Es ist kalt. Neben mir liegt Willibald. Der mit dem Bagger, sie wissen schon. Er hat sich Matratzen organisiert, vom Sperrmüll, sie wissen schon. Er schnarcht fürchterlich laut. Ich liege auf Kartons. Auch nicht schlecht. Der alte Schlafsack ist aus besseren Tagen. Über uns zieht der Stadtzug. Voll mit müden Schläfern. Voll mit der hoffnungslosen Hoffnung oder einfach voll. Sie wissen schon, die Träume, die wie Regen auf den Zug fallen. Na ja, es gibt nur noch wenig Raum in der Stadt für Willibald und mich. Zum Mieten überhaupt nichts. Sie wissen schon, es ist ein so schöner Tag. Hoffentlich wird er nicht zu Ende gehen. Ich sehe die Beduinenfeuer neben mir und die Verschläge am Ende des Bahndamms. Ein alter Wagon steht da auch noch rum. Und ich? Jesus hängt am Autobahnkreuz, sie wissen schon, und Buddha ist schon längst bankrott. So ist das eben. Wie der Vogel mit dem Ölzweig im Schnabel oder die Ölbohrtürme, die in dieser Stadt aussehnen, wie Wolkenkratzer. Ich will nicht jammern. Mir geht es gut. Ich bin weg von den Sekundärerfahrungen der Mobiltelefone, der Pflegelotionen, der Sonderaktionen, der Schokoladenwelt eingepackt in ein Watteparadies, geschützt durch interkulturelle Nachhaltigkeitsbomben mit Visionen einer totalen Television, sie wissen schon. Nein, das wissen sie nicht! Ich würde ihnen Musik empfehlen. Da singen die doch tatsächlich, dass sie ihr Leben zurück haben wollen. Ich nicht. Hier ist mein Leben. Ich habe nichts zu reklamieren und Willibald auch nicht.
Obwohl es auch in mir Grenzen des guten Geschmacks gibt, die dann erreicht sind, wenn Pseudosoulsänger ihrer Millionengefühle in den Äther pusten und immer wieder, ja immer wieder das gleiche Lied singen von so wunderschön und alles ist gut und mein Leben ist brillant und rein und ein Engel, der mich in der U-Bahn anlächelt und ich ihn, sie wissen schon, all das Gesülze und all die Lügen, die sich nur dann bezahlbar machen, wenn man sie dem ein oder anderen andrehen kann und man sogar nicht davor zurückschreckt, im Namen des Herrn unterwegs zu sein, sie wissen schon, du bist wunderschön und das soll auch noch wahr sein. So ein Mist! Mach mich wach, wenn der November zu Ende ist. Und dann lass die Glocken erklingen für den Willibald und mich und die Sterne sollen nur für uns leuchten und die Vögel sollen uns ein schönes Lied singen und die anderen Menschen sollen uns nicht stören, wir haben ihnen nichts getan, sie sollen uns einfach in Ruhe lassen, aber das geht nicht, so ist sie nicht, die Welt, Sündenböcke gibt es immer und was ist einfacher als sich einen Sündenbock zu suchen. Ach, Ruhe wünsch ich mir so sehr und der Willibald auch.
Hier ist mein Schlafsack, das ist meine Brücke und morgen bin ich wieder unterwegs Flaschensammeln. Am liebsten mag ich Prosecco. Und Sie? Dann träume ich von dem späten Abend und den Herumziehen durch die Straßen und dann die mit dem langen blonden Haar, wie sie vor mir steht, und ja, du siehst so wundervoll heute Nacht aus. Dann ziehen wir zusammen in den Club und jeder sieht sie, diese wunderschöne Frau, die mit mir tanzt und wie sie mich fragt, wie fühlst du dich heute Nacht, ja so wunderbar wie nie zuvor, du weißt das doch, wie ich dich liebe, wie ich dich liebe. Es wird eben Zeit nach Hause zu gehen. Ich gebe ihr die Wagenschlüssel und sie hilft mir noch die Treppen hoch. Und dann sage ich ihr, wenn sie das Licht ausmacht, oh du, du bist die Schönste im ganzen Land.
Freiheit ist das andere Wort dafür, nichts zu verlieren zu haben. Aber trotzdem melden sich die elementaren Bedürfnisse. Essen, Waschen, Wärme und Sicherheit. Mein Leben besteht darin, sie zu befriedigen. Flaschensammeln, bei der AWO essen oder bei den Samaritern oder bei der Bahnhofsmission. Ist direkt um die Ecke. Da kann ich prima frühstücken. Und waschen kann ich mich dort auch. Ein Glück, dass ich keinen Alkohol trinke. Sie wissen schon, da wo Grönemeyer so richtig Gas gibt. Wir haben wieder die Nacht zum Tag gemacht. Das ist mir nicht fremd. Auch ich kenne die schlaflosen Nächte mit Willibald, der sich die Kanne vollgießt am Bengalischen Feuer, wie ich unser brennendes Fass nenne. Willibald muss dann erst einmal sein vierzigprozentiges Gleichgewicht bekommen, damit er etwas ruhiger wird. Danach schnarcht er wie ein Weltmeister und ich kann lesen. Alkohol ist dein Sanitäter in der Not, wenn du mit Hasch oder Kokain voll bist, dann noch ein Gläschen und die Post geht ab. Zuviel des Guten ist zwar immer schlecht, aber wer will nicht im Exzess leben, wenn er Austern zum Frühstück hat. Willibald nicht. Der trinkt nur. Aber dafür wie ein Loch. Ich habe arge Schwierigkeiten immer seinen Suff zu besorgen. Einmal habe ich Strohrum gehabt. Das ist wie reiner Alkohol. Willibald war nach der Hälfte schon im Paradies. Aber das gibt es leider nur selten. Oft reicht es eben nur zum Wein oder zum schlechten Fusel, denn die Flaschen bringen nicht so viel ein. Aber ohne Willibald kann ich nicht sein. Er gibt mir die Sicherheit. Früher war er mal Boxer. Das kann man heute noch sehen, ich meine seine Nase. Wenn der schnarcht, kann ich lesen. Denn zu lesen haben wir mehr als genug. Massenhaft Bücher, die wir hauptsächlich verfeuern. Hier in der Stadt gibt es zwar viel Grün, aber dafür nur wenig Brennholz. Bücher gibt es hier wie Sand am Meer. Bei einer Wohnungsauflösung fallen heute tonnenweise Bücher an, die sich sehr gut als Papierbriketts für unsere Feuertonnen eignen. Die guten Bücher verbrenne ich natürlich nicht. Die lese ich. Aber was heißt für mich schon ein gutes Buch. Interessieren muss es mich. Wenn ich nach ein paar Seiten eingeschlafen bin, dann landet es am nächsten Morgen in der Tonne. Den Willibald interessiert das nicht. Der kann nur noch lallen. Manchmal lese ich ihm Geschichten vor. Er mag Märchen, aber nicht diesen Fantasiekram, ganz stinknormale Märchen. Sein Lieblingsmärchen ist das Märchen vom Bärenhäuter. Der geht mit dem Teufel einen Pakt ein. Und er gewinnt. Ich glaube, ich könnte ihm auch Faust für Kinder vorlesen. Da wär der bestimmt hin und weg, der Willibald. Der Willibald ist mein Freund.
Ich lese einfach vieles. Es kommt nicht darauf an, was für ein Genre es ist. Krimis können genauso langweilig sein wie Kochbücher und Kochbücher vielleicht genauso spannend wie Krimis. Sehen sie, die Sprache ist vieldeutig. Immer alles auf den Punkt zu bringen, genau das hasse ich. Es lässt keinen Platz mehr für meine Phantasie. Deshalb mag ich solche Geschichten nicht. Aber langatmige Landschaftsbeschreibungen mag ich. Da kann ich geistig dösen und mich von einer Landschaft in die andere beamen. Was will ich mehr. Ich war schon auf dem Mars, dem Mond und die Karibik ist mir auch nicht fremd. Manche Menschen entwickeln eine Vorstellungskraft, die der Wahrheit dann erschreckend nahe kommt. Karl May war wohl ein solch herausragender Mensch. Ich lese ihn aber nicht so gern. Lieber Jack London oder Mark Twain. Nun gut, das sind Kinderbücher, nein Kinderbücher für Erwachsene. Aber so etwas kann es nicht geben. Da bin ich eigen. Ich bin eben noch in Vielem ein Kind. Aber da sollten sie mal den B. Traven fragen, wie der die Erwachsenen beschreibt. In vielen Fällen sind das die total durchgeknallten Kinder und es gibt nur wenige, die noch so etwas wie Moral vorweisen können, was immer das auch sein mag. Zuverlässigkeit? Vielleicht!
Der Sandmann, klingt spannend. Willibald schnarcht schon. Dann kann ich loslegen. Aber was ist das. Eine Eintrittskarte für eine Literaturveranstaltung: Berliner Manuskripte – Literaturstipendiaten stellen sich vor. Und die ist sogar noch gültig. Warum immer lesen, ich kann mir auch mal etwas vorlesen lassen. Mit Lyrik hab ich es nicht so. Bin eher in dieser Hinsicht Minimalist. Die Kunst des Ausdrucks. Mit wenigen Strichen eben den Stier oder einen Menschen malen, eine hungrige Hauskatze oder einen satten Tiger. Ja das mag ich. Das Gehirn bastelt sich automatisch den Rest dazu. Für mich ist das wie ein Test: funktioniert es noch? Aber Prosa. Da kann jeder kommen und ich fahre darauf ab, wenn ich etwas entdecke im Text, was dort nicht gesagt wird, aber zwischen den Zeilen steht. Dann kann ich mir mein eigenes Buch zusammenbasteln. Und das sieht meist ganz anders aus, als das Original. Nach der Hälfte eines Buches, oder schon früher, frage ich mich immer: wie würdest du das jetzt weiterschreiben? Schön, dass dann immer andere Bücher dabei herauskommen. Ich bin nur dann enttäuscht, wenn der Autor die gleiche Idee hatte wie ich. Dann ist es für mich ein schlechtes Buch und kommt in die Tonne. So, das ist mein Lesegeheimnis, aber keinem weitersagen.
GOO, 2020