert überzeugt, bereitwillig die deregulierenden Voraussetzungen für die Ponzifinanzierung, Naked Short Selling, Forwards bzw. Futures und Put- bzw. Call-Optionen an dieser sonderbare Börse geschaffen hätte, um auch der internationalen Finanzwirtschaft den Braten schmackhaft zu machen. Endlich hätte man ein wirksames Segment für Zockerkapital in der Hand gehabt, dem ein gewisser Unterhaltungswert nicht abging. Der ein oder andere Banker der Stadt hätte nach Herberts Vorstellung gewisse Teile von Geldströmen genutzt, um die Preise an der Rattenbörse nach unten oder oben zu treiben. Herbert spürte, wie die Freiheit in seinen Adern zu fließen begann, wie sie durch seinen Körper pulsierte und wie eine frische Brise an der See seinen Kopf reinigte und ihm zu dem Höhenrausch verhalf, den man mit keiner Droge dieser Welt hätte kaufen können. Rosige Zeiten, kam es über seine Lippen, und die Worte beschrieben nicht nur seine hervorragende Stimmungslage, sondern verstärkten sie sogar.

Ein Haken hatte die Sache nur: Woher sollte Herbert seine Ratten bekommen? Für die Zucht kamen verständlicherweise nur lebendige Tiere infrage. Jetzt ging die Arbeit erst richtig los. Herbert machte sich erneut im Internet kundig. Den Link „Berliner Unterwelten e.V.“ fand er sofort und las staunend über das „zweite Berlin“: Eine grüne Tür im U-Bahnhof Gesundbrunnen, die Falkturmruine im Volkspark Humboldthain, Geisterbahnhöfe, die zu früheren Zeiten West-U-Bahnen benutzten, um den Ostteil der Stadt zu unterqueren, oder aber die selbst gebauten Fluchttunnel aus der Zeit des Kalten Krieges. Alles in Allem hervorragende Überlebensstätten für die Gattung innerhalb der Unterfamilie der Altweltmäuse.

Sichtlich zufrieden konnte Herbert an diesem Tag zu Bett gehen. Er hatte einen Plan sowie für den nächsten Tag eine Aufgabe, die ihn am Leben erhalten würde. Selbstverständlich schlief er sofort ein, ohne die sonst üblichen Grübeleien in seinem Kopf darüber, wie es weiter gehen sollte, für den Fall, dass er auch in diesem Jahr keine sozialversicherungspflichtige Lohnarbeit finden würde.

Das Licht seiner Grubenlampe beleuchtete nur spärlich den dunklen Gang, der im Schein der Lampe wiederum seine Gestalt stets nur bruchstückhaft enthüllte. Herbert war in der Unterwelt angelangt, und hier schien es all das zu geben, was es auch über Tage gab. Wie viel Leben traf er hier an? Er konnte es nur erahnen. Die Erde ist hohl aber nicht leer, dachte er bei sich, und er handelte diesen Gedanken wie eine tief greifende philosophische Erkenntnis, die ihm gerade ihren metaphysischen Charakter offenbart hatte. Vielleicht lag es an der punktuellen Beleuchtung seiner Grubenlampe: Er glaubte sich in seinem eigenen Körper, den er nun, kraft seiner Gedanken, erhellen konnte. Was hatte die elektronische Revolution der Gesellschaft noch gebracht außer einer sich anscheinend ins Unendliche steigenden Geschwätzigkeit? Viele zusätzliche Adern, die die Nervenzellen dieser Welt miteinander verbanden und imstande waren, innerhalb einer Sekunde millionenfache Informationen in Form von Lichtimpulsen zu übertragen, die hier unten nur überleben konnten, weil sie mit einen Nageschutz ummantelt oder aber durch Kabelkanäle geschützt waren. Würde dies die Ratten tatsächlich davon abhalten, an den Kabeln zu nagen, Geldtransaktionen zum Erliegen zu bringen, die Wirtschaft zu ruinieren? Welchen Wert hatte schon ein Computer, wenn er nicht vernetzt war? Nur in einer vernetzten Welt konnte alles mit Lichtgeschwindigkeit geschehen: Sowohl die Krise als auch der Aufschwung konnten sich so schnell abwechseln, dass der Unterschied nicht mehr zu bemerken war und sich die Wahrnehmung auf ein statistisches Mittel einstellten musste, um der Geschwindigkeit in der Unterwelt scheinbar zu trotzen.

Hier also pulsierte das Blut, das den Körper am Leben erhielt, solange die entsprechend Nahrung von außen zugeführt wurde! Wie aber konnte in dieser dunklen, nie ganz auszuleuchtenden Welt die Spezies Ratten nur überleben, von der Herbert noch immer annahm, sie hier, an diesem Ort, anzutreffen? War es am Ende die Geschwindigkeit selbst, die diese bis an ihre Grenzen ausgereizte Welt gleichzeitig ebenso gierig wie fragil machte? Würde eine einzige Ratte genügen, sie zum Zusammenbruch zu bringen?

Herbert sah im Licht seiner Grubenlampe ein lose herunter hängendes Kabel. Er konnte nicht erkennen, ob es ein Daten- oder ein Stromkabel war, dennoch hatte er mit einem Mal ein triebhaftes Verlangen, das Kabel zwischen sein Diastema zu platzieren, um dann mit seinen Schneidezähnen, die im Laufe der Zeit zu schnell gewachsen waren, daran zu nagen. Dies tat er nicht, um sich etwa durch Nahrungsaufnahme zu stärken, sondern um sich durch den dadurch entstehenden Abrieb die Schneidezähne zu kürzen. Diese notwendig gewordene Gebisspflege erschien ihm in seiner Situation mehr als angemessen.

Zudem litt Herbert schon seit geraumer Zeit an einer bislang nie abgeklärten Augenentzündung. Zwar heilte sie vorübergehend ab, kehrte aber recht bald wieder, sobald die Augentropfen aufgebraucht waren. Irgendwann hatte er aufgeben und sich damit abgefunden. Morgens war es immer besonders schlimm, weil sich im Schlaf das aus den Augen austretende rötliche Sekret über seine Gesichtshaut verteilte und dort Entzündungen hinterließ, die er dann mit einem Kräuterextrakt behandelte. Auch hier in der Unterwelt tränten seinen Augen, und im Licht der Grubenlampe konnte er eine einzelne Träne auf seiner Handfläche erkennen. Er verrieb sie sorgsam in seinem Gesicht, um die Haut damit zu reinigen.

Die Grubenlampe erlosch, aber zum ersten Mal überhaupt nahm die Dunkelheit Herbert nicht die Orientierung. Er verließ sich nur auf sein Gehör, welches sich allem Anschein nach gebessert hatte. Wie erstaunt war er nunmehr über die Präzision der Geräuschwahrnehmung! Er schien sogar diejenigen Töne zu hören, die sich über die Kabelkanäle verbreiteten. Ohne sich seiner Umgebung zu vergewissern, folgte er einem der fortdauernden Pfeiftöne, die ihm sehr weit entfernt vorkamen.

Dass er sich dabei wie ein Kleinkind auf allen Vieren bewegte, merkte er zunächst nicht, denn in seiner Nase war ein Geruch, der ihn betörte. Herbert bewegte sich immer schneller vorwärts, nur noch seiner Nase folgend. Noch nie im seinem Leben war er so flink gewesen wie jetzt. Diese neue Beweglichkeit verschaffte ihm ein Glücksgefühl, das ihm schon lange abhanden gekommen war. Er hätte vor Freude tanzen und in die Luft springen können und das tat er auch, eben so lange, bis er das sich ihm nähernde, spitz zulaufende Gesicht mit den dunklen Knopfaugen erkannte. Er hatte die Quelle des betörenden Duftes gefunden, die ihn für ein paar Sekunden alles vergessen ließ, was ihn je gequält hatte.

Er war am Ziel.

 

© goo, Januar 2009

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