Das Jazzkonzert von Chilly Gonzales in der Berliner Philharmonie fand am 7. April 2022 statt. Der Raum war voller Masken, der Künstler mit Pantoffeln und Bademantel, das Klavier von C. Bechstein und der Jazz harmonisch. Der Raum bewegt sich, zuerst nur sehr langsam, dann immer schneller, die Richtung wird gewechselt, und zum Schluss dreht man sich so lange im Kreis, bis ein Schwarzes Loch entstanden ist, Ruhe einkehrt, und der Zuhörer von Gravitationswellen getroffen, in seiner Verschränkung zum Künstler vom Sitz gerissen wird und laut applaudiert. Chilly Gonzales vielleicht ja ein Meister der Physik des Jazz’ – in jedem Fall ein Virtuose des Klaviers.

Die Erinnerung hat einen Hintergrund. Derjenige, der eine Verbindung von diesem Hintergrund zum Bewusstsein herstellt, schafft Harmonie. Und was ist besser dazu geeignet als die Musik und die bildende Kunst! Das eine schafft den Wohlklang und das andere ein ausgewogenes Verhältnis der Formen und Farben.

Die Musik von Chilly Gonzales macht genau das. Der Hintergrund ist kein weißes Rauschen mehr wie in der Alltäglichkeit des Seins. Der Künstler reißt uns aus der Alltäglichkeit mit seiner Musik heraus, die uns zu verstehen gibt, dass nichts bleibt außer dem Ende, das Ende so verstanden als die vollkommene Gewesenheit.

Folgt man dieser Bewegung, erkennt man erst die Fülle der Musik Gonzales’. Wut, Angst, Trauer, Freude bündeln sich und treffen mit einer nie gekannten Wucht auf den Zuhörer. Dieser befindet sich in Resonanz mit der Mannigfaltigkeit der Botschaft, die in jedem einzelnen Ton steckt. Eine sehr individuelle Resonanz, die mit Objektivität nichts zu tun hat, die aber notwendige Bedingung dafür ist, dass die Erinnerung überhaupt stattfinden kann im improvisierten Universum der Geschichten, und jeder hat sein eigenes.

So nimmt mich der Jazz von Chilly Gonzales mit auf eine Reise zum Innersten, dort wo die Erinnerung Gegenwärtigkeit ist. Er verzaubert und zeigt uns die Landschaft der Möglichkeiten, die nur durch die Klaviatur begrenzt ist. Aber manchmal reicht diese nicht aus. Sie müsste größer sein, um das Innerste nach außen zu kehren. Die neuen Töne finden sich außenhalb der Klaviatur am Holz, das wie ein Platzhalter benutzt wird, um die Musik fortzusetzen. Vielleicht bekommt so das Innere die eigentliche Kraft, die Kraft der Improvisation, die im Kopforchester des Pianisten ist, mit der der Künstler den Zuhörer verzaubert.

Chilly Gonzales spielt auch mit Band: Bass, Cello, Violine und Schlagzeug. Leider dienen die zusätzlichen Instrumente teilweise nur dazu, das Piano zu verstärken. Bei einigen Stücken spielt die Violine auch eine eigene Melodie und auch einen eigenen, gegenläufigen Rhythmus. Wie bei einem mehrstimmigen Chor wurde hier der Hintergrund mehrdimensional dargestellt. Weil auch der Mensch nicht eindimensional ist, eine Art von Emanzipation also.

 

© GOO, April 2022

Wir benutzen Cookies

Wir nutzen Cookies auf unserer Website. Einige von ihnen sind essenziell für den Betrieb der Seite, während andere uns helfen, diese Website und die Nutzererfahrung zu verbessern (Tracking Cookies). Sie können selbst entscheiden, ob Sie die Cookies zulassen möchten. Bitte beachten Sie, dass bei einer Ablehnung womöglich nicht mehr alle Funktionalitäten der Seite zur Verfügung stehen.