Salve! Urlaubsreif? Was für eine Frage! Eine vermutlich selbstgemachte, an den Ecken bereits abgestoßene alte Visitenkarte, die Segelurlaub in Usedom auf Usedom verspricht, Ferienwohnung inklusive, lässt die Frage aufkommen, ob sich Ausdauer wirklich auszahlt. Gibt es die Ferienwohnung am Hafen noch? Gibt es den Hafen noch? Gibt es Usedom noch? Sechs Jahre ist es her, als wir am Kai standen, auf den See sahen und uns ein freundlicher Herr nach einem kurzen Gespräch die Visitenkarte gab. In unserer schnelllebigen Zeit ist dies immerhin eine kleine Ewigkeit her. Aber zu unserer Zufriedenheit gibt es das alles noch und die Ferienwohnung ist schön. Sie liegt unterm Dach, hat alles, was man braucht. Nur eine Kleinigkeit fehlt, ein Radio! Für uns Großstädter ist die ländliche Ruhe nur schwer zu ertragen.
Also erst einmal den kleine Ort Usedom auf Usedom erkunden. Dann aber gilt es, Ausschau zu halten nach einem Elektrogeschäft, einen Elektrogroßhandel oder gar einem Elektroparadies, das hier, wegen der Größe des Ortes, allerdings nicht zu vermuten ist.
Der Usedomer an sich scheint eine sehr ausgeprägte Hartnäckigkeit an den Tag zu legen, wenn es um das Konservieren von Erinnerungen geht. Die DDR zum Beispiel ist, wenngleich reichlich verstaubt und auch ein wenig angerostet, im Nachbarhaus an der Ecke ausgestellt. Kleinigkeiten aus dem Alltag des ehemals anderen Teiles von Deutschland findet man im Schaufenster. Der Laden ist geschlossen, so wie die DDR eben, und das Haus selbst vermittelt eher den Eindruck, als hätte es noch nicht so recht verstanden, in welcher Zeit es sich aktuell befinde. Wir gehen weiter, begeben uns auf die Suche nach weiteren versteckten Schätzen, wie das in der Osterzeit üblich ist, und wollen das 2000-Seelen-Städtchen entdecken.
Außer einem himmelblauen Ghettoblaster ist nichts im Angebot des Elektrogeschäfts zu erkennen, was radiotauglich wäre. Ja, Sie kommen ein paar Wochen zu spät – im Februar hatten wir noch ein Transistorradio für 18 Euro. Aber leider! So kommen wir nicht ins Geschäft und ich setze meinen kleinen Spaziergang fort. Alte Waagen, die es früher einmal bei Tante Emma gab, bauen sich gespenstisch vor mir auf. Das mit Zahlen bedeckte Kreissegment der Waage verwandelt sich in ein Käsekuchenstück. Die Zahlen mahnen mich an die Kilokalorien, die diese köstliche Süßigkeit mit jedem Bissen meinem Körper zuführen würde, falls ich da reinbisse. Und das alles nur, weil die Menschen in Usedom auf Usedom fast alles aufheben.
Wo werde ich den nächsten „Antique“-Laden auf meiner Suche nach einem Radio finden? Ja, genau neben dem Supermarkt, aber diesmal ein wenig exklusiver. Den Anblick von Antiquitäten genießen bei einer Tasse Kaffee und einem guten Stück Kuchen. Das ist die Geschäftsidee, und ich sehe schon die wunderschönen Radios, die mit dem satten Sound, dem Röhrenklang eben. Nicht so blechern wie ein Transistor wird die Musik dem Äther überlassen, weich mit den tiefen Bässen, die nicht hämmern, sondern sich wie Watte im Gehörgang festsetzen. Wer einmal ein Röhrenradio besessen hat, der wird den Klang nicht vergessen.
„Das MG im Decolletée“, ein Krimi von Carlo Manzoni steht neben all den alten, ausgelesenen Taschenbüchern in der letzten Ecke des etwa 1500 m² großen Cafés. Wenn es schon kein Radio sein soll, dann eben Lesestoff. Für 1000 Euro, scherzt die Verkäuferin. Ohne die drei Nullen kann ich es mein Eigen nennen. Der erste Absatz offenbart mir dann die Wirklichkeit, in der ich zurzeit gefangen bin. Der Protagonist entdeckt einen antiken Dolch, der in der dazugehörigen Leiche steckt, in dem entsprechenden Antiquitätengeschäft, das auf dem Weg zwischen zwei Kneipen liegt. Ob der Autor auch hier in Usedom auf Usedom gewesen ist, als er die Geschichte schrieb?
Eigentlich überflüssig zu erzählen, wie ruhig es hier ist. In der Mitte der Stadt, die schon im 13. Jahrhundert ihre Stadtrechte bekam, thront die Kirche. Einen Eierwurf weiter befindet sich das Anklamer-Tor. Beide Sehenswürdigkeiten sind bestens geeignet, sich das Ja-Wort zu geben. So verkündet es jedenfalls eine Schautafel neben dem mit „Standesamt“ betitelten Haus gleich um die Ecke. Eine Geschäftsidee der Usedomer Tourismusbranche, um all die Heiratswilligen hierher zu locken?
Kleinstadtidylle pur, nur knappe 24 km entfernt von den sogenannten Kaiserbädern an der Ostsee, Ahlbeck und Heringsdorf. Mit dem Auto ein Katzensprung. Wir dagegen sind mit dem Zug gekommen. Zuerst überfüllt, dann doch die Erlösung: der Zug leert sich in Eberswalde. Jetzt weiß ich auch warum! Am einem der nächsten Tage werde ich in der Lokalzeitung lesen, dass andernorts, etwa zur selben Zeit, die Deutsche Bahn ICE-Reisenden 25 Euro angeboten haben soll, wenn sie den Zug verlassen. Wir aber gehen leer aus. Dafür haben wir Sitzplätze bis Anklam. Von dort aus erreicht man die Insel mit dem Bus. Die alte Bahnlinie vom Festland auf die Insel ist schon seit langem stillgelegt. Immer wieder wird davon gesprochen, sie wieder in Betrieb zu nehmen.
In unserer Ferienwoche werden wir nicht alles erkunden können, was die Reiseführer auf der Insel empfehlen. Zu groß ist das Gebiet für den CO2-bewussten Urlauber. Also, wie die Insel erkunden? Unser Entschluss ist klar: Wir machen eine Fahrradtour in den Lieper Winkel. Die ruhigste Gegend der Insel, laut Reiseführer, und unser Vermieter, der auch die Fahrräder vermietet, hat sogar noch einen Insidertipp parat: Nehmen Sie doch den Weg am Deich entlang, dann müssen Sie nicht auf der Bundesstraße fahren. Gesagt, getan!
Wie lange wird das Wasser des Peenestroms, der die Insel in Nord-Südrichtung vom Festland trennt, unseren Augen und die Seeluft unserer Nase gut tun? Schwäne schwimmen an uns vorbei, Reiher verstecken sich im Schilf und über uns Enten, die im Formationsflug unterwegs sind. Ist nichts passiert, höre ich Birgits Stimme hinter mir rufen. Ich drehe mich um und sehe sie im Graben liegen. Aus einem fahrenden Zug abzusteigen ist bekanntlich lebensgefährlich. Von einem fahrenden Fahrrad abzusteigen ist mit einigen Blessuren verbunden. Birgits Fahrrad ist zwar aus Aluminium, dennoch erweist es sich als viel zu schwer für ihr Leichtgewicht. Dies sollte nicht das letzte Mal gewesen sein. Zu Hause wird Birgit später die blauen Flecken zählen.
Bald ändert sich die Landschaft. Der Weg führt durch den Wald. Der Weg ist nur noch per Pedes zu bewältigen. Matsch und tiefe Traktorspuren verhindern das Weiterkommen auf zwei Rädern. Wer sein Fahrrad liebt, der schiebt. Und das gilt besonders dann, wenn der ein oder andere umgefallene Baum den Weg versperrt.
Sehr abenteuerlich, denke ich. Was wird uns noch erwarten? Wilde Tiere, die uns aus dem Dickicht anfallen? Aber so schlimm soll es dann doch nicht kommen. Denn urplötzlich tut sich das weite Feld vor unseren Augen auf. Ein echter Hase hoppelt über das Feld, und das so kurz vor Ostern! Ein Frettchen nimmt Reißaus und ein brausendes Geräusch verrät die nahe Straße. Endlich wieder glatter Asphalt unter den Rädern – und Birgit hört bereits die Störche klappern. Die soll es hier in der Gegend geben. Recht bald schon stellte sich das vermeintliche Klappern der Störche als das Klappern des vorderen Schutzblechs heraus. Jetzt sind es nur noch ein paar Meter bis Rankwitz Hafen.
Dort befindet sich ein Fischrestaurant. Es spricht sich schnell herum, dass man hier hervorragend Fisch essen kann. „Hering satt“ für Birgit und für mich Matjes mit Bratkartoffeln. Wünschen Sie noch Hering? Nein, Birgit ist schon nach der ersten Portion satt. Ich bin da anderer Meinung. Mich aber fragt hier leider keiner.
Die letzte Strecke geht bis Warthe am Nordzipfel des Lieper Winkels. Hier ist der Tourismus noch nicht so richtig angekommen. Im Café „Zum alten Kahn“ gibt es leider nur Tiefkühlkuchen, der von der jungen Bedienung liebevoll „der Schwede“ oder „der Klassiker“ genannt wird. Ein Genuss ist beides nicht. Machen Sie hier besser keine Rast, fahren Sie ohne Umwege gleich zum Achterwasser. Dort liegt auch der alte Kahn. Birgit ist begeistert: Kormorane sonnen sich auf den morschen Balken des Kahns. In der kleinen Bucht, am Ufer, zwei Strandkörbe. Eine Malerin bannt die Seenlandschaft mit Aquarellfarben aufs Papier, ein Genießer liest ungestört sein Buch. Hier bleiben wir und ruhen unsere strapazierten Hinterteile ein wenig aus.
Wieder zu Hause, in der Ferienwohnung stellt sich erneut die Frage: Wo bekommen wir das Radio her? Warum nicht einmal nach Polen fahren. Nicht weit entfernt, nur 20 km entfernt und mit dem Bus sehr gut zu erreichen. Also quasi um die Ecke.
Der Bus bringt uns am nächsten Tag nach Ahlbeck. Ein Seebad mit der typischen Bäderarchitektur. Nicht so mondän wie das 1 km entfernte Heringsdorf, dafür näher an der polnischen Grenze. Wir erkunden die Gegend zu Fuß. Erst eine Weile am Strand entlang, gen Osten, dann in den Wald. Wo sollen wir hier unser Radio finden?
Da klingelt Birgits Handy. Ein nützlicher Tipp vielleicht, wo wir das Radio am billigsten kaufen können? Birgit liest laut vor: „Willkommen in der EU. Sie nutzen den Auslandstarif von …“. Sind wir vielleicht EU-Neulinge? Kommen wir etwa vom Mond? Nein, alles, was das Handy uns mit dieser eigentümlichen Botschaft sagen will, ist, dass wir zumindest fast in Polen sind. Polen ist inzwischen zweifellos in der EU angekommen, den Euro jedoch haben sie offiziell noch nicht eingeführt. Inoffiziell sieht das schon anders aus. Auf dem Polenmarkt, der etwa 100 m hinter der Grenze anfängt und sich bis zum „Deutschen Bahnhof“ erstreckt, ist die Währung für Zigaretten, Bernstein, CDs, Kleidung und immer wieder Zigaretten der Euro. Dies gilt auch für die Bierstände. Bier? Piwo! Das lassen wir uns nicht zweimal sagen. Das Bier ist köstlich und die Stimmung wird immer besser.
Wir laufen weiter in die Stadt. Bis zur Kirche, die etwa in der Stadtmitte liegt, schaffen wir es. Und siehe da – auf der gegenüberliegenden Straßenseite ist ein Elektronikladen. So einer, wie es ihn wahrscheinlich überall in der EU gibt. Computer, Fernseher und, in einer abgeschlossenen Vitrine, da steht es. Es ist etwa 12 cm x 7 cm groß, glänzt silbrig und ist ein Weltempfänger. Zwei AA-Batterien für die Stromversorgung und Kopfhörer sind inklusive. 16 Euro umgerechnet. Schon gekauft und ausprobiert. Klasse! Endlich wieder Nachrichten, Musik und geistreiche Kommentare. Wir sind wieder mit der Außenwelt verbunden.
Ich stimme schon „O Sohle mio“ an. Birgit versteht mich sofort. Ein fahrbarer Untersatz muss her. Der heißt hier Taxi und bringt uns bis zum Ahlbecker Bahnhof. Dort nehmen wir dann, es ist Punkt um 16:25 Uhr, den letzten Bus nach Usedom auf Usedom. In der Ferienwohnung drehen wir erst einmal auf. Musik und danach eine Sendung zum aktuellen Thema: Atomausstieg! Der Alltag hat uns wieder.
Über Nacht erholen sich unsere Füße und fordern am nächsten Tag mehr. Einmal um den See. Aber ist es wirklich ein See? Wir werden se(h)en. Auf der Karte jedenfalls sieht es nicht so aus und Usedom ist schließlich eine Insel. Wir gehen los und nehmen den falschen Abzweig. Prompt landen wir am Wasser. Kein Weg in Sicht. Die Wiese ist feucht, nass sind die Schuhe, bald auch die Strümpfe, die Füße bis zu den Knöcheln. Schnell zurück und im Uhrzeigersinn um den See. Ist auch besser, denn wir wollen an der Schau-Käserei in Welzin vorbei.
Zuerst geht es durch einen Wald. Wer trommelt da? Ein Specht! Ein anderer antwortet ihm. Ich bleibe stehen und versuche, mit der Kamera die Vogelstimmen aufzunehmen, die uns ständig begleiten. - Ist das dort drüben nicht eine Hütte? Mitten im Wald, direkt am See. Wir planen schon unsere nächste Ferienwohnung.
Auf dem Deichweg gehen wir das letzte Stück bis zur Käserei. Nicht nur wir haben diesen schönen Tag für uns entdeckt. Ein Pärchen hat sich mit dem Liegestuhl am See platziert. Sie sonnt sich, er hat die Angel ausgeworfen. Aber wir gehen weiter. Jetzt bloß nicht schlapp machen, so kurz vor dem Ziel. Ein Baum blockiert den Weg. Sauber abgenagt, so wie es Biber tun. Birgit glaubt mir zunächst nicht, aber ich bin davon felsenfest überzeugt. Das kann nur ein Biber gemacht haben. Kein Mensch würde auf die Idee kommen, hier einen Baum zu fällen und dann auch noch liegen zu lassen. Was meinen Sie?
Da kommt uns ein Mofafahrer entgegen. Vielleicht der einzige Freizeitspaß für Welziner Jugendliche. Jetzt kann es nicht mehr weit bis zum Ziel sein. Wir sehen schon die ersten Häuser. Dann das Schild: Inselkäserei. Nur noch ein paar Meter, und wir stehen vor dem kleinen Bauernhof, in dem Steffen Schultze aus Achern im Badischen sich seine Existenz aufgebaut hat.
Sein Handwerk hat er in der Schweiz gelernt. Das schmeckt man auch. Der „Junge Usedomer“ ist kräftig wie ein Schweizer Bergkäse. Einfach lecker. Birgit entscheidet sich für einen Ziegenkäse. Dann kommen wir ins Gespräch, in dessen Verlauf Birgit sich als Exil-Freiburgerin outet. So klein ist die Welt eben. Steffen zeigt uns noch das Café, das er in einer Scheune eingerichtet hat. Leider fehlt ihm das Personal. Aber es wird weitergehen, da bin ich mir ganz sicher. Irgendwann wird sich eine zu Steffen passende Idealistin finden, die ein Leben in der Einsamkeit dieser Traumlandschaft auszuhalten bereit ist.
Wir reden über den Kapitalismus, der uns Getreide aus Afrika bringt und den Mais, der um die Ecke wächst, zur Biogasanlage. Aber wie lange noch? Ich bin da sehr skeptisch, wenn ich die Spekulationen an den Märkten sehe, gebe ich zu bedenken. Das kann nicht gut gehen. Irgendwann einmal wird wieder eine Blase nach der nächsten platzen. Dann ist es vielleicht gut, wenn man etwas zum Tauschen hat. Aber so schlimm wird es sicherlich nicht werden, oder?
Birgit schaut mich mit dem Blick an, den ich kenne. Weitergehen und den Mund halten ist angesagt. Also machen wir uns auf den Weg. Am See entlang natürlich. Aber Achterwasser ist hier überall. Dies wird uns bewusst, als wir ein unüberwindliches Hindernis vor uns sehen: das Wasser. Eben doch kein See!
Ein kleiner Hund macht sich bemerkbar. Er springt an meinem Bein hoch. Gefolgt von einem ca. 2 m großen Mann. Der schaut uns freundlich an und lässt uns wissen, dass es gleich weiter geht. Er verschwindet kurz an der Ecke des Hauses und kommt gleich darauf wieder zurück. Wir sehen den Kahn. Dieser Nachen also ist die Fähre! Was macht der nur, wenn eine Schulklasse vorbeikommt, fragt Birgit flüsternd.
Ich bin ein wenig verunsichert, als ich die Nussschale betrete. Der Fährmann aber gleicht meine Wankelmütigkeit aus und so komme ich sicher ins Boot, wo Birgit schon auf mich wartet. Die Ruder raus, und ab geht’s übern See. Nach gefühlten zwei Minuten erreichen wir das andere Ufer. „Fährmann hol über!“ mussten wir nicht erst rufen. Der Hund blieb am anderen Ufer zurück. Fragen Sie nicht, was es kostet. Geben sie dem Fährmann, was Sie glauben, ihm geben zu müssen.
Die letzten Kilometer nach Usedom auf Usedom sind die schwersten, Megameter sozusagen. Der Weg macht einen großen Bogen um den See. Ich kann es schließlich nicht fassen, als wir vor der Tür zur Ferienwohnung stehen. Ab in die Hütte und die Füße hochlegen, das ist alles, was wir hier noch zu melden haben. Und Radio an, selbstverständlich!
Ahlbeck ist schön. Aber wie ist Heringsdorf? Zuerst einmal erfinde ich neue Namen. Dorsch-City, Kabeljauhausen oder Zandervillage. Der Bus benötigt von Usedom auf Usedom bis nach Heringsdorf etwa 45 Minuten. Wir kommen am Bahnhof an. Hier können wir sogar schon die Fahrkarten zurück nach Berlin kaufen. Ich mache meine Augen auf und suche den Fahrkartenautomat. Fehlanzeige. Hier geht alles noch per Mensch und das sogar ohne Aufpreis, anders als in Berlin. Eine freundliche Frau bedient uns. Die Menschen hier auf der Insel waren bisher alle ungewohnt freundlich zu uns.
Weiter geht unser Weg zum Strand. Vorbei an wunderschönen Holzhäusern im Bäderstil, inmitten einer Parklandschaft. Schön, sehr schön und das bei strahlendem Sonnenschein. Wir suchen die Villa Irmgard in der Gorkistraße, das sogenannte Gorki-Haus. Der Dichter Maxim Gorki war 1922 für ein paar Monate in Heringsdorf. Er wollte sich von den Folgen der russischen Revolution oder aber von seiner TB kurieren. Für beide Möglichkeiten gibt es im Haus schriftliche Belege.
Die Villa liegt etwas abseits und beherbergt ein kleines Literaturmuseum. Die Zimmer im Erdgeschoss sind noch original so, wie Gorki sie vorgefunden hat. Gorki, der zeitlebens mehr als 20.000 Briefe geschrieben hat, hatte einen unerschütterlichen Glauben. Nicht den an die Technik. Der Nihilismus von heute war ihm fremd. Er glaubte an den Menschen. So ziert ein Zitat den von ihm genutzten Schreibtisch: „Und dennoch und trotz alledem werden die Menschen eines Tages wie Brüder leben.“- Vielleicht werde auch ich diesen Glauben an die Menschen einmal wiederfinden. Gorki hat ihn wohl bis zu seinem Tode 1936 behalten.
Jetzt bin ich dran. Ich habe mir die Sternwarte ausgesucht. Manfred von Ardenne hat sie 1973 dem Volk gestiftet. Also halte ich Ausschau nach einer Kuppel. Irgendwo am Deich soll sie sein. Aber was sehe ich? Nur frisch geharkten Sand. Auch in Usedom auf Usedom ist uns dieser seltsame Beleg für deutschen Ordnungssinn aufgefallen. Befindet sich am Straßenrand ein Sandstreifen, so ist der frisch geharkt. Das wichtigste Gartengerät ist der Rechen. Rentner, bewaffnet mit Rechen, waren auch Wochenende unserer Ankunft unterwegs und hinterließen im Sand am Straßenrand die wellenförmigen Streifen, die offenbar als schön empfunden werden. Eigenartige Ästhetik. Ich beschließe, die Abdrücke meiner Hände als Kontrapunkt im Sand von Heringsdorf zu hinterlassen.
Eine Kuppel ist immer noch nicht in Sicht. Dafür eine Minigolfanlage. Eine Nachfrage beim Besitzer der Anlage lässt in mir die Hoffnung aufkommen, dass die Sternwarte direkt ein paar Meter weiter am Strand sein muss. Von der Kuppel muss ich mich verabschieden. Wer den Unterschied zwischen Golf und Minigolf kennt, der kennt auch den Unterschied zwischen Sternwarte und Volkssternwarte in Heringsdorf.
Zum Abschluss unseres einwöchigen Inselausflugs mieten wir uns noch einmal die Fahrräder. Diesmal soll es ein altes DDR-Klapprad für Birgit sein, das ist eher ihrer Größe angemessen. Unterwegs zeigt sich dann, dass dies die bestmögliche Wahl war. Was ist schon ein Aluminium-Herrenrad mit sechs oder mehr Gängen, das sich ebenso umständlich bewegen lässt, wie es auszusprechen ist, gegen einen kleinen Mifa-Flitzer, der mit einem einzigen Pedaltritt voranprescht wie der Blitz? Nur da, wo Kopfsteinpflaster auch größere Fahrzeuge nur holpern lässt, schieben wir die Räder. Zunächst geht es durch die blühende Frühlingslandschaft bis nach Karnin, zur ehemaligen Eisenbahn-Hubbrücke, deren Lebens- und Gebrauchszeit von 1933 bis zur Sprengung im Jahr 1945 nur 12 und dennoch exakt tausend Jahre umfasste. Eigentlich wäre dies ein geeignetes Objekt für Metalldiebe, wäre sie nicht auf die unbequemste Weise zu erreichen, vor allem aber zu demontieren. Ein angerostetes Industriedenkmal, höchstens. Wir fahren weiter, vorbei am alten Bahnhofsgebäude mit der alten Ortsbeschriftung „Carnin“, weiter dann über ein paar holprige Pfade und entlang der erwähnten Kopfsteinpflasterwege. Schließlich überqueren wir die Bundesstraße und schieben die Räder auf dem Uferweg des Peenestroms, am Deich entlang.
Keine Menschenseele weit und breit außer uns. Schwäne im Wasser, Entenflugparaden am Himmel, ein quakender Frosch in Ufernähe, unsichtbar hinterm Schilf versteckt. Weit hinten ein Ruderboot. Wir breiten Günters Tarnmantel auf der Uferböschung aus, legen uns darauf und beobachten den Himmel. Ein Adler könnte das sein, was da schon einen ganze Weile überm See kreist. Seeadler sollen hier heimisch sein, hat uns unser Vermieter gestern noch erzählt. Wären da nicht diese Schwanzfedern, die denen einer Schwalbe ähneln. Eine Monsterschwalbe vielleicht? Das inzwischen stillgelegte Kernkraftwerk Lubmin ist nicht weit entfernt, im Greifswalder Bodden. Ach nein, die große Politik wollten wir – zumindest im Urlaub – ja außen vor lassen. Sie wird uns noch früh genug wieder einholen.
© Birgit und Günter, April 2011