Die, von denen dies handelt, gibt es im Grunde gar nicht. Sie tauchen in keiner Statistik auf. Weder die Bundesanstalt für Arbeit kennt ihre Namen noch das örtliche Sozialamt. Ihre Nachbarn heißen Ich und Du, und du kennst sie wohl genauso wenig wie ich.
Sie selbst scheinen längst vergessen zu haben, dass sie je einen Namen trugen. Selbst die Polizeibehörden entbehren in ihren Dateien jeden Hinweises auf die Existenz dieser Existenzen – und das will schon etwas heißen. Lebten sie hier und nicht dort, fielen sie dir auf.
Gewiss fielen sie dir auf:
Da ist der mit dem langen, grauen, bereits reichlich ausgedünnten Bart, hinter dem er sein fahles, bereits runzliges Gesicht zu verbergen sucht.
Oder der, der mit lorbeergekrönten Cäsarenhaupt und Tischtuch-Toga majestätisch durch die Menge schreitet und ständig auf der Suche scheint nach irgendwem oder irgendwas.
Schließlich der, der wieselflink zwischen Stelzenbeinen hindurch huscht, sich hin und wieder im Gedränge sehnsüchtig an eng beieinander stehende Körper schmiegt, ohne bemerkt zu werden. Wirklich, er fällt genauso wenig auf wie die anderen – wie viele sie auch sein mögen.
Ich bin nicht einmal sicher, ob sie sich untereinander kennen. Mag sein, dass jeder von ihnen den Glauben an seine Einzigartigkeit bewahrt hat.
Haben sie Hunger, so ist es für sie ein Einfaches, diesen zu stillen an den Trögen, die hinter den Kantinentrakten von Großbetrieben bereitstehen für irgendeinen unbekannten Zweck. Oder aber sie verzehren die Brot- und Kuchenreste, die diejenigen, die dafür bezahlt haben, zurückgelassen haben auf den Tischchen, die vor Schnellrestaurants aufgestellt sind. Keiner nimmt davon weiter Notiz – und, bemerkte es je einer, es kümmerte ihn gewiss nicht weiter.
Den anderen, zuweilen größeren Hunger aber befriedigen sie ab und zu in der Dämmerung, wenn die Fußgängerzonen sich geleert haben, indem sie sich unauffällig entlangdrücken und auch verweilen vor jenen Schaufenstern, von denen Mütter ihre aufgeweckten Kinder ärgerlich fortzerren, und sie sehen sich so lange satt, bis ein verschämt um sich schauender Familienvater, ein selbstbewusster, gelockter und goldkettchenbehängter junger Herr sie rüde vom Platz drängt oder eine hochhackige, neonglitzernde Dame ihnen den Standpunkt keifend streitig macht.
Oder, und dies geschieht dann meist in der Winterzeit, sie wärmen sich auf in öffentlichen, gut geheizten Bibliotheken. Zuvor tasten sie dabei nach dem Passierschein, den ein jeder von ihnen vorsorglich bei sich trägt und den sie Tag für Tag mit einem beliebigen Zielvermerk selbst versehen. Hier sitzen sie dann auf ioneskischen Stühlen, lassen Gedichte von Trakl und Rilke in sich gleiten, führen heiße Streitgespräche mit Hölderlin und Freud, schlafen ab und zu mit Madame Pompadour oder der Marquise von O. Dabei fürchten sie keinen mehr als Godot oder dass einer, irgendein anderer, dahinter kommen könnte, irgendwann, aus welchem Grunde die Bücher so nach und nach an Inhalt verlieren. Zur Nachtruhe betten sie sich in verwaiste, unbelegte Kleiderspinde, lassen sich umschließen von gutmütigen Wachleuten.
Fast bin ich dessen sicher, dass sie dann ab und zu sogar, jeder für sich, träumen von längst vergangenen Zeiten.
Von Zeiten, als sie noch dazugehörten.
Von Zeiten, als sie noch wer waren:
Mehrstellige Personalnummern zum Beispiel.
Nummern wie du und ich.
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©bio
Veröffentlicht in: Das Taubstummenhaus. Schweinfurt 2004