ES denkt in M.

 

  M. hatte eine Engelsgeduld, aber er konnte auch anders. Die Gravitationskraft, die die Menschen draußen zur Masse werden lässt, war hier, wo er sich am liebsten aufzuhalten pflegte, fast nicht vorhanden. So reagierte M. auf die Entspannung mit Krämpfen und fühlte sich elend. Es war seine Hypersensibilität, die ihn dazu trieb, das Hohe Haus zu verlassen, die Schuld dem schmarotzendem Weibsstück zu geben, das sich seine Mutter nannte. Im Grunde war er froh darüber, endlich wieder im Rampenlicht der Öffentlichkeit zu stehen, konnte er doch allüberall bemerken, dass er eine überaus wichtige Person war. Er verhielt sich wie ein zufriedenes Kind, dem es endlich gelungen war, die mütterliche Achtsamkeit auf sich zu ziehen, auch wenn sich diese nur in einer ungehaltenen Bemerkung äußerte.

Sein Leben war ein Kampf gewesen. Ein permanenter Kampf um sein Recht. Warum sollte dies nun, nach seiner Beförderung, anders sein. Wurde zuvor noch die bürgerliche Einheit beschworen und ein Ruck, expressiv verbis: eine geistig-politische Wende, sollte endlich durchs Land gehen, so war M. heute in der angenehmen Lage, all das, was man ihm sein Leben lang vorenthalten hatte, mit einem Griff zu nehmen: sein Recht war sein Jus! Den Schneid kaufte ihm keiner ab.

Irgendwann musste schließlich die Wahrheit gesagt werden. Also holte M. die verbalen Handgranaten aus der Tasche und warf sie ins Volk. Heimlich beneidete er dabei all diejenigen, die schon früh gelernt hatten, leichter zu reden. Seine Worte klebten ihm am Gaumen fest, und das gerade jetzt, wo er sie doch so dringend brauchte und nicht bis zum Sankt-Nimmerleins-Tag auf sie warten konnte. In Momenten wie diesem hatte M. Angst, und es war ihm so, als wären die Häuser kopfüber in den Boden gerammt und keiner wollte mit ihm „fabelhaft“ Tee trinken. Doch im selben Augenblick schon spürte er diesen kalten Hauch auf seinen Lippen, seine Gesichtsmuskeln entspannten sich – und die Angst war vorbei. Die Worte kamen nun wie von selbst. Sie drückten das Empfinden der Mehrheit aus, so wie das Empfinden der Mehrheit, personifiziert in der Gestalt des M., mit harschen Worten und in klarem Duktus in den Äther gesendet wurde.

Tatsächlich verstanden ihn nur wenige. Die überwiegende Anzahl der Zuhörer an den Radios, die Zuschauer vor den Fernsehapparaten hatten von den tatsächlichen Usancen keine Ahnung – geschweige denn von altrömischen Zuständen und deren Bezug auf ihr gelebtes Hier und Jetzt.

Dann aber hörte M. die Stimmen. Sie redeten auf ihn ein, beschimpften und kritisierten ihn in abgehackten Worten. Sie dröhnten aus den Mäulern höllischer Tiere mit Menschenköpfen, und manchmal sprachen sie seine ureigensten Gedanken aus, noch bevor er selbst sie denken konnte. Schlimmer noch: Sie behaupteten boshaft das Gegenteil seiner ans Volk gerichteten Botschaften, verstiegen sich gar zu kühnen Behauptungen, die in der Aussage, Hartz IV sei in Gesetzen gegossene Missachtung der Menschenwürde, gipfelten. ES kam nun von überall her. Aus den Wänden, dem Boden, auf dem er stand und selbst aus der Decke über seinem Haupt. Dann wieder hatte er den Eindruck, als würde er ES in sich tragen. Das Wichtige aber bei all dem war, dass ES bedeutungslos war, eine Einbildung, Halluzination vielleicht. Dann war ihm wieder so, als hätte er den Schüssel verloren. Er suchte und suchte alle Ecken seiner Zelle ab, die langsam wieder taghell und grau wurde, nachdem sie noch wenige Tage zuvor wie das blühende Paradies ausgesehen hatte. Doch den Schlüssel konnte er nicht finden. So blieb ihm nur noch die Erinnerung an die Orte seines Erfolgs.

In seinen großen Zeiten dachte ES in ihm. Er achtete nicht auf die Stimmen. Das Denken war ihm zu eigen und gleichzeitig fremd. ES verband die Worte, ließ Neues entstehen oder ein und dasselbe in immer neuen Variationen erblühn. So wie man das Eichhörnchen auch Eichkatzl oder Eichfuchs in manchen Gegenden nennt, so erfand ES Worte wie zum Beispiel „Leistungsträger“. Aus seinem Mund klang das dann wie „Hosenträger“.

War er guter Laune, so sah er den Menschen tief in die Augen, schlug ihnen auf die Schulter und sah sich dabei selbst im Gegenüber gespiegelt. War er schlechter Laune, so sah er nur kurz in die Augen des anderen verzog seinen Mund zu einem Maul und begriff, dass er auch nur sich selbst sah. So konnte er niemals genau sagen, wie der andere aussah, den er gerade prüfte oder liebte. Das Leben war für ihn wie das Eismeer. Er stand auf zwei Eisschollen gleichzeitig und versuchte, sie zusammenzuhalten. Er war redlich bemüht, alles zu vermeiden, was ihn verwirren konnte. Er wollte Herr im eigenen Haus sein, aber manchmal quoll ES aus ihm heraus, und Worte wie „hirnverbrannt“ schossen wie Maschinengewehrsalven aus seinem weit geöffneten Mund. In einem solchen Zustand konnte er sich nicht auf alles besinnen, was man von ihm wissen wollte. Es war einfach geschehen und er stand daneben und dachte nur: „Wann hört das alles endlich auf?!“.

 

……

Erklärung: M. = Moosbrugger ist eine Gestalt aus dem Roman „Der Mann ohne Eigenschaften“ von Robert Musil. In Kapitel 59 zeichnet der Autor ein vorläufiges Psychogramm des Mörders, der in seiner Zelle auf die Todesstrafe wartet. Dieses Psychogramm und einige Satzfragmente aus dem Repertoire des aktuellen deutschen Außenministers waren die Grundlage für meinen Text.

 

© GOO, Februar 2010

 

 

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