Aus der Hüttenwerkstatt
Mamadou
- Geschrieben von: Birgit Ohlsen
Im Gegenlicht ist er kaum zu erkennen. Man könnte ihn für eine weitere Statue halten, nur wenige Meter entfernt vom bronzenen Abbild des Feldherrn Julius Cäsar. Im Hintergrund der Schattenriss des Colosseo. Der Feldherr erhebt den linken Arm zum Gruß, auch Mamadou bewegt sich zunächst nicht. Dunklen Schösslingen gleich heben sich seine kurzen Rastazöpfe vom tiefem Himmelsblau ab. Von seinem etwas angewinkelten linken Arm baumeln Armreifen, Halsschmuck, anderes afrikanisches Kunsthandwerk. Jetzt macht er ein paar Schritte auf sie zu, spricht die Frau an. Ehe sie sich besonnen hat, umringt ein aus Lederschnüren geflochtenes Armband ihr rechtes Handgelenk. Es muss die Hitze sein, vielleicht auch die Erschöpfung, die sie die gewohnte Skepsis missachten lässt, die macht, dass sie sich einlässt. Ja, das mit dem eingravierten Elefanten auf schwarzem Grund gefällt ihr. This one looks great on you! sagt der junge Mann. Wie oft wiederholt er diesen Spruch am Tag? Er gehört zum Business, das weiß sie. Das Geschäft ist eröffnet.

Während er noch am Verschluss der Lederriemen nestelt, redet er. Er spricht Englisch, das verstehen beide. Womit er nicht gerechnet hat: Sie möchte mehr von ihm wissen. Einen Augenblick lang stutzt er. Also hakt er nach, grinst ungläubig und vergewissert sich, als habe er nicht recht gehört: You really want to know? Fürchtet er, von seinem Business abgehalten zu werden? Ohne Geschichte kein Geschäft, beharrt sie und nestelt ihrerseits am Lederband, deutet damit ihre Bereitschaft an, den angebahnten Kauf durchaus rückgängig zu machen. Okay okay, lacht er. Bevor er beginnt, fragt er sie nach ihrem Namen, das schafft Vertrauen. Bemüht sich, ihn akzentfrei zu wiederholen, nennt dann seinen: Mamadou. Mamadou, der Gepriesene, der Gelobte. Mamadou aus dem Senegal.
Luftschwaden vibrieren in der Hitze. Während Mamadou von seiner Heimat erzählt, sind seine Augen in Richtung Süden gerichtet. Africa is so beautiful, ergänzt er seinen kleinen Bericht, You should go there and see it with your own eyes! Ein bisschen klingt es wie Heimweh. Jede weitere Frage nach dem „Warum“ seiner Flucht erstirbt, bevor sie noch gedacht ist. Nein, Wunden aufreißen möchte sie nicht. Eines möchte sie aber wissen, und sie überwindet die Scheu, ihn zu fragen: Auf welchem Weg er gekommen sei? Mamadou sieht sie an. Er erkennt die Ernsthaftigkeit dieser Frage, vergisst dabei vielleicht sogar das Geschäft und schließt die Augen.
Dann zählt er auf: Senegal – Mali – Niger – Libyen. Quer durch die Wüste, fasst er zusammen. Freunde seien dabei ums Leben gekommen, fügt er etwas leiser hinzu, als sei er sich nicht sicher, ob sie das überhaupt wissen wolle. Während er erzählt, sieht Mamadou ihr in die Augen, als vergewisserte er sich immer wieder aufs Neue ihrer Aufmerksamkeit. Monatelang habe er danach in Libyen ausgeharrt, schließlich auf dem Mittelmeer sein Leben riskiert, bevor er in Europa an Land gegangen sei. „In Europa“ sagt er, und sie fragt nicht nach Details.
Sein Blick wandert erneut zur Seite. Yes, in Libya, wiederholt er langsam. That you really don’t want to know! äußert er seine Zweifel an der Glaubwürdigkeit der unglaublichen Verhältnisse in Libyens „Durchgangslagern“.
LIBYEN: Wie ein Drahtbericht des Auswärtigen Amts mit dem Titel „Rückkehr aus der Hölle“ zeigt, sind die Verhältnisse in libyschen Flüchtlingslagern katastrophal. ... „Authentische Handyfotos und -videos“ belegten die „KZ-ähnlichen Verhältnisse“ in sogenannten Privatgefängnissen im Süden Libyens. ... „Exekutionen nicht zahlungsfähiger Migranten, Folter, Vergewaltigungen, Erpressungen sowie Aussetzungen in der Wüste sind dort an der Tagesordnung.“ ... „Augenzeugen sprachen von exakt 5 Erschießungen wöchentlich in einem Gefängnis – mit Ankündigung und jeweils freitags, um Raum für Neuankömmlinge zu schaffen.“
Mamadou hat Glück gehabt. Das Armband sitzt, der eher ideelle denn geschätzte Gegenwert landet in einer perlenbestickten Geldkatze, die an seinem Gürtel hängt. Damit ist das Geschäft besiegelt. Die Frau aus dem reichen Norden und der Flüchtling aus dem in Vergessenheit geratenen Kontinent verabschieden sich, eher herzlich denn unverbindlich. Der junge Afrikaner lächelt sie an und sagt zum Abschied: Hakuna Matata ... das ist Swahili und bedeutet „no problem, don’t worry!“... Danke, Mamadou, entgegnet sie, Hakuna Matata!
„See you in Africa!“ ruft er ihr lachend hinterher, als sie schon ein paar Schritte weitergegangen ist. „Nicht in diesem Leben!“, bedauert sie, und sie sagt dies mehr zu sich selbst.
UNHCR: 2018 ertranken im zentralen Mittelmeer zwischen Libyen und Europa im Schnitt jeden Tag sechs Menschen bei dem Versuch das Mittelmeer zu überqueren, das heißt, jeder fünfzehnte kam um beim Versuch, das Mittelmeer zu überqueren. Insgesamt starben 2018 mindestens 2.275 Menschen. Nicht einen Tropfen Wasser hätten ihnen die Schlepper für die Überfahrt nach Europa gegeben. Wer das Wort „Wasser“ in den Mund nahm oder die libyschen Schlepper ansah, sei geschlagen worden.
...
Die NGO Sea-Watch ist aus einer Initiative von Freiwilligen entstanden, die dem Sterben an Europas Grenzen nicht länger tatenlos zusehen konnten. So beschlossen sie, sich aktiv der Politik des Sterben Lassens entgegen zu stellen. Angesichts der humanitären Katastrophe leistet Sea-Watch Nothilfe, fordert und forciert gleichzeitig die Rettung durch die zuständigen europäischen Institutionen und setzt sich für legale Fluchtwege ein. Sea-Watch patrouilliert seit Juni 2015 im zentralen Mittelmeer nördlich der 24-Seemeilen-Zone vor der libyschen Küste und leistet Menschen in Not Ersthilfe. Zuerst mit Sea-Watch1, ab Frühjahr 2016 mit der Sea-Watch 2 und seit November 2017 mit der besser ausgestatteten Sea-Watch 3. Seit der Gründung war Sea-Watch an der Rettung von mehr als 37.000 Menschen beteiligt. SEA-WATCH AGIERT POLITISCH UND RELIGIÖS UNABHÄNGIG UND FINANZIERT SICH AUS SPENDEN.
Um dies Projekt fortführen zu können, ist jede Unterstützung willkommen.
Die pure Lust
- Geschrieben von: Günter Opitz-Ohlsen
Hier steh ich nun ich armer Tor und bin so klug als wie zuvor. Einigen Artgenossen befällt bei dem Namen „Lustgarten“ ein müdes Lächeln, weil sie es mit Triebgarten verwechseln. In Zeiten des abnehmenden Lichts ist die Lust eben reduziert – so wie das Leben auf die ureigenen Triebe, die wir als genetisches Material in uns tragen, reduziert ist. Und gegen die Gene zu rebellieren können eben nur Idioten.
Lustgarten, das Kleinod mitten in Berlin, in dem schon Bettine von Arnim den Kinderwagen schob, oh Lustgarten! Wie siehst du heute aus! Die Reichen haben dich dem Pöbel preisgegeben, dich demokratisiert, weil es auch in einer Demokratie unterschiedliche Menschen gibt. Und wie kann dieser Unterschied sich am besten materialisieren als durch den Geldbeutel? Ein einfaches System, nicht ohne Logik, aber vielleicht ohne Lust. Freude kommt nicht auf, und die Kamera verlässt den sicheren Standpunkt. Der Beobachter will mehr sehen. Die Gebäude sehen nicht aus wie Genossenschaftswohnungen, und tatsächlich wohnt in ihnen die Kunst, die Wissenschaft oder eben Gott, der gerade um neunzig Grad versetzt in der Rechtsdrehung des Kameramanns erscheint. Begleitet von einem Toben und Tösen, als würde ER gerade auferstehen aus seinem Tiefschlaf, in den wir IHN mit allerlei wirksamen Medikamenten versetzt haben.
Oben ist heute der Himmel blau. Schönes Wetter, werden manche sagen, aber es soll auch Zeitgenossen geben, für die das nicht zählt. Die Lust ist eben nicht direkt proportional zum Wetter, obwohl bei Sonnenschein der Rasen im Garten von Herumliegenden gepflegt wird. Ab und zu sieht man auch eine Musikantengruppe, die ihr Bestes zur Schau stellt (dies sollte ein akustischer Eindruck sein, kein optischer!) . Aber ein Hallo hört man eben auch dann, wenn man nicht damit rechnet. Speak English oder Deutsch? Da will ein Menschenkind mit dir Kontakt aufnehmen, aber du versteckst dich nur hinter deiner Kamera, hältst sie fest, als könntest du sie verlieren. Dann blickst du in schöne schwarze Augen, die dich mustern und als Idioten identifizieren. Sich dumm stellen hilft in so vielen Situationen, dass man schon einige Seminare darüber halten könnte.
Aus die Maus. Eine freie Fläche, wo einst das Prunkstück angeblich sozialistischer Macht stand. Aber diejenigen, die sich dazu zählten, waren dann doch ihrer Mach überdrüssig und hinterließen dem neuen Gesellschaftssystem die eine oder andere Pflanze, die prächtig unter den anderen, neuen Verhältnissen gedieh. Sie wurde so mächtig, dass sie als Zwangsvollstreckerin Europas auftritt und das Glück im Sparen sucht. Aber das Sparbuch ist eben nicht damit gemeint. Zurücklegen kann man später. Sparen bedeutet eben in Zeiten des abnehmenden Lichts - Sie werden es gemerkt haben, dass ich hier auf einen Roman von Eugen Ruge anspiele – kürzen, streichen und umverteilen. Aber wie kommt der nur immer aufs Hölzchen und aufs Stöckchen, wenn er eben doch nur eine Momentaufnahme beschreiben will? Vielleicht liegt es nur an der freien Fläche, die sich dem Betrachter von einer BOX aus auftut und die der Wissenschaft gewidmet ist. Das Stadtschloss soll in neuem Glanz erstehen. Für die Wissenschaft oder besser für die Dokumentation. Denn der Glanz wissenschaftlicher Erkenntnis war schon immer eine prächtige Bibliothek. Und so gibt es in einigen Staaten, die wir heute, aus deutscher Sicht, als Hungerleiderstaaten bezeichnen würden, doch den ein oder anderen Prachtbau, der nicht privatisiert wurde sondern von den besseren Zeit Zeugnis ablegt, die es auch hier gegeben haben soll.
Die Lust im Rücken und die Wissenschaft vor den Augen. Eine leere Wiese, die auch die wenigen Menschenkinder nicht interessanter machen. Gebaut wird irgendwann einmal und ich freue mich schon auf die Bauverzögerungen, weil etwa der Brandschutz nicht eingehalten wurde. Die Anlagen sind veraltet und müssen entsorgt werden, noch bevor das Gebäude bezogen werden kann. Früher war es Asbest, heute sind es die Brände, die keiner haben will. Aber Achtung, was macht der Schreiber schon wieder. Er schweift ab. Sie kennen doch das Buch aus dem Leben des Tristram Shandy. Nein, dann sollten Sie diese 700 Seiten lange Abschweifung einmal lesen. Was will der Autor uns damit sagen: Wenn alles determiniert ist, dann muss auch die eigene Geburt herleitbar sein, aus den stammesgeschichtlichen Gegebenheiten, die dazu geführt haben. Aber ich befürchte, dass ich ihnen dieses Buch nicht empfehlen kann, wenn es um den Bau des Berliner Stadtschlosses geht.
Was gibt es außer dem schönen Wetter heute noch zu dokumentieren! Eigentlich eine Demonstration, die sich gegen die Diktatur des Kapitals auf die Straße hat tragen lassen. Aber ein paar verstreute Demonstranten hier in unserem reichen Land, das die Spitze der EU erklommen hat, machen den Kohl auch nicht fett. Da fehlt der Glanz, der sich erst dann wieder zeigt, wenn die 360-Grad-Drehung beendet ist. Allerdings haben sich einflussreiche, die Republik steuernde Alphatierchen im Hintergrund gehalten. Bertelsmann, die mit Herrn S. das rechte Potential der Republik ausgelotet haben. Das war die Wahrheit, kein Populismus. Wenn man gegen den Reichtum ist, gilt man persönlich als neidisch, und wenn man Maßnahmen in der Öffentlichkeit vertritt, die den Reichtum gerechter verteilen sollen, gilt man als Populist. So einfach ist das hier im Lustgarten. Fehlt nur noch die Pommes-Bude und der Bierstand, fürs gemeine Volk. Aber solche Feste werden hier nicht gefeiert.
Do you speak Englishh – oder: das hier sind keine Genossenschaftswohnungen
© GOO, Mai 2012
R. Musil: Über die Dummheit; T. Wieczorek: Die verblödete Republik
- Geschrieben von: Günter Opitz-Ohlsen
„Die fast unlösbare Aufgabe besteht darin, weder von der Macht der anderen, noch von der eigenen Ohnmacht sich dumm machen zu lassen.“ (Theodor W. Adorno). Dieses Zitat soll der Wegweiser für den Leser sein, der sich auf Robert Musils1 Vortrag „Über die Dummheit“ einlässt. Musil hielt diesen Vortrag am 11.3. und 17.3.1937 in Wien auf eine Einladung des österreichischen Werkbundes. Dass der Eindruck erweckt wird, bestimmte Vorkommnisse ließen sich nur durch die Verblödung oder die Dummheit eines ganzen Volkes erklären, hat also eine lange Tradition und ist nicht erst durch das im März 2009 erschienene Buch von Thomas Wieczorek2 über „Die verblödete Republik“ mit dem Untertitel „Wie uns Medien, Wirtschaft und Politik für dumm verkaufen“ als ein Resultat eines gezielten Prozesses zu verstehen, sondern geht, im historischen Maßstab betrachtet, wesentlich tiefer. Allerdings setzt es voraus, dass der Prozess an einem Punkt begonnen hat, von dem aus betrachtet noch nicht von der Verdummung der Massen gesprochen werden konnte, sondern eher von der Befindlichkeit eines Volkes, die alle Möglichkeiten offen lässt.
Es ist schwierig für den Menschen, zwischen seinem Denken und seinem Handeln zu unterscheiden. Das größte Hindernis in dieser Hinsicht ist der viel beschworene Alltag, in dem beides so eng miteinander verknüpft ist, dass das jeweilige Subjekt nicht mehr zwischen beiden Sphären zu differenzieren vermag. So äußert sich die „unkünstlerische Verfassung“ eines Volkes in guten wie in schlechten Zeiten auf sehr rüde Art und Weise. Dies wiederum wird durch die Expertenmeinung verstärkt, die, dem Mainstream folgend, alles andere als Anmaßung und unnötige Belästigung auslegt. Wieczorek und Musil haben einen unterschiedlichen Bodensatz in der Geschichte vorgefunden, doch eint sie in ihrer Beurteilung die Erfahrung, dass nicht alles auf die Dummheit abzuwälzen sei. Der Raum für Charakterlosigkeit der unterschiedlichsten Arten muss ebenfalls noch Platz haben, um einen Prozess zu erklären, der für den Erklärenden eine Gratwanderung darstellt, ist er doch mit dem Prozess des Fortschritts, der Verbesserung oder der Hoffnung zum Verwechseln ähnlich.
Doch welche Indikatoren findet man bei der Erörterung einer so schwierigen Frage vor, was eigentlich die Dummheit ausmacht, und wie zuverlässig sind diese Indikatoren? Ist es etwa der Künstler, der sich sogleich unüberwindlichen Schwierigkeiten gegenüber sieht, wenn er nur die Augen aufmacht, weil sein kritisches Urteil in ein kaufmännisches umgewandelt wird? Dies würde sehr gut in unsere heutige Zeit passen, weil es die Perfidie derjenigen hinreichend erklärt, die sich heute als Politiker oder Ökonomen betrachten. Es hätte auch zu Musils Zeiten seine Berechtigung gehabt, liest man die Protokolle der Auschwitz-Lagerkommandantur, in denen mit obszöner deutscher Gründlichkeit über jedes noch so grausame Detail Buch geführt wurde.
Auf einen Unterschied wird man in beiden Büchern allerdings unmittelbar stoßen: Ging es Musil einst um die Frage, wie aus einer Nation der Dichter und Denker durch den gesellschaftlichen Verwurstungsprozess ein Land der Richter und Henker werden konnte, so wird man diese Nuance bei Wieczorek vermissen. Hier stellt sich nur die Frage, wie ein Volk durch gezielte Desinformation vor den Karren einiger gespannt werden soll, die ihm das Heil versprechen und dabei selbst schon so tief im Dreck stecken, dass es ihnen sichtbare Schwierigkeiten bereitet, zu rechtfertigen, wofür sie das Volk gebrauchen:nämlich für ihren persönlichen Vorteil.
© goo, Juni 2009
1 Musil Robert, Über die Dummheit. Ausg. Alexander Verlag Berlin 2001, 5. Auflage
2 Wieczorek, Thomas, Die verblödete Republik, Knaur Taschenbuch Verlag 2009