Die Umkleidekabinen such ich.

Ach, könnten Sie mir sagen, wo die Umkleidekabinen sind?

Sie ist noch völlig außer Atem vom Fahrrad fahren, presst die Frage japsend nur hervor.

Können Sie mir bitte sagen, wie ich da hinkomm‘? fragt sie den Ersten, den sie trifft im Stadion. Es ist heiß, die Luft flimmert vor ihren Augen.

Für Mädchen? fragt der zurück.

Dämlich, die Frage, schießt es ihr durch den Kopf, und sie kann sich gerade noch bremsen, dies auszusprechen: Für Mädchen!

Sollte man doch inzwischen sehn können, dass ich ein Mädchen bin!

Und, nachdem sie in seine Richtung genickt hat, um nicht unhöflich zu erscheinen, streift sie – wie zur Bestätigung ihrer gerade aufkeimenden Weiblichkeit mit einem flüchtigen Blick ihr Trikot.

Heiß ist‘s, verdammt heiß.

Das dünne Hemd klebt schweißnass an ihrem Körper.

 

Komm, Mädchen, fordert er sie auf und reißt sie zugleich aus ihren Überlegungen, da wollt ich auch grad hingehn, in die Richtung. Könn’ wir auch gemeinsam machen, fügt er hinzu. Sie findet, dass er doch sehr freundlich zu ihr ist. Sehr sympathisch! würde Mama nun wohl sagen, ein sehr korrekter junger Mensch, mein Kind!

Okay, ja, danke, nett von Ihnen, hört sie sich antworten und kann gerade noch einen Knicks verhindern. Dabei sieht sie ihn sich etwas genauer an und meint dann, ihn zu erkennen: Ist‘s nicht der von der Nationalstaffel? Trainieren die nicht hier im Stadion? Ja, das könnte er sein.

Flüchtig stellt sie fest, dass er einen Trainingsanzug trägt, trotz der Hitze. Und Sprinterschuhe. Die mit den blauen Streifen. Ja, wirklich: das muss er sein. Fast kein Irrtum möglich. Das kann einfach nur er sein!

Ganz gewiss!

Während sie zögernd erst, dann unbefangen leicht neben ihm her hüpft, tastet sie sachte von außen ihren Turnbeutel ab. Hab ich 'nen Stift dabei? Kann ich ihn wohl um ein Autogramm bitten? Wenn er's bloß ist!

Immer leichteren Fußes schwebt sie nun neben ihm einen schmalen Pfad entlang, der parallel zur Aschenbahn verläuft, während er eher lässig an ihrer Seite einher schlendert. Noch traut sie sich nicht, ihn ein weiteres Mal anzusprechen.

Wenn er’s ist, wenn er’s wirklich sein sollte! Und sie ist sich dessen nun so gut wie sicher – wird er dann überhaupt mit einem dreizehnjährigen Mädchen sprechen wollen?

Schließlich, als sie bemerkt, dass der eingeschlagene Weg kein Ende zu nehmen scheint, nimmt sie allen Mut zusammen, ihn, wenn auch recht zaghaft, zu fragen, wie weit es denn noch sei? Ihre Armbanduhr zeigt gerade drei, und um drei wollten sie eigentlich anfangen mit dem Spiel. Die anderen warten bereits, weiß sie. Sie fangen ohne mich an, fürchtet sie.

 

Er scheint sie nicht verstanden zu haben und beugt sich ein wenig zu ihr herab. Also wiederholt sie – nun mit deutlich festerer Stimme: Wir fangen um drei an! Und sie spürt, dass er einen Arm um ihre Schultern legt. Hört, wie er mit ein wenig abwesender, leiser Stimme wiederholt:

Um drei fangt ihr also an?

Sie versteht nicht, warum, aber allmählich beginnt sie, sich unwohl zu fühlen in dieser vielleicht ja väterlich gemeinten Umarmung. Traut sich jedoch nicht, sich loszumachen. Schließlich ist er ja sehr freundlich zu ihr und zeigt ihr den Weg.

Wenn die anderen mich nun sähen. Wenn die anderen mich nur sehen könnten, versucht sie, ein gewisses Unbehagen zu beschwichtigen. Wenn sie mich nur sehen könnten mit einem aus der Nationalstaffel! Ihr Gesicht wird ganz heiß, und ihr Magen beginnt zu hüpfen. Und sie weiß doch nicht, warum.

Nun hört sie seine ferne Stimme sagen: Gleich sind wir da, Kleines! Und das Hüpfen im Magen wird zum Rasen.

Die vage Angst, ja, das könnte's gewesen sein. Sie weicht für einen winzigen Augenblick einer leisen Empörung. Ein Kleines ist sie nun doch wirklich nicht mehr!

Sie schubst seine bleierne Hand von der Schulter.

 

Wie weit ist’s denn noch? traut sie sich ein weiteres Mal

zu fragen – und im selben Moment weiß sie gar nicht ob sie's wirklich ausgesprochen hat,

denn blitzschnell

geschieht

etwas Unfassbares.

Seine harte Hand liegt für einen Sekundenbruchteil glühend heiß auf ihrem schwitzenden, nackten Bauch

schiebt sich

im Handumdrehn

unter das Trikot

zerpresst

im nächsten Augenblick

ihre schmerzende kleine Brust

und

 

Sie hört gellende Schreie und weiß nicht, wer da schreit

hört Schreienschreienschreien

und kann doch

nichts hören

weil sie ja taub ist.

Spürt, dass ihre Arme um sich schlagen

und weiß doch ganz sicher, dass sie gelähmt ist.

Tausend grelle Sonnen explodieren in reißendem Schmerz.

Gleich wird sie sterben.

Nachhallende Schreie zerfetzen noch immer die sommerflimmernde Luft und

niemand ist da, der sie hört.

 

Dann: langsam, ganz langsam öffnen sich ihre Augen, kehren allmählich wieder zurück in ihren Besitz.

Zutiefst verwundert stellt sie fest, dass sie noch lebt. Sich

rühren kann, obwohl sie ja gelähmt sein müsste.

Und: noch immer ist da einer neben ihr. Sagt, ganz so, als sei nichts Weltveränderndes geschehen und ohne sie dabei anzusehn:

Da drüben! Und er zeigt auf eine flache Holzbaracke, die fast verborgen liegt hinter einer Pappelreihe. Dorthin musst du jetzt gehen! Und er wendet sich abrupt ab.

 

Erst jetzt

rennt

und rennt

und rennt

sie

als gälte es,

für immer

zu entkommen.

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