Er sitzt mir gegenüber. Die U-Bahn soll mich heute an mein Ziel bringen. Das ist inzwischen nicht mehr wichtig. Er redet, allein mit sich, er singt nicht, aber er lacht und diskutiert mit seinem imaginärem Gegenüber, mit sich selbst, mit seiner Halluzination, mit der Sitzbank, mit der Luft. Er redet und redet und fühlt sich gut dabei. Sein Kopf bewegt sich. Von links nach rechts, von rechts nach links und er bewegt seine Hände. Was er redet, kann ich nicht verstehen. Sein Gegenüber gibt sich mir nicht zu erkennen. Aber es existiert. Es existiert nur für ihn. Es ist sein ganz persönliches Gegenüber, sein ganz persönlicher Gesprächspartner. Der Tonfall ändert sich. Einmal ist es eine tiefe, sonore Stimme, eine Stimme, die eben einem Mann gehört, eine Stimme, die wir gut in unserem Chor gebrauchen könnten, eine Stimme, die aus ihm heraus kommt. Und dann die andere Stimme, die ihm antwortet. Es ist eine helle, zärtliche Frauenstimme, die ihm die Antworten in den Mund legt, die ihn Lachen lässt, die zu ihm gehört, wie die andere Stimme. Dieser Mensch könnte sich stundenlang mit sich selbst unterhalten, weil er kein Selbst hat oder aber mehr als ein Selbst. Er ist schizophren.
Als ich aussteige, sitzt er immer noch auf der leeren Bank. Wer will sich schon zu ihm setzen? Wer will schon jemanden zuhören, der nicht alle Tassen im Schrank hat. Nein, der bleibt allein. Ob er überhaupt ein Ziel hat? Will er irgendwo hin? Ich glaube nicht, dass er sich auf ein Ziel zu bewegt. Dazu ist ihm die Unterhaltung zu wichtig. Aber was wird er tun? Solange in der U-Bahn bleiben, bis man ihn raus schmeißt? Noch ein paar Stationen mit der Straßenbahn, dann bin ich an meinem Ziel. Ein paar Stationen nur noch und ich setze meine Kopfhörer auf. Höre laute Musik. Tom Waits in seinen besten Jahren. Mein Schienbein meldet sich. Es meldet sich mit Schmerzen. Es wurde empfindlich getroffen. Mir gegenüber sitzt eine Frau. Sie schaut mich grimmig an und hat mich getreten. Am liebsten würde ich ihr eine runter hauen. Am liebsten würde ich ihr zu verstehen geben, dass man so etwas nicht tut. Aber sie wird nichts verstehen. Sie sagt zu mir, als ich den Kopfhörer abgenommen habe, dass ich ein Penner sei, der sie nicht mehr verfolgen solle. Ein Penner bin ich nicht und verfolgen tue ich sie auch nicht. Also, was ist los? Auch sie hat nicht alle Tassen im Schrank. Auch sie sieht Dinge, die ein normaler Mensch eben nicht sieht. Auch sie wird stumm bleiben und ab und zu explodieren. Aber das wird verpuffen, so wie jetzt eben, so wie immer.
© GOO, 2013