Dreh dich nicht um. Ein Bauch erscheint in der halboffenen Schiebetür. Dann schiebt sich ein Kopf vorbei und die Beine tragen etliche Zentner. Der Leuchtturm neben mir fängt schon wieder an zu plappern. So so, ein Stück für behinderte Kinder will er schreiben, besser umschreiben, denn die Vorlage ist eine Fantasystory aus den Staaten. New York sollen wir uns vorstellen. Dann die Kreationisten, die genauso aussehen wie ihre Kreationen. Danach hab ich abgeschaltet. Aber von Machbarkeit, Umsetzbarkeit war noch die Rede. Und dann das Zauberwort Projekt. Die Zigarette drück er von oben herab aus. Eine bewundernde Zuhörerin hat er auch schon gefunden. Ich gehe.

Der Eingangsbereich ist hell erleuchtet. Die Tür öffnet automatisch oder atomtisch, wie ich es einst auf einem abgegriffenen Schild in einer Straßenbahn las. Den Duckknopf braucht man nicht zu betätigen. Erst nach 21.00 funktioniert das Sesam-öffne-dich mit einem elektronischen Schlüssel. Im Wintergarten sitzt eine Runde Kaninchen. Sie knabbern an ihren Möhren, als würde man allein durch fettarmes Essen gesund. Ich setze mich dazu. Welches Thema? Ach so, der neue Therapieplan. Die Unzufriedenen melden sich. Ihnen bringt das alles nichts, gibt ein Alphakaninchen zu verstehen. Die anderen stimmen zu. Ich gehe.

Ab zum Abendbrot. Der Essenssaal ist gut gefüllt. An einem langen Tisch sitzen Hühner. Die Leithenne scharrt alle um sich. Sie hat ein lautes Stimmorgan, ich kann es bis zu meinem etwa 15 m weit entfernten Tisch hören. An anderen Tischen sitzen versprengt einsame Hähne. Sie kauen ihr Brot, das der Herr ihnen gegeben hat. Da entdecke ich sie. Ja, genau die, die glaubt, die Freiheit wäre in Warenhäusern zu finden. Manche Hennen wissen gar nicht, wie abhängig sie sind. Am Ende landen sie alle in der Schlachterei und werden zu Futter verarbeitet. So wie Edda mir das gesagt hat. Sie arbeitet in einer Hühnerschlachterei. Augen fallen vom Gestänge und werden durch die Facharbeiter platt getreten, wenn sie die Hühnchenteile sortieren oder aber zu Edda kommen, weil ihnen aus Versehen ein Finger abgesägt wurde. Wie mir Edda versicherte, sind sie guter Laune und zeigen ihr fehlendes Teil. Vielleicht hoffen sie, dass es wieder angenäht wird in der Näherei um die Ecke. Aber dann lässt die Wirkung des Endorphin nach und nach dem Schock kommen die Schmerzen. So ist das eben. Manchen geht das hier genauso.

Eddas Lieblingslektüre waren Krimis. Sie hat insgesamt fünf solcher Schinken gelesen. Sie muss leichte Kost haben, sagte sie einmal, kompliziert darf es nicht sein. Deshalb liest sie die 500 bis 600 Seiten langen Bücher, die man sich auch direkt hier holen kann. Hier ist die Anstalt, falls ich das vergessen habe zu erwähnen. Besser gesagt handelt es sich um eine REHA-Klinik oder noch genauer REHA-Zentrum. Denn Klinik will man hier nicht sein. Dort werden akute Fälle behandelt. Hier beginnt die Nachsorge für Herzpatienten oder psychosomatische Erkrankungen.

Viele glauben an Sport. Ja, Sport ist nicht Mord, nein Sport ist Therapie. Egal was du hast, Sport hilft immer. Sport hält in Bewegung, Sport lenkt ab, Sport mach körperlich fit und in einem gesunden Körper kann sich erst ein gesunder Geist entfalten. So einfach ist das. Wer hätte das gedacht. Ich bin auch schon auf die Idee gekommen. Ausprobieren musst du das selbst. Dann erst kannst du sagen, ob es dir hilft oder ob es dir nicht hilft. Ich habe es ausprobiert und schon wollte ich mehr davon. Wieder Muckis haben, so wie früher. Der Bauch weg und die Bänder dehnen, damit die Beweglichkeit wieder Einzug hält in diesen meinen ausgelaugten Körper.

Hier ist alles anders. Jetzt kannst du wieder etwas entwickeln, was sich im Laufe der Zeit zu einem Knoten verfestigt hat. Aber das hat alles sein Ende. Du musst auch dein Zeitmanagement beachten. Schließlich bist du nicht für immer hier. Das Gummibärchen am Nachbartisch weiß das bestimmt noch nicht. Bei dem wird sich nicht viel ändern. Gute Ratschläge gibt es in der Gruppentherapie. Aber was lernt man daraus? Nichts, denn du bist anders. Bei dir funktioniert das nicht. Du bist noch nicht so weit. Der Bauch des Gummibärchens bläht sich auf. Daneben sitzt die Alphahenne. Bereit zum Augenaushacken. Bereit, sich das Gummibärchen einzuverleiben. Ich gehe.

Fliehe nach draußen. Will meine Ruhe haben. Allein sein und die Augen zu machen. Die Zwitschermaschinen hören, die laue Frühlingsluft tief durch die Nase einatmen und die Pflanzen riechen. Wie fühlt sich das an? Wie eine nicht erfüllte Liebe. Wie eine Sehnsucht, die sich nie erfüllen kann. Wie ein Herz, das mehrere Bypässe hat. Nicht gut! Warum? Weil ich nach der Zeit hier befürchte, dass ich mich wieder umdrehe. Der Sack ist weit geöffnet, in den ich plumpse. Und die Zeit ist reif, ihn endlich zuzumachen.

© GOO, April 2012

 

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