Das Guckloch in dieser Eingangstür zur Wohnung ist in etwa einem Meter fünfzig Höhe einmontiert, exakt in der Mitte der mahagonifarbenen Holzfüllung. Es hat einen Radius von schätzungsweise eineinhalb Zentimetern. Die kleine Glaslinse entspricht ungefähr dem Gesichtswinkel eines menschlichen Augapfels. Mit Mühe erkenne ich auf der Gegenseite einen hochtoupierten, platinblonden Haarturm, der einem noch nicht erkennbaren Gegenüber zuzuordnen ist, das ungefähr meine Größe haben muss. Und die genügt bei weitem nicht, um diesen so genannten Spion sinnvoll nutzen zu können. Ich warte ein weiteres melodisches Dingeldidong ab, dann erst öffne ich zögernd die Tür. Zunächst bemühe ich mich, den Eindruck zu verbergen, ich hätte zuvor bereits einige Sekunden lang meinen potentiellen Besucher abzuschätzen versucht nach Art neugieriger und schließlich sich allwissend wähnender Nachbarinnen. Vor mir steht eine mollige kleine Frau, recht auffällig geschminkt. Sie trägt eine Spur zu enge maisgelbe Jeans und eine locker über die vermutlich fülligen Hüften fallende lindgrüne Seidenbluse mit Rüschenmanschetten. Dem gegebenen Anlass kaum angemessen, trägt sie dazu hochhackige goldfarbene Pumps, als deren Pendant ein strassgeschmückter Schmetterling aus Goldimitat die aufwendig getürmte Hochfrisur in Form zu halten sucht. Noch bevor ich ein Wort hervorbringe, stellt die Frau sich gleich vor als die Firma Die Gartenlaube, An- und Verkauf von gut erhaltenen Gebrauchtmöbeln. Sie sei gerade in der Nähe, habe sich gedacht, da könne sie vielleicht gleich jetzt mal... mir sei es doch recht? Dass ich mich überrumpelt fühle, versuche ich zu verbergen, so gut es geht. Ich bitte sie ins Wohnzimmer, biete ihr einen Platz an auf dem kleinen Chippendale-Sofa, um dessen Preis ich gleich mit ihr zu feilschen haben werde. Leider könne ich ihr keinen Kaffee anbieten, sage ich. Füge dann hinzu – es soll wie eine Entschuldigung klingen, und doch bin ich mir nicht sicher, ob der Tonfall gelingt – ich hätte noch nicht die Gelegenheit gehabt, einzukaufen. Es scheint der Frau nichts auszumachen. Ihr Blick mustert längst interessiert die Restbestände der Hausbar. Dennoch bin ich überrascht, als sie fröhlich verkündet: Ein Gläschen Sherry tut's ja schließlich auch! Während sie an ihrem Sherry nippt, das Glas dann auf einem jener zierlichen Spitzendeckchen absetzt, die Mutter zum Schutz der stets blank polierten Tischplatte nutzte, überschüttet sie mich mit einem Wortschwall. Fasziniert beobachte ich, wie sie den bernsteinfarbenen Cognacschwenker, den Mutter schon seit jeher als Väschen für kleinere Blumensträuße nutzte, in immer geringer werdenden Abständen zum Mund führt.
Recht bald wird mir klar, dass es um das Vorgeplänkel zu ernsthafteren Geschäftsverhandlungen geht, und ich lasse mich auf das Spiel ein. Unvermutet springt die Frau auf, streicht hastig ihre Seidenbluse glatt, ohne verhindern zu können, dass einige unschöne Knitterfalten in Höhe ihres Hinterteils zurückbleiben. Dies gibt ihr ein einigermaßen menschliches Aussehen – und sei es auch von hinten. Schon schwebt sie mir voran in einer Wolke aus süßlich-penetrantem Parfum (die Wolke wird noch im Raum hängen, als die Frau schon längst gegangen ist), nimmt mit ihren Duftmarkierungen nach Art der Schoßhündchen das gesamte Terrain in Besitz. Redet fröhlich weiter, ohne sich zu vergewissern, ob ich auch in ihrer Nähe bin und zuhöre. Im Schlafzimmer hole ich sie ein. Nehme erstaunt zur Kenntnis, dass sie bereits unaufgefordert die beiden Flügel des Kleiderschrankes weit geöffnet hat und mit ihren beklunkerten, rosig-derben Fingern inmitten noch vorhandener weicher Stoffe und bereits leerer, klappernder Kleiderbügel herumhantiert. Plappert inmitten dieser Emsigkeit munter und ungehindert weiter. Ab und zu antworte ich ihr, knapp und reserviert.
Ach so, sagt sie einmal, und sie hält nur kurz inne. Blickt mir dann schamlos und fast ein wenig betroffen direkt in die Augen. Ach so, Krebs! Als handle es sich um Masern oder um Windpocken, schlimmstenfalls um eine Lungenentzündung. Ihre erstaunlich flinken Finger durchfächern unterdessen die sorgfältig gefalteten Unterhemden und Schlüpfer der Verstorbenen, zerren dann einen cremefarbenen Büstenhalter aus einem der Stapel hervor. Im nächsten Moment hält sie ihn sich bereits ungeniert an ihren fülligen Busen, mustert sich im noch immer unverhangenen Spiegel. Dabei wippt sie mit den Hüften und begutachtet sich kokettierend von der Seite her. Dann bringt sie leicht, so leicht über die Lippen: Ach, wissen Sie, sagt sie – sie lässt den Büstenhalter nun locker von der rechten Hand baumeln und nutzt hierbei den kleinen Finger spielerisch als Haken für den Träger (in dieser Pose gleicht er fatal der Kralle eines hässlichen, aufgeplusterten Raubvogels) – ach, wissen Sie, das tragen wir doch alle in uns. In jedem von uns wuchert er doch schon, der Krebs, wir haben nur keine Ahnung davon, glauben Sie mir das!
Unversehens hat sie inzwischen, ohne mein Einverständnis zuvor einzuholen, weitere Kleidungsstücke vor sich aufgetürmt: zwei Blusen, ein Kleid, einen Badeanzug, ein paar Röcke, dazu noch einen Bademantel. Dann entschließt sie sich, mir ihre Entscheidung mitzuteilen. Meint, dies könne sie auch gut gebrauchen, ja, sogar sie persönlich. Glücklicherweise sei das alles genau ihre Konfektionsgröße! Gleich heute Abend wolle sie – ihr Gesicht bekommt einen leicht schwärmenden Ausdruck – eine kleine Modenschau machen zu Hause. Hundert Mark wolle sie bereits hier lassen als Anzahlung, das sei mir doch recht? Alles ist mir recht im Moment, sie soll nur endlich diese Wohnung verlassen und auch mein Leben, ich kann diese Frau nicht mehr ertragen. Nie zuvor ist mir der Begriff Leichenfledderei so deutlich geworden, wenngleich es sich im Grunde um einen nüchternen Geschäftsvorgang handelt. Einen Moment lang schien es mir sogar, als habe ich Mutter in ihrem Ohrensessel sitzen sehen, als habe sie uns beobachtet, fassungslos, aber auch unendlich traurig. Was wird hier nur gespielt, was macht ihr nur mit all meinen schönen Sachen? Dann ist sie auch schon wieder verschwunden. Der Sessel bleibt leer.
Habe ich die Frau zur Wohnung hinausgeschmissen? Habe ich sie etwa wüst beschimpft, zum Teufel gejagt? Nichts von alledem. Nachdem sie die Möbel taxiert hat – auch der Ohrensessel wird nun zum Verhandlungsgegenstand – setzen wir gemeinsam einen Vorvertrag auf. Ich möchte sichergehen, die Wohnung muss leer sein innerhalb einer Woche. Am nächsten Tag bereits, so sagt sie zu, am nächsten Tag würden dann „die Jungs“ kommen, um die Möbel abzuholen. Noch immer ist sie fröhlich, wohlgelaunt und wirkt so aufgedreht, als habe der Sherry die Wirkung anderer Muntermacher um einiges potenziert. Dann ist sie fort. Ich drehe den Schlüssel zweimal im Schloss hinter ihr.
Mühsam nur kann ich die Augen einen Spalt weit öffnen. Ich blinzle zwischen den Fingern hindurch, sehe die mollige Aufkäuferin, nunmehr nackt, mich in stets größer werdenden Zirkeln umtanzen. Ihre gewaltigen Brüste wippen auf und ab, die Bauchfalten schwappen in Sekundenbruchteilen hinterher. Ihr lückenhaftes, fauliges Gebiss erbricht eine bläulich geschwollene Zunge, ein entsetzlich schrilles, schepperndes Lachen erfüllt den Raum. Ihr Mageninhalt entleert sich in weitem Schwall, Abertausende quirlig sich dehnender, sich streckender und dann wieder zusammenkringelnder Krebslarven in unterschiedlichen Entwicklungsstadien ergießen sich über mich. Wir alle tragen das in uns, singt sie gurgelnd, und ihr breites Grinsen wird zur Grimasse. Wir alle – wir haben nur keine Ahnung davon.