Also, also, ... emm, emm ...

Glaubenskriege im alten Europa, ja, es hat sie gegeben. 1598 zum Beispiel konnten die blutigen Auseinandersetzungen zwischen Katholiken und Protestanten calvinistischer Prägung, die sich später Hugenotten nannten, durch Heinrich IV. beendet werden. Glaubensfreiheit und das Recht auf Religionsausübung wurden zugesichert und Berufsverbote abgebaut. So konnten die Hugenotten auch im Staatsdienst tätig werden.

Gut hundert Jahre später hatte die Situation sich geändert. Als die Hugenotten gezwungen wurden, ihr Land wegen ihres Glaubens zu verlassen, hatte kurz zuvor auf deutschem Boden der Dreißigjährige Krieg gewütet, der andere Verhältnisse zurückließ: Zufluchtsgebiete für die Hugenotten. Und in Berlin waren sie sogar willkommen.

Noch heute ist man stolz auf die sozialen Einrichtungen, die zu jener Zeit in der Friedrichstadt etabliert wurden: Französisches Hospital mit dem Kinderhospital, die Suppenküchen und die Armenbäckerei, das französische Waisenhaus, die Schule der Barmherzigkeit, in der Französisch, Deutsch, Religion, Rechnen und Zeichnen unterrichtet wurde. Sichtbares Zeichen der Integration damals die neudeutschen Wörter: Kinkerlitzchen (quincaille) oder Muckefuck (mocca faux). Auch die Religion wurde in Stein verewigt: Der Französische Dom auf dem Gendarmenmarkt. Kein Mensch würde hier von Überfremdung reden, oder von Parallelgesellschaften. Vielleicht wusste man damals schon, dass sich Parallelen eben nur in einer Ebene nicht schneiden.

Vom Hugenotten Leonhard Euler ist dies nicht bekannt, obwohl er der Mathematik zahlreiche wichtige Einsichten – auch geometrischer Natur – hinzugefügt hat. Machen Sie doch selbst einmal das Experiment: Schneiden sie aus Papier ein Band aus. Malen sie zwei Parallelgesellschaften in Form zweier Parallelen unterschiedlicher Farbe mit gleichen Abstand zu den Rändern des Bandes auf die Vorder- und Rückseite. Verkleben sie danach das eine Ende mit dem anderen Ende, das sie einmal verdrehen. Es entsteht das Möbiusband. Sie sehen, wie eine Parallelgesellschaft die andere trifft und sich wieder zu einer Gesellschaft vereint.

Eine Ebene hingegen ist flach oder, wie man im Norddeutschen gern sagt, platt. So platt eben wie die Argumente eines Herrn S., der mit der Angst der Menschen spielt, weil er sie vielleicht selbst in sich trägt?

Wenn Menschen in andere Länder migrieren, dann tragen sie nicht nur ihr Gepäck mit sich. Niemand wusste das besser als Heinrich Heine. Er war vor allem in Preußen wegen seiner politischen Ansichten nicht willkommen und der Zensur in Deutschland überdrüssig. So floh Heine aus dem Land der Dichter und Denker, das 100 Jahre später in das Land der Richter und Henker mutierte, nach Paris. Eines der schönsten Werke der deutschen Literatur konnte so entstehen: Die Sicht auf Deutschland aus Sicht eines emigrierten Deutschen: Deutschland, ein Wintermärchen. Dort liest man dann unter anderem dies: “ … Hier werdet Ihr nichts entdecken! / Die Contrebande, die mit mir reist, / Die habe ich im Kopfe stecken. // Hier hab ich Spitzen, die feiner sind / Als die von Brüssel und Mecheln, / Und pack ich einst meine Spitzen aus, / Sie werden Euch sticheln und hecheln.“

Welche Ängste vorhanden sind, wenn jemand eine junge Muslima mit Kopftuch sieht oder einem Jungen mit dem Vornamen Cihad begegnet, weiß ich nicht. Das Bild eines Selbstmordattentäters etwa, weil er mit seinem Namen für den Heiligen Krieg stehen könnte? Oder tritt man ihm so entgegen, wie der Name ursprünglich gemeint ist: einer, der aus eigener Kraft etwas schafft, ohne dem Bösen zu verfallen?

Der Kreuzzug, den Herr Sarrazin und ähnlich Denkende heute führen, ist von einer Sündenbockmentalität geprägt und spricht den Generalverdacht offen aus: Muslime in Deutschland seien nicht integrationswillig. Darüber hinaus besäßen sie, so S. weiter, eine genetisch bedingte Identität, die den Standardanforderungen an eine Integration in die Deutsche Gesellschaft nicht entspricht. Auf diese Weise entsteht aus Integrationsunwilligkeit schnell eine Integrationsunfähigkeit. Das Ganze wird vorgeblich wissenschaftlich in einem Buch belegt, das zur richtigen Zeit erscheint und eine hohe Auflage verspricht. Der krisengeschüttelte Kapitalismus hinterlässt seine Spuren in der zutiefst verunsicherten Bevölkerung. Laut Umfragen beträgt der Bevölkerungsanteil 83%, der Zukunftsängste äußert, und darunter gibt es immerhin 45%, die Angst vor einem sozialen Abstieg haben. Kein Wunder, dass die absurden Thesen eines Thilo Sarrazin auf fruchtbaren Boden fallen.

Durch die Industrialisierung war das Bevölkerungswachstum Europas wesentlich größer als das Wachstum der Weltbevölkerung. Dieser Trend kehrte sich im 20. Jahrhundert um. Jeder kann sich selbst ausdenken, was der Grund für die Umkehr war, schließlich hat ein verrückter, machtbesessener Mensch Europa in einen verheerenden Krieg geführt. Seit dem 21. Jahrhundert ist Europa der einzige Kontinent, dessen Einwohnerzahl trotz hoher Einwanderung schrumpft. Kann man daraus schließen, dass die Industrialisierung in Europa der Grund für beides ist?

Jeder Wissenschaftler würde hier von einer These sprechen, die er versucht zu widerlegen oder aber zu bestätigen. Manchmal ist sogar beides nicht möglich. Dazu müsste man statistisch gesehen die Korrelation zweier Größen voneinander berechnen. Man würde dann bei einem entsprechenden Korrelationskoeffizienten einen Zusammenhang zwischen mindestens zwei statistisch messbaren Größen behaupten. Dies heißt aber noch lange nicht, dass die eine Größe die andere kausal festlegt. Schon Sokrates soll in aller Bescheidenheit den Satz geäußert haben, dass er weiß, dass er nichts weiß. Hat er damit vielleicht vor ca. 2000 Jahren die Erkenntnis der Quantenmechanik vorweggenommen?

Wenn wir schon so wenig wissen, warum können wir dann apodiktische Urteile bilden? Herr Johann Peter Süßmilch, Probst der Lutherisch-Brandenburgischen Kirche, glaubte im Jahr 1741 die „Göttliche Zahl“ entdeckt zu haben. Doch diese Entdeckung war nicht sein Verdienst, den er der Nachfolgegenerationen hinterließ. Süßmilch begründete die Statistik als Wissenschaft in Deutschland und prägte zentrale Begriffe der heutigen Demographie.

Süßmilch fand in dem Verhältnis zwischen Männern und Frauen die „Göttliche Zahl“. Ihm ging es um Gott und um die Begründung Gottes durch die Wissenschaft. Kurz gesagt, er wollte eigentlich einen Gottesbeweis führen. Für ihn waren die Veränderungen in der Gesellschaft und die sich ihm offenbarende Ordnung nichts anderes als der Wille und das Gesetz Gottes: Der Glaube an das, was wir gefunden haben, ist genau diejenige Komponente, die uns zu apodiktischen Urteilen veranlasst. So wie es eben bei Süßmilch der Fall war.

Herr S. spricht von seiner Wahrheit, wie über die Wahrheit an sich. Schließlich „kann er sie wissenschaftlich begründen“. Auf welch tönernen Füßen seine Begründung allerdings steht, will er nicht wahrhaben. Dafür ist er nicht der Mensch. Ihm käme es niemals in den Sinn, an dem zu zweifeln, was er glaubt. Damit geht ihm aber das Maß aller Dinge verloren. Und dieses Maß ist nicht der einzelne Mensch und ganz bestimmt nicht er selbst, auch wenn er die Ängste sehr vieler Deutscher artikuliert. Nicht ohne Grund hat Platon sich immer wieder gegen die Redekünstler, die Sophisten gewandt. Denn sie verdecken genau das Problem: Wie wenig der Mensch im Grunde wissen kann, wie viel er aber aus diesem Grund bei anderen Menschen beeinflussen kann.

© GOO, August 2010

 

 

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