Seit einiger Zeit haben wir neue Nachbarn.
Zunächst haben wir sie nicht bemerkt. Auch ihren Namen erfuhren wir trotz aller neugieriger Blicke auf das entsprechende Namensschild am Klingelbrett nicht.
Was uns allerdings auffiel, das waren in der folgenden Zeit recht ungewohnte Geräusche über unseren Köpfen. Zunächst war nur ein Scharren zu hören, dann ein Rollen, ab und zu ein rhythmisches Klopfen. Letzteres vernahmen wir vor allem nachts. Lassen wir ihnen Zeit, redeten wir uns während der ersten Wochen noch gut zu, sie müssen sich eingewöhnen. Nach einer Schonfrist von drei weiteren Monaten waren die beschriebenen Geräusche noch immer nicht verstummt. Sie hatten, wie uns schien, sogar noch an Intensität und auch an Lautstärke zugenommen. Neu war nun dies seltsame Getrappel, das im Laufe der Zeit hinzugekommen war.
Sie werden Kinder haben, dachten wir und ertrugen die Geräusche ein weiteres halbes Jahr mit großer Geduld. Mit einer allmählich ansatzweise einsetzenden Gewöhnung nahmen wir in der nun folgenden Zeit nur noch dies heftige, rhythmische Klopfen wahr, denn es riss uns regelmäßig aus unserer tiefsten Schlafphase. Fünf Minuten, zwei Minuten Pause, fünf Minuten. Das ist normal, redeten wir uns ein, sie werden jung sein und verliebt. In der Folge wurden wir zu guten Kunden der nahen Apotheke. Nach der ersten Zweierpackung Ohropax folgten mehrere Familienpackungen, bis wir schließlich ein günstiges Dauerabonnement bei einer online-Apotheke abschließen konnten. Zu unserem zur lieben Gewohnheit gewordenen Abendtee gaben wir fortan eine zunehmende Dosis an Baldriantropfen. Als auch dies keine nennenswerte Abhilfe bewirkte, verlegten wir unsere Schlafstätten mal ins Badezimmer, mal ins Hochbett im Gästezimmer. Aber auch hier gab es kein Entrinnen vor dem nun rund um die Uhr zu hörenden Trappeln, Rollen, Klopfen. Einmal im Vierteljahr leisteten wir uns sogar ein Hotelbett.
Exakt in dieser Phase klingelte eines Tages der Paketbote an unserer Tür. Zwar tat er dies mehrmals in der Woche, um Pakete für diverse Hausbewohner bei uns zwischenzulagern. Dies eine Mal aber war die Sendung für unsere nun nicht mehr neuen Mitbewohner bestimmt. Ob wir sie annehmen könnten, fragte der Überbringer, es seien sehr große Pakete. Zwar schmal, aber so hoch – und er zeigte in seine eigene Schulterhöhe. Wir hatten Mitleid mit dem etwas schmächtigen Mann und sagten auch dieses eine Mal nicht nein.
Schließlich standen die übergroßen Pakete in unserem Flur und verstellten im Namen einer guten Nachbarschaft sowohl den Zugang zu unserer Küche als auch zum Schlafzimmer. In letzterem hatten wir uns – wie erwähnt – schon seit längerer Zeit nicht mehr aufgehalten. Selbstverständlich sahen wir uns auch dieses Mal die Aufschrift auf den Paketen etwas genauer an – schließlich wollen wir nicht für das Beherbergen unter Umständen strafbarer Hilfsmittel für die Anzucht etwaiger verbotener Gewächse haftbar gemacht werden. Dennoch wunderte ich mich, als ich auf dem Etikett eines der Pakete anstelle der allein schon wegen der Ausmaße erwarteten Bauteile für ein Kinderbett die schematische Konstruktionszeichnung zur Montage von Kaninchenställen erkannte.
Gegen Abend desselben Tages klingelte es an unserer Wohnungstür. Ein etwas untersetzter Herr mit tief ins Gesicht gezogener Schildkappe nahm erfreut die Sendung entgegen. Dabei klopfte er mit seinem rechten Fuß kurz hintereinander auf die Fußmatte und grinste mich mit einem unregelmäßigen Gebiss an, das mir seither wegen seiner mir ungewöhnlich ausgeprägt erscheinenden oberen Schneidezähnen im Gedächtnis verhaftet ist.
«Hast du seine Zähne gesehen?», fragte ich Paul, der währenddessen stumm an meiner Seite stand.
Am darauffolgenden Wochenende ertrugen wir fast mit Erleichterung das Hämmern, Bohren und Nageln über unseren Köpfen, denn es unterschied sich wohltuend von allen bisher ertragenen Geräuschen. Er wird die Ställe zusammenbauen, bemerkte Paul, das kann er von mir aus. «Wenn es nicht Wochen dauert?» gab ich, Böses ahnend, zu bedenken. Wider Erwarten war dies neue Geräusch bereits nach drei Stunden ausgestanden. Zur Feier des Tages genehmigten wir uns eine Flasche Rotkäppchen-Sekt. Seit mehr als einem Jahr hatten wir sie für eine besonders festliche Gelegenheit verwahrt – nun war diese Stunde gekommen.
Wir taten gut dran, denn bereits von der darauf folgenden Nacht an vernahmen wir aufs Neue das rhythmische Klopfen der anderen, bereits gewohnten Art. Wo immer auch wir von dieser Nacht an unser Lager aufschlagen mochten, wir wurden das Geräusch nicht mehr los. Selbst auf unserem Balkon, auf dem wir uns seiner geringen Ausmaße wegen hatten zusammenkrümmen müssen, fanden wir fortan keine Ruhe mehr. Keine, wirklich keine unserer bisher ergriffenen Geräuschdämmungsmaßnahmen wirkten mehr, auf keinem Quadratzentimeter unseres Wohnraums. Wir waren mit unseren Nerven ebenso buchstäblich am Ende wie mit unserem nachbarlich-mitmenschlichen Verständnis. «Gehst du?» konnte ich Paul an einem dieser Tage nur noch anflehen, so eindringlich, dass er sich endlich erbarmte. Auch er wusste keine andere Lösung mehr für unser Problem.
Kaum hatte er unsere Wohnung verlassen, hörte ich ihn schon wieder die Treppe herab eilen. «Hast ... du?», fragte ich ihn vorsichtig, denn irgendetwas musste ihn gerade heftig erschüttert haben.
Diese Ohren, stieß er hervor, so etwas von Ohren habe ich in meinem Leben noch nicht gesehen!
Zu unserem Glück wurde in der nächsten Zeit eine Dachwohnung im selben Haus frei. Wir bekamen den Zuschlag, wenngleich wir nunmehr mit einer verminderten Raumanzahl vorlieb nehmen und deshalb auf einige unserer Möbel verzichten mussten. Auch die Zimmerdecken sind ein wenig niedriger als wir sie im Erdgeschoss hatten. Doch was ist dies schon gegen die Ruhe, die unermessliche, die mit nichts zu bezahlende Ruhe, die wir nun genießen. Über uns nichts als Stille. Ab und zu einmal das Geräusch eines gurrenden Taubenpaares.
Die aber machen es ganz, ganz leise.
Erschienen in: «Die schrägsten Berliner Zehn-Minuten-Geschichten», Horst Bosetzky (Hrsg.), Jaron-Verlag, Berlin, 2013, ISBN 978-3-89773-726-6
©BiO