Das Ghetto. Die Geschichte der Juden Roms

 

Vorbei an hochgewachsenen, die Ufer des Lungotevere säumenden Platanenreihen setzen wir unseren Weg fort und erreichen nach etwa zweihundert Metern Fußwegs das ein wenig zurück gesetzte Gebäude der Synagoge. Wachtürme, in denen Carabinieri über das Geschehen auf dem Platz wachen, bezeugen auch heute noch die andauernde Gefährdung dieses Areals. Unübersehbar die Kränze, die an der Frontseite des Gebäudes angebracht sind. Ähnlich denen, die wir an der Piazza degli Zingari bereits gesehen haben, hier an diesem Ort dem Andenken der in den Kriegsjahren 1943 und 1944 Deportierten und Ermordeten zu Ehren.

Die Geschichte der Juden Roms ist mehr als zweitausend Jahre alt. Der gut erhaltene, eintorige Titusbogen im Forum Romanum aus dem Jahr 70 n. Chr. verkündet in seiner bildlichen Darstellung noch heute sowohl den Sieg des Kaisers Titus im Jahre 70 über die Aufständigen in Judäa als auch den erzwungenen Auszug der Juden aus ihrem angestammten Land: Gefangene tragen im Gepäck ihre siebenarmigen Leuchter, die Menora, mit sich, ein Symbol, das für die heilige Stadt Jerusalem und den verlorenen Tempel steht. (Gläubige Juden weigern sich bis heute, diesen Bogen zu durchschreiten.) In der neuen Heimat allerdings war die restriktive Politik der Päpste über Jahrhunderte hinweg für die jüdische Bevölkerung gleichbedeutend sowohl mit Verfolgung als auch mit Diskriminierung. Nachdem sie sich zunächst im Trastevere niedergelassen und hier ihr Gemeindeleben wie auch ihren Glauben gepflegt hatten, mussten sie um 1555 unter Papst Paul IV. ihr angestammtes Viertel verlassen und sich im ungesunden Überschwemmungsgebiet des Tiber an der gegenüberliegenden Flussseite ansiedeln. Dort mussten sie zusammenrücken, denn auch die jüdische Bevölkerung aus den umliegenden Ortschaften des Lazio, insbesondere diejenige aus dem bourbonisch regierten Süden des Landes, wurde in diesem für die päpstliche Obrigkeit überschaubaren Distrikt zusammengeführt. Fortan durften sie nur als niedrig angesehene Berufe wie zum Beispiel Trödelhändler, Lumpensammler und Flickschuster, Wasser- und Lastträger, Laufburschen und Hausierer ausüben. Bewegten sie sich tagsüber außerhalb des mit Mauern umgebenen Ghettos – nachts war striktes Ausgehverbot – so mussten Männer wie auch Frauen eine spezielle Kennung aus gelbem Tuch an ihrer Kleidung tragen, die ihnen den normalen und vor allem jeden intensiveren Kontakt mit Christen erschweren sollte. Jüdische Frauen waren fortan äußerlich nicht von Prostituierten zu unterscheiden – beide trugen nun die gleiche Kleidung, die somit nicht nur ihre soziale Kontrolle erleichterte, sondern durch ihre stigmatisierende Wirkung gleichzeitig auch zu Übergriffen provozierte. Als wäre dies noch nicht genug der Erniedrigung, mussten die Ghettobewohner sich an den Feiertagen der Christen zu deren Belustigung zusätzlich demütigen lassen. Im Internet fand ich auf der Suche nach den näheren Umständen jener Ereignisse folgende Seite mit dem daraus entnommenen wörtlichen Zitat:

...Ein bedauerlicher Umstand soll nicht verschwiegen werden: Paul II. hatte einen Sonderlauf der Juden eingeführt. Er war ursprünglich nicht aus einer Verachtung oder Diskriminierung geboren worden – er ergab sich aus Gründen der damals vorgeschriebenen Trennung von den Christen. Beschämenderweise kam es jedoch später bei diesem Lauf zu antisemitischen Äußerungen, wobei man sogar Steine und Schmutz auf die jüdischen Mitbürger schleuderte (Es waren die Päpste, die energisch bestrebt waren, diese Ausschreitungen des Pöbels zu verhindern; Papst Clemens IX., Giulio Rospigliosi, 1667-1669, gewährte dann den Juden eine Dispens, die sie von der Teilnahme an den Wettläufen entband)...“1

Um der Wahrheit Genüge zu tun, sei hier (aus verlässlicheren Quellen) richtig gestellt, dass in der Zeit von 1468 bis 1688 männliche Juden jeweils am letzten Karnevalstag, dem Dienstag, zur Belustigung der Bevölkerung nackt anzutreten und gegeneinander zu kämpfen oder um die Wette zu rennen hatten. Eine besonders menschenverachtende Spielart dieser „Volksbelustigung“ bestand aus einem Sackhüpfen; bei einer weiteren „Disziplin“ mussten die bereits zur Genüge Gedemütigten mit einem um den Hals gewundenen Strick Ringkämpfe ausfechten. In diese Zeit fällt pikanterweise auch der Nachweis eines päpstlichen Bordells in unmittelbarer Nähe des Ghettos. 1496 vermieteten zwei Beamte des Papstes (Alexander VI.) dem Padre Ludovico Romanelli das Amt eines Vorstehers des Bordells beim Ponte Sisto. Auf diese Weise mietete Romanelli von den Beamten des Papstes das Recht, von jeder der dort wohnenden und lebenden Huren eine monatliche Abgabe von zwei Carlini zu erheben, sowie ein Gasthaus und ein Restaurant im Bordell zu betreiben. Aus diesem Geschäft ergaben sich nicht nur gute Gewinne für Romanelli selbst, sondern auch für die katholische Kirche.

Erst mit dem Risorgimento drei Jahrhunderte später, im Jahre 1870, wurde das Ghetto nach Jahren der Armut und der systematischen Erniedrigung endlich befreit. Hasserfüllt reagierte Pius IX. auf die Befreiung seiner ehemaligen jüdischen Untertanen. So beschimpfte er sie vor Pilgern als "Ochsen", die keinen Gott kennten, und als "Hunde", die bellend durch die Welt zögen. Für ihn blieben sie die "Feinde Jesu", die "keinen anderen Gott hätten als ihr Geld".

Dessen ungeachtet beteiligten sich die römischen Juden fortan am Kampf um ein einheitliches, freies Italien und schlossen sich den Idealen einer freiheitlichen Demokratie an; der Bau eines neuen, großen Tempels (1901-04) war das augenscheinlichste Zeichen für die Wiedererlangung dieser Freiheit. Der erste jüdische Bürgermeister der Stadt Rom, Ernesto Nathan (1907-13) selbst wurde nach den Idealen des Risorgimento-Vordenkers Giuseppe Mazzini erzogen.

Als wäre der jüdischen Bevölkerung noch immer keine Ruhe in Frieden gegönnt, kam im Jahr 1943 die Besetzung Roms durch die Nazis als eines der tragischsten Kapitel in der langjährigen Geschichte über die Gemeinde: 2.091 Juden wurden am 16. Oktober 1943 gefangen genommen und deportiert. Nur sechzehn Männer und eine Frau kehrten aus den Vernichtungslagern wieder zurück.

Im März 1944 erschütterte ein weiteres Ereignis die Stadt: Als Vergeltung für ein Attentat auf deutsche Soldaten wurden in den Fosse Ardeatine 335 Menschen unter der Ägide des SS-Polizeichef von Rom, SS-Obersturmbannführer Kappler und seines Stellvertreters, SS-Hauptsturmbannführer Priebke auf die grausamste Weise ermordet, darunter 75 Juden. In der Via Ardeatina steht ein Denkmal von Franceso Coccia, das an diese Tat erinnert. 1948 wurde Kappler in Italien vor einem Militärgericht zu lebenslanger Freiheitsstrafe verurteilt. Keine zwanzig Jahre später wurde er unter bis heute nicht ganz geklärten Umständen von Helfershelfern aus dem römischen Militärhospital befreit und durfte sein Leben ein Jahr später, von der Justiz unbehelligt, in Deutschland in Frieden mit sich selbst beschließen. Wolf Biermann hat die Umstände dieser Befreiung auf seiner 1978 erschienenen Schallplatte „Trotz alledem“2 in damals noch gewohnt systemkritischer Weise musikalisch-sarkastisch begleitet.

Erich Priebke konnte, wie andere Naziverbrecher auch, nach 1945 mit Hilfe der USA und des Vatikan auf der so genannten "Rattenlinie"3 nach Argentinien entkommen, wo er sich fortan als Wurstwarenhändler betätigte. Als Dritter in dieser unheiligen Allianz übernahm in den meisten Fällen das Internationale Rote Kreuz die Kosten für die Schiffsüberfahrt dieser Flüchtigen. Dort lebte er unter seinem richtigen Namen und mit Wissen der bundesrepublikanischen Botschaft bis 1994, wurde dann aber sowohl durch einen israelischen Journalisten als auch (dies vermelden andere Quellen) durch ein amerikanisches Fernsehteam enttarnt. Erst danach wurde ein Verfahren gegen ihn vor einem italienischen Militärgericht eröffnet. Zunächst wurde er „unter Berücksichtigung seines Alters und seines anständig geführten Lebens während der letzten 50 Jahre“ 1996 freigesprochen. Dies Urteil löste in der Bevölkerung große Empörung aus, so dass Priebke 1997 zu fünf Jahren Haft verurteilt wurde. Eine Verfolgung durch die deutsche Justiz hingegen scheiterte, wie so manches einschlägige Verfahren auch, an nicht transparent gewordenen internen Verschleppungsmechanismen.

Auf einem Presse-Foto aus dem Sommer 2007 kann man den inzwischen 93-jährigen Priebke auf dem Rücksitz des Mofas seines Anwalts durch die Stadt fahren sehen – auf der Fahrt zur Kanzlei, wo er sich, bei bester Gesundheit, mit dem Übersetzen und der Katalogisierung von juristischen Dokumenten beschäftigt. Zwar befindet er sich offiziell „unter Hausarrest“, dies auszulegen hingegen ist ein weites Feld.

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Auszug aus Birgit Ohlsen, „Zauberhaftes Rom. Streifzüge durch die Ewige Stadt“- Schweinfurt. 2008

1 Wörtliches Zitat aus „Papa Ratzingers Forum, Karneval am Petersplatz“. http://freeforumzone.leonardo.it/lofi/D354699.html

 

2 Songtitel „Collage Frankfurter Rundschau“

 

3 Vgl. Rat line, vor der Mitbeteiligung des US-amerikanischen Geheimdienstes auch Klosterlinie genannt.

 

 

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