Der nächste Tag beginnt wie erwartet. Trotz der abendlichen Pflege mit Muskelentspannungs-Salbe melden sich die kleinen „Haarrisse“ in den Muskeln, die meiner wunderbaren, sehr klugen und weisen Frau gemäß die Schmerzen verursachen, die allgemein als Muskelkater bezeichnet werden. Da muss das Wetter herhalten, das an diesem Tag keinen Sonnenschein pur sondern eher Regen mit Gewitter verspricht, schenkt man den Wetterfröschen im Radio Glauben. Die Freiheit des Menschen besteht darin, für sich selbst jegliche Legitimationsgrundlage zu schaffen, und so folge ich diesem Grundsatz folgendermaßen: „Heute wird es wohl nichts mit der Wanderung zur Mühle in Kuchelmiß werden! Schau mal, das Wetter!“
Die Frau, wunderschön, sehr klug, weise und auch außerordentlich verständnisvoll, kann diesen Worten nur zustimmen. Aber regnen will es dann doch nicht, und gegen Mittag meldet sich die innere Stimme wieder zu Wort, die mit blumigen Worten all das ausmalt, was man heute verpassen könnte, wenn, ... ja, wenn da nicht ein Fahrrad wäre.
Wir sind privat untergebracht. Unsere Vermieterin ist nicht nur sehr freundlich – sie bringt uns jeden zweiten Tag selbst gebackenen Kuchen: Bienenstich, Pflaumenkuchen, Mohn- und Apfelkuchen – sondern ebenfalls sehr hilfsbereit: „Ja, dann nehmen Sie doch mein Fahrrad. Ist zwar ein Damenrad, aber das stört Sie ja wohl nicht!“. Damit hat sie allerdings Recht, weil ich mich inzwischen, rein körpermassenmäßig betrachtet, zur Damenradgeneration zähle, die die Bequemlichkeit dem Stolz vorzieht – jedenfalls in praktischen Angelegenheiten. Und so komme ich dann doch noch zu meiner Mühle. Zu Fuß wären das für mich gute acht Stunden mit Pause gewesen, denn es handelt sich bei dieser Tour um ca. 30 km, was natürlich eine Steigerung bedeutet hätte. Aber ich habe schon eine neue Version für mich entdeckt: Es geht nicht mehr um die Goldene Wandernadel, sondern um nicht weniger als Vielfalt. Der Krakower See: zu Fuß, zu Rad und zu guter Letzt zu Wasser, mit dem Boot, erobert. Zu Luft – diese Version bietet sich hier noch nicht an, weil es zum Glück keine Luftfahrtmöglichkeiten vorhanden sind, und ich hoffe, dass diese auch nicht kommen werden. Denn was ist schlimmer als das Knattern eines potenzierten Leichtfliegers: Ja, den erwähnten Eurofighter meine ich natürlich.
Das neue Konzept gefällt mir, und so mache ich mich dann doch auf den Weg. Meine Frau winkt mir noch ein „Auf Wiedersehen“ zu. Tja, schöner Gedanke, der Mann zieht von dannen und die Frau bleibt zu Hause und wartet auf die Rückkehr des Geliebten. Aber wie Sie schon wissen, bei meiner Frau ist mit solchen Gesten nicht zu rechnen. Also bin ich weg – und meine Frau kurz danach auch, kaum war ich um die Ecke verschwunden. Wie sich später herausstellt, hat sie den Wasserweg genommen. – Ich hingegen wundere mich zur selben Zeit über die Geschwindigkeit, die das Damenrad mit meinen Füßen in den Pedalen zuzulegen imstande ist. Die Tour um den See geht diesmal gegen den Uhrzeigersinn, und ich mache erst Halt, als ich am Wadehäng ein Wegeschild erkenne, das mich auf den Namen des Chronisten Krakows aufmerksam macht: „Vierowweg: Werner Vierow, geb. 2.7.1900 in Krakow am See.“
Ich muss mich in meinem Berufsleben ab und zu mit Wahrscheinlichkeitsrechnung beschäftigen und Sie glauben nicht, wie wahrscheinlich es ist, dass in einer Gruppe von 30 Personen zwei am selben Tag Geburtstag haben. Aber wie wahrscheinlich ist es, dass auf Hinweisschildern derselbe Geburtstag steht, an dem man selbst das Licht der Welt erblickte?
Werner Vierow hat sich einst beim Rat der Stadt als Leiter der Abteilung Erholungswesen um die Entwicklung Krakows zum Kurort verdient gemacht und war zudem ehrenamtlicher Ortschronist. Was würde er zum heutigen Krakow sagen, entwickelt es sich in die von ihm gewünschte bzw. geplante Richtung, oder droht es zu einem kommerziellen Kurort zu kippen? Vielleicht hat Herr Vierow seinen Nachfolgern kluge Ratschläge hinterlassen, die diese auch befolgen, um die Eigenart dieses teuflisch schönen Örtchens am See zu erhalten.
Wie dem auch immer sei, am Ende zählt vielleicht nur der schnöde Mammon und gewinnt auch diese Runde. Aber diese Vorstellung sei vorerst dem Pessimisten überlassen, der bei diesem Wetter mit Sicherheit auch nicht mit dem Fahrrad unterwegs sein würde. Ab und zu spüre ich ein paar Tropfen, aber das Rad nimmt Fahrt auf und ich probiere schon den zweiten Gang aus. Im Geschwindigkeitsrausch oder, wie ich es auf der Heckscheibe eines Autos im Ort gesehen habe, in dem ein augenscheinlicher Führerscheinneuling am Lenker saß: mit „Speed Greed“ bewege ich mich durch die Landschaft und habe schon den Eindruck, dass ich die Umrundung locker in zwei Stunden schaffen könnte. Aber der erste Eindruck täuscht, wie es so oft im Leben ist, doch immer wieder man fällt man darauf herein.
Die ersten Steigungen sind sanft, auch für das ungeübte Schwergewicht nichts, was auch nur den Hauch einer Herausforderung darstellen könnte. Doch sobald man den See verlässt und sich über Land begibt, wird schnell klar, dass dies hier eine hügelige Landschaft ist, die einem Rudi Altig sicherlich zu flach wäre, um nur den Gedanken zu erwägen, auf solch einer Strecke trainieren zu wollen. Allerdings findet hier in Krakow alljährlich ein Lauf statt, der von allen wichtigen Geldgebern der Stadt unterstützt wird, und da sollte man sich vielleicht vorher informieren, welche Strecke gelaufen werden soll.
Für mich ist schnell klar, dass das Ganze wie bei Till Eulenspiegel enden musste: Dieser freute sich stets, sobald es bergauf ging, weil er dann wusste, dass es bald wieder bergab gehen musste. So ergeht es mir dann auch, wenn ich auf dem Rad im dritten Gang bergab beschleunige, bis mir die Eulenspiegelei klar wird und ich die Räder dann nur noch rollen lasse.
Freuen Sie sich also, wenn sie ein untrainierter Tourist sind und schließlich dennoch die Mühle in Kuchelmiß erreicht haben. Sie werden durch das romantische Nebeltal entschädigt, und wenn die Saison dann richtig los geht, hat auch die Gaststätte auf und Sie können sogar ein Mühlenmuseum besuchen. Ich durfte dafür auf meinem Bänkchen zusehen, wie die Schlaglöcher auf dem Sandweg um die Mühle herum für die kommenden Touristen ausgebessert wurden.
Verweilen Sie etwas länger an der Mühle und schauen sie sich die Nebel etwas genauer an, denn die Rückfahrt wird schlimmer als Sie es sich vielleicht vorstelle können. Die sanften Erhebungen sind im ersten Gang kaum zu bewältigende Steigungen. Der Blick in die Ferne ist so etwas von deprimierend, dass sie direkt absteigen und schieben möchten. Schauen Sie auf Ihre Beine, auf die sehr langsamen, etwas ruckartigen, kreisenden Bewegungen Ihrer Knie – das ist besser, als das Ziel in der Ferne zu erblicken. Belohnt werden Ihre Anstrengungen durch ein Glücksgefühl und eine Schussfahrt, wenn Sie bis zum Krakower Campingplatz durchgehalten haben. Danach bleibt alles flach und Sie können gemütlich den Weg zurück ins Städtchen radschlendern.
© goo, April 2009