Unter meinem Dach leben mit mir drei Gäste. Zuerst habe ich sie nicht bemerkt. Sie waren unsichtbar. Auch die unten in der Wohnküche konnte ich nicht sehen. Sie sind wohl alle unbemerkt, durch meine nicht verschlossene Wohnungstür in meine Wohnung eingedrungen. Aber einmal war es so weit, dass ihr unbemerktes Wirken mir die Luft zum Atmen raubte und ich mich ins Reinigungszentrum einliefern lassen musste. Dort haben die Reinigungsprofis nach einer sehr gründlichen Wohnungsbesichtigung den Grund für den Lärm festgestellt. Ungebetene Gäste, einer im Arbeitszimmer, ein anderer im Schlafzimmer und noch einer auf der Toilette im oberen Bereich meiner Wohnung unterm Dach. Im unteren Bereich, der Wohnküche, dann weitere, sehr muntere und ungehobelte Gesellen, wie sie bereits wissen. Wenn man sie anspricht, dann bekommt man keine Reaktion von ihnen, bestenfalls ist ein Rülpsen zu vernehmen, na ja, einfach ekelhaft.

 

Wie wird man diese wilden Kerle wieder los? Eine berechtigte Frage, auf die es eine statistische Antwort gibt, die lapidar nur lautet: eigentlich nicht. Du musst damit lernen zu leben. Es bleibt dir nichts anderes übrig. Schließlich hast du sie hereingelassen. Du hast vergessen, die Wohnungstür abzuschließen, schon vergessen? Aber es gibt etwas, das dir das Leben mit ihnen erträglicher machen kann. Die Reinigungstruppe, die so allerhand chemische Mittel kennt, die eventuell die Gäste zum Stillhalten zwingen können, weil es ihnen dann auch schlecht geht, schlechter als dir vielleicht. Denn die Reinigungstruppe putzt alles und nimmt auf die sauberen Stellen in deiner Wohnung keine Rücksicht. Im Nu ist alles sauber und die ungebetenen Gäste haben sich in die Ecken verkrochen, wo sie nicht mehr auszumachen sind.

 

Zuerst war ich froh, dass die Plagegeister nicht mehr zu sehen waren. Jetzt kann das normale Leben vielleicht wieder anlaufen, dachte ich. Aber ein kurzer Blick ins Internet versprach nichts Gutes. Die kommen mit einer Wahrscheinlichkeit von 99 % wieder, war dort zu lesen, und ich bin nicht der Type, der zu den restlichen 1 % gehört. So war es dann auch. Nach drei Monaten waren sie alle wieder da. Es musste eine zweite Grundreinigung durchgeführt werden. Bei mir hat man ein zweigleisiges Verfahren angewandt. Für die Gäste im Oberstübchen musste ich mehr Dachfenster einbauen lassen. Die Sonnenstrahlung sollte sie zu Staub werden lassen. Denn die ungebetenen Gäste sind wie Vampire. Sehen diese die Sonne, dann geht es mit ihnen zu Ende und sie zerfallen zu Staub.

 

Als die Umbauarbeiten fertig waren, konnte die Strahlentherapie beginnen. Jeden Tag 4 bis 5 Minuten Lichtflutung unter dem Dach, danach war Ruhe verordnet worden. Außerdem kam der chemische Reinigungstrupp wieder und erledigte seine Arbeit in der Wohnküche. Dieses Mal ging es mir schlechter als beim ersten Mal. Dies lag wohl an den Reinigungsmitteln, die nun eine andere Zusammensetzung hatten als zuerst. Aber, was macht das schon. Hauptsache ist, dass die ungebetenen Gäste sich jetzt längerfristig verkriechen, weil sie befürchten müssen, was beim dritten Mal passieren wird. Vielleicht eine gute Abschreckungsstrategie, die mir noch etwas Zeit verschafft. Denn weg werden die Plagegeister erst sein, wenn ich es auch bin.

 

Noch sind die ungebetenen Gäste in der Küche nicht klein zu bekommen. Dazu müsste der Reinigungstrupp öfter kommen. Im Gegenteil, mittlerweile habe ich sogar den Eindruck, dass sie sich an mir rächen wollen, weil ich erneut versuche, sie aus meiner Wohnung zu vertreiben. Also sind sie noch lauter, wenn ich einschlafen will, und dies bis tief in die Nacht hinein. Das wird wohl eine harte Zeit für mich werden. Aber ich bin guten Mutes, dass die Reinigungsfirma dieses Mal gründlicher sein wird. Dann kehrt hier auch wieder Ruhe ein und ich kann vielleicht noch das ein oder andere unternehmen. Wie wäre es mit einer kleinen Reise, gutem Essen, falls ich das Essen wieder vertrage, einem Konzert oder eine Theatervorführung. All das, was man früher so gern gemacht hat, könnte dann wieder aufflammen und ein letztes Aufbäumen für den Übergang sein. Das wäre keine schlechte Aussicht.

 

Ein seltsames Ziepen war aus dem Dachgeschoss zu hören. Schließlich wurde ein Juhu-Geräusch wahrnehmbar, das in ein geisterhaftes Huhu überging. Danach konnte ich ein Knarren hören, so wie im MRT allerdings wesentlich leiser. Was war passiert? Ich ging nach oben und schaute nach. Die ungebetenen Gäste waren aufgebracht und liefen ziellos im Arbeitszimmer herum, in dem ich vergessen hatte, die Dachfenster zu schließen. Das hätte ich aber machen sollen, weil es sonst für mich tödlich hätte enden können. Das ist zwar immer so, aber schließlich will ich doch noch mitentscheiden, bin ich doch für meine Lage selbst verantwortlich und das im besten Sinne der Freiheit. Was ist eine Verantwortung denn wert, wenn man nicht frei entscheiden kann?

 

Da ich in letzter Zeit wohl vergesslicher werde – das mit dem Fenster wäre mir früher nicht passiert – habe ich mir überlegt, ein Fenstermanagement zu bestellen. Die Reinigungsfirma konnte mir da weiterhelfen. Sie hat mir sogar eine App auf meinem Handy installiert, mit der ich die Terminpläne des Fenstermanagements abstimmen kann. Da trage ich dann für die nächsten drei Wochen die Zeiten immer ein, wann jemand wegen des Fensters nachsieht und es für 4 - 5 Minuten öffnet, damit das Licht die Plagegeister im Obergeschoss trifft. Verantwortung übernehmen heißt nun mal auch Verantwortung abzugeben, dabei aber die Kontrolle zu behalten. Jetzt scheint alles bestens für die nächste Zeit eingerichtet zu sein. Fragt sich nur, ob ich das ganze auch mehr oder weniger gut überstehe, denn die komplette Reinigung im Wohnzimmer dauert immerhin ein Vierteljahr.

 

Gestern hat sich das Fenstermanagement bei mir telefonisch gemeldet. Sie hätten jetzt für meine Mitbewohner im Oberstübchen eine neue Methode, die zielgenau zu bestrahlen. Sie sprachen von der stereotaktischen Methode. Dazu werden die Plagegeister radioaktiv markiert und können dann immer nachverfolgt werden. Entsprechende bewegliche Linsen bündeln dann das Licht aus den Dachfenstern und senden es direkt auf die ungebetenen Gäste. Soll eine sehr effektive Methode sein, das stereotaktische Verfahren. Sie würden mir dringend raten, die Investition direkt zu tätigen, damit ich schnell die Gäste loswerde. Ich war von dieser technischen Lösung mit der automatischen Verdunklung und Beleuchtung des Raumes durch Rollos an den Dachfenstern direkt überzeugt und biss an. Über die App konnte ich dann auch alles steuern. Terminpläne für das Fenstermanagement gibt es zwar nicht mehr, aber jedes Vierteljahr wird die Installation überprüft und justiert. Das lässt sich besser aushalten als der tägliche Besuch eines Fenstermanagers.

Die letzte Überprüfung hat erbracht, dass ich mich zu weit aus dem Dachfenster heraus gelehnt habe. Dabei habe ich auch zu viel von der heilenden Strahlung abbekommen. Meine Kopfhaut wurde ziemlich ramponiert. Blutige Risse, die ich mit Panthenol behandelt habe und nach einer Woche erst abgeheilt waren.

 

Bald ist es so weit. Die neue Überprüfung steht an. Ein wenig gespannt bin ich schon. Paul Auster hat 18 Monate durchgehalten. Das sind laut Statistik immerhin die letzten 20 %. Bei mir könnte es dann bis Ende November werden, wenn ich genauso zäh wie er bin.

 

Momentan stören mich die ungebetenen Gäste weniger. Dies ist immer dann der Fall, wenn eine neue Justierung der Installation durchgeführt wird. Danach geht es mir miserabel. Nasenbluten und Kotzen ist angesagt. Außerdem funktioniert die Atmung nicht gut. Der Blutdruck ist bei 90 oberer Wert. Beim Aufstehen wird mir schwarz vor den Augen. Alles unangenehm, aber es geht von allein weg. Die weißen und roten Blutkörperchen müssen sich wieder neu bilden. Danach geht es mir schon fast normal. Ich bin ein schmales Hemd geworden. Anfangs wog ich ca. 104 kg. Bei meiner Körpergröße von 184 cm also ein ziemliches Übergewicht. Jetzt bringe ich ca 80 kg auf die Waage. Na, was sagen Sie jetzt, Idealgewicht.

 

Heute sind die Prüfer mit ihren Gerätschaften angekommen. Nachdem Sie alles aufgebaut hatten, haben sie meine gesamte Wohnung gescannt. Jeder kleinste Winkel wurde untersucht, ob sich nicht doch noch ein Gast versteckt hält. Die untergebenen Gäste haben sich verzogen, war ihr Urteil. Jetzt ist es amtlich. Aber wie lang sie fort sind, können sie nicht sagen. Beim letzten Mal sind sie nach drei Monaten wiedergekommen. Für mich drei Monate mehr. Das ist nicht schlecht, oder?

 

GOO, Mai 2024

 

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