Die Siedensteins sind tot. Der Briefträger hat sie gefunden. Gehangen sind sie im Schuppen gleich hinterm Haus. Und die Fliegen zuhauf. Blankes Schaudern. Das war vor drei Tagen gewesen. Und, obwohl sie ja gar nicht dabei gewesen waren, halten die Leute sich die Nasen zu, wenn sie darüber reden. Oder sie halten sich die Hand vor die Augen. Keiner da, der sich die Haare rauft.

 

Zunächst hat’s niemand bemerkt.

Der Hund hat gebellt. Und weil der dem Bauern gehört hat, hat da erst niemand drauf geachtet. Die Leine war kurz genug, dass der Briefträger sich dem Häuschen der Siedensteins ohne Bedenken hatte nähern können.

Der Hund hat gebellt, und niemand hat die Tür geöffnet. Eine Klingel hat es nicht gegeben. Die wenigen Kunden, die von Zeit zu Zeit das Türchen aufstießen, brauchten nur mit der Hand durchs Küchenfenster zu greifen und die Innenklinke runterzudrücken. Und hätte es eine Klingel gegeben, so hätte die sowieso niemand gehört. Früher einmal hat es eine gegeben, aber die hat nie einer reparieren wollen, denn wer konnte schon wissen, ob die im Haus überhaupt Geld hatten zum Bezahlen?

 

Erst als die Polizei gekommen ist, sind die Dorfleute zusammengelaufen. Dazu brauchte keiner ein Telefon. Dann der Leichenwagen. Zwei Bahren und dann diese zwei grobschlächtigen Burschen, die Söhne des Metzgers, die das im Nebenerwerb ausübten. Man munkelt, sie täten es nicht so sehr des Geldes, sondern eher des Schnäpschens wegen, das üblicherweise anfiel bei ähnlichen Gelegenheiten. In anständigen Häusern, deren Besitzer noch wussten, was sich schickte. Aber hier gab es weder Hinterbliebene noch gute Nachbarn, die das hätten regeln können.

So haben die Männer ihre Arbeit hastig verrichtet und auch ein wenig schlampig. Eins, zwei, hopp! Und über jedes der beiden Bretter eine Decke aus grauem Filz geworfen.

 

Kinder haben die Siedensteins keine gehabt. Dafür hat der Adolf schon gesorgt. Glück haben sie gehabt, dass sie da überhaupt noch rausgekommen sind, aus der Anstalt.

Bald darauf schon haben sie das baufällige Häuschen bezogen im Oberdorf. Und nicht lange hat es gedauert, bis es sich herumgesprochen hat, dass die beiden brauchbare Handwerker waren. Der Mann Schumacher und die Frau Näherin. Zu ihm brachte man die Sandalen, wenn eine Sohle sich gelöst hatte oder vom Gürtel die Schnalle. Sie ließ für wenig Geld den Saum der Kleider und Röcke heraus, wenn die Kinder der Dörfler wieder mal ein Stückchen gewachsen waren. Doch das geschah selten genug, denn nicht jeder traute sich in das Häuschen. Beide nahmen nicht viel dafür. Und brachte ein Kind die Ware oder holte sie ab, so verließ es das Haus nicht selten ohne ein paar bunte Stoffreste oder einen Apfel aus dem Obst- und Gemüsegärtchen, das gleich hinter dem Haus liebevoll angelegt und gepflegt worden war. Ein kurzes Streicheln übers Kinderköpfchen oder die blasse Wange. Und dann ein allzu schnelles Abwenden.

 

Es hat nur ein paar Wochen gedauert, bis das Gespräch über die ©Sache mit den Taubstummen verebbt ist. Ein paar Leute haben wohl bedauert, dass nun keiner mehr war, der die Schuhe so gut und preiswert repariert hat oder die änderungsbedürftige Kleidung. Aber mit der Zeit geriet auch dies in Vergessenheit. Spätestens dann, als der Aussiedlerhof auf der Höhe abgebrannt ist, hat kein Mensch mehr darüber gesprochen.

Lange hat das Häuschen leer gestanden. Dann hat der Bauer seinen Kuhstall erweitern müssen, und das Taubstummenhaus ist der Spitzhacke zum Opfer gefallen. Auf dem Gartengrundstück aber hat der Bauer bald einen schmucken Neubau errichten lassen. Da ist dann sein Sohn eingezogen. Und es hat nicht lange gedauert, da hat der sich eine Frau genommen und mit ihr gesunde Kinder gezeugt.

 

Und so hat alles wieder seine Ordnung bekommen im Dorf.

 

 

 

 

 

……

©bio

 

Veröffentlicht in: Das Taubstummenhaus. Schweinfurt 2004

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