In Schachteln und Kästchen fanden sich einige farbige Knöpfe und Litzen, so dass wir alsbald eine stattliche und auch ansehnliche Kollektion dieser Armen-Bekleidung (der wir in einem spontanen Einfall den Namen „Sazzarin“ gaben) in einer Ecke unserer Wohnküche, genau: in der so segensreichen Berliner Kammer, stapeln konnten.
In der Not rückt der anständige Berliner mit der anständigen Berlinerin zusammen, also verkündeten wir unsere Frohe Botschaft in der näheren Nachbarschaft. Einige Nachbarn, auch deren Freunde, fanden sich in den folgenden Tagen zuhauf in unserer kärglich erwärmten Wohnstube ein, bestaunten unser Werk, betasteten, wie mir im Nachhinein scheint, mit besonderem Interesse die mit von der Näherei übrig gebliebenen Stoffresten abgedichteten Fenster- und Türritzen und teilten sich mit uns den vorletzten Teebeutel aus unserer bereits stark reduzierten Vorratshaltung. Manch eine und manch einer tauschte Naturalien, sprich Ess- oder Trinkbares gegen einen unserer immer begehrter werdenden Überzieher ein. Auf diese Weise konnten wir zum Weihnachtsfest ein fast üppig zum nennendes Mahl genießen, das ein wenig an frühere, weniger karge Zeiten, erinnerte.
Im Nachhinein lässt sich nicht mehr herausfinden (um einer guten Nachbarschaft willen stellen wir auch keine Nachforschungen an), wer die Kunde von unserer wunderbaren Näherei durch die Stadt getragen hat. Fakt ist, dass wir am zweiten Werktag zwischen den Jahren einen Brief von der Senatsverwaltung für Finanzen in unserem Briefkasten vorfanden. Genau gesagt, als Absender fungierte das Sekretariat des Senators höchstselbst. Ich mache es kurz, denn es schmerzt, davon zu berichten: Es sei Kunde von unserer illegal betriebenen Bekleidungsmanufaktur in die Kanzlei gelangt. Von einer (nach Überprüfung unserer persönlichen Situation in unserem Falle sicherlich in Betracht zu ziehenden) Meldung an die Leistungsabteilung des zuständigen JobCenters wolle der Herr Senator jedoch absehen, schließlich sei er kein Unmensch, schon gar nicht zur Weihnachtszeit. Diese außergewöhnliche Milde würde uns, dies lasen wir zwischen den Zeilen, unter der einen Voraussetzung gewährt, wir beteiligten die klamme Senatskasse mit siebzig Prozent der Einnahmen aus unserer Produktion.
Im Übrigen fühle er, der Herr Senator, sich höchstpersönlich von der Namensgebung der von uns vertriebenen Filz-Überzieher geschmeichelt, es sei eine “pfiffige“ Idee, deren er sich mehr wünschte aus den Reihen seiner indirekten Untertanen. Unterzeichnet war das Schreiben (ich bewahre es, in feinstes Küchenpapier verpackt, in meiner Wäscheschublade auf) mit einem „nach Diktat vereist“ neben der typographierten hoheitlichen Unterschrift.
Zu diesem Zeitpunkt war uns bereits das Arbeitsmaterial ausgegangen und auch die alte „Veritas“-Nähmaschine hatte ihren Geist aufgegeben, so dass wir uns nunmehr nicht mehr in der Lage sahen, die so gut angelaufene Produktion unserer Filzüberzieher fortzuführen. Leider konnten wir dem Herrn Senator von diesem Umstand keine Mitteilung machen. Er befinde sich zurzeit im Winterurlaub, erfuhren wir zunächst über Umwege. Eine weitere Quelle besagte, er mache aktuell seinen alljährlichen Fastenurlaub an der Ostsee. Wir stellten uns vor, wie er bei Salzstangen und Eistee neue Vorschläge zur Gesundung der ärmeren Bevölkerung Berlins ausknobelte und fühlten uns mit ihm in Gedanken solidarischer denn je verbunden.
Das Letzte, was wir über ihn hörten beziehungsweise lasen, war die Nachricht vom alljährlichen Sylvester-Eisbaden in Zinnowitz auf Usedom, bei dem er von einem findigen Reporter unter einem guten Dutzend Nackter, die aus ganz Deutschland zu diesem Ereignis angereist waren, ausfindig gemacht worden war. Seither ist er, dies ist das Ergebnis unserer aktuellen Nachforschungen, nicht wieder aufgetaucht.
©bio. jan.09
Veröffentlicht in «Geld», konkursbuch 53, Hrsg. Sigrun Casper (Hrsg.); Tübingen 2017 (ISBN 978-3887692537)