Beide Arme Jean Pauls lagen auf dem Küchentisch. Er saß Herbert direkt gegenüber. Zuerst floss der rote Saft langsam, als wollte die Kälte alles zu Eis erstarren. Aber nur ein Kälteschlaf konnte Herbert jetzt noch retten. „Wake me up when September ends“ dröhnte es in den Kopfhörern seines MP3-Players und Herbert stellte sich vor, wie er sich Kopf über durch seinen weit geöffneten Mund in sich hineinstürzte und endlich die lang ersehnte Reise in sein Inneres antrat. Die Fahrkarte kostete ihn keinen Cent.

Jean Paul verzog keine Miene und würdigte Herbert keines Blickes. Selbst sein Geweih war nicht wie früher: „the innocent can never last“. Früher sprühte sein Gegenüber vor Witz und Humor: „As my memory rest, I never forget what I lost“ und Herbert hatte das Gefühl, im Kaffeesatz zu lesen. Er sah sich dabei zu, wie er an der Biegung des von Erlen gesäumten Baches seiner Kindheit von einer Katastrophe in die andere trieb. Aber wenn das Haben gleich dem Sein ist, dann musste er auf der Strecke bleiben, dann ist sein Flugzeug für immer ausgebucht und der einzige verbleibende Aufenthaltsort ist der Keller, die Tür abgeschlossen, der Schlüssel weggeworfen.

„Mein lieber Jean Paul“ fing Herbert seinen Brief adressiert an sein Gegenüber an. „Wir sind schon so lange zusammen. Ich bin tief enttäuscht, dir diese erbärmlichen Verhältnisse bieten zu müssen, die du ganz bestimmt nicht verdienst hast. „Here comes the rain again, falling from the stars, drenched in my pain again, becoming who we are“.

Du bist ein unschuldiges Wesen, das mir zufällig über den Weg gelaufen ist. Ich fand es nur lustig mit einem übergroßen Elch als Stofftier, der auf dem Beifahrersitz immer einen der besten Plätze im Auto fand, durch die Lande zu fahren. Wie schön war damals dein Geweih und wie fröhlich und lustig warst du mit deiner großen Schnauze.

Wir sind beide durch dick und dünn gegangen und haben uns niemals gegenseitige Vorwürfe gemacht, wenn einmal etwas nicht so gelaufen ist, wie wir es erwarteten. Im Gegenteil für uns beide gab es immer eine weitere Chance. Doch was ist uns heute geblieben?

Wir wohnen auf dem Trümmergrundstück hinterm Bahndamm. Dort hält schon längst kein Zug mehr. An Wegkommen ist gar nicht zu denken. Stück für Stück hat man uns immer mehr abgenommen. Anfangs in kleinen danach in immer größer werdenden Portionen. Letztendlich haben sie uns mit dieser bewährten Salamitaktik die Würze unseres Lebens geklaut. Kontrolliert und beobachtet, klein gehalten, ausgelacht und denunziert haben sie uns zurück gelassen. Was können wir noch tun, außer in diesen Kälteschlaf zu versinken, um - vielleicht wie im Lied - nach sieben Jahren wieder in der Hoffnung aufzuwachen, eine bessere Welt vorzufinden. Vergib mir! Ich bin am Ende. „wake me up when September ends“ Dein Herbert.“

Herbert legte den Stift beiseite und schloss die Augen. Seine Geschichte war verblutet. Er dachte an den süßlichen Geruch kurz vor dem Tod, der das Sterbezimmer ausfüllt. Vielleicht war es die Seele, die sich in das geistige Reich verflüchtigt, um dem Tod Platz zu machen? Aber was blieb als Bodensatz übrig? War es die Schuld, wie in dem Film Flatliners? Aber dann hatte er keine Chance mehr, sich zu entschuldigen. Gibt es dieses verdammte jüngste Gericht etwa doch? Was ist dann diese beschissene menschliche Existenz Wert? Nur der Spielstein eines Spiels, der sich selbst nicht mehr bewegen kann, aber glaubt, unsterblich zu sein. Und so versank er in den Kälteschlaf, den er sich so sehnlichst gewünscht hatte, mit all seinen Zweifeln, die ihn zur Verzweiflung trieben. Sein MP3-Player gab irgendwann einmal den Geist auf. Es war niemand da, der ihn ans Ladegerät hätte anschließen können.

Der Gestank in der Wohnung fiel einem Nachbarn auf, als er eines Tages an Herberts Wohnungstür vorbei kam. Er rief sofort die Polizei. Die brach die Wohnung auf und meldete den Vorgang dem Vermieter. Die Polizei fand noch eine handschriftliche Mitteilung auf dem Küchentisch mit folgendem Inhalt: „An die Familie ... Sind wir denn nicht in einem ewigen Gewaltzustand? Weil wir im Kerker geboren und großgezogen sind, merken wir nicht mehr, dass wir im Loch stecken mit angeschmiedeten Händen und Füßen und einem Knebel im Munde. Ein Gesetz, das die große Masse der Staatsbürger zum fronenden Vieh macht, um die unnatürlichen Bedürfnisse einer unbedeutenden und verdorbenen Minderzahl zu befriedigen...1“. Das andere wurde behördlich geregelt. Was mit dem Stofftier geschah, ist nicht bekannt.

© goo, März 2009

1Brief Georg Büchners an die Familie, Straßburg 5. April 1833 in Georg Büchner, Ludwig Weidig; Der Hessische Landbote; Texte, Briefe, Prozessakten kommentiert von Hans Magnus Enzensberger, Insel Verlag 1965

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