Inhalt

Kapitel 1: Böse Wichte

Kapitel 2: Drei Dinge

Kapitel 3: Der Malipali

Kapitel 4: Im Paradies

Kapitel 5: Der Spatz

Kapitel 6: Jonas kann fliegen

Kapitel 7: Das Tor

Kapitel 8: Happy End

Kapitel 1: Böse Wichte

Leise rieselt der Schnee. Über den Berg muss Jonas, sein Ziel erreichen: die Stadt der Kinder. Er mobilisiert seine letzten Kräfte. Die Sonne blendet ihn und brennt auf seiner Haut. Immer weiter stapft er durch den tiefen Schnee. Jeder Schritt kostet ihn viel Kraft. Sein Blick ist nach vorn gerichtet. Sein Atem hinterlässt Wolken in der kristallklaren Luft. Wie die Fans im Fußballstadion, die ihre Mannschaft laut anfeuern, macht er sich Mut. Die Anhöhe noch und dann den Weg ins Tal. Dort soll die Stadt der Kinder sein. Aus dem Weiß heraus blickt er in das Blau des wolkenlosen Himmels. Seine Kappe zieht er noch fester ins Gesicht. Er ist mutterseelenallein. Keine Hilfe, kein Platz zum Ausruhen. Trotz seiner hoffnungslosen Lage steuert er dennoch direkt auf ein schwarzes Loch zu. Endlich kann er es erkennen. Es ist der Eingang zu einer Höhle.

Drei Ellen ist der Wicht groß und lebt in den Bergen. Sein langer Bart reicht bis zum Boden und sein knorriges Gesicht krönt ein spitzer Hut. Er hat die Gestalt eines alten Mannes und ist wie die Bergleute bekleidet. Seinen Schabernack treibt er mit allen, die an seiner Höhle vorbeikommen. Er bewirft sie mit Steinen und bedenkt die Wanderer mit Spott und Flüchen.

«Spare in der Zeit, dann hast du in der Not», krächzt er aus seiner Höhle und wirft einen Stein nach Jonas, als der in der Nähe des Eingangs auftaucht. Jonas schaut den Berg hoch. Die Lawine, die gerade im selben Moment den Berghang herunterdonnert, hätte sein Ende sein können. Jonas nahm all seine Kräfte zusammen und konnte sich gerade eben noch in die Höhle retten. Dem Schrecken entkommen und vollkommen außer Atem, sieht er in die tiefen schwarzen Augen des Männchens. Jonas schnappt nach Luft und fängt an zu lachen.

«Hau ab, das ist meine Behausung, oder zahle drei Wichtling, weil ich dir Schutz gewähre. Aber danach haust du ab. Hier hast du nichts verloren!», giftet der Zwerg Jonas an. Der wischt sich gerade die letzten Schneereste aus seinem Gesicht und weiß gar nicht, was er sagen soll. «Ich will hier nicht bleiben. Ich will über den Berg in die Stadt der Kinder.», stammelt er noch vollkommen erschöpft und heilfroh, der Lawine entkommen zu sein. Doch das Männlein ist herzlos. Es hasst die Menschen und ganz besonders diejenigen, die sich im Umkreis seiner Höhle aufhalten. Es poltert los: «Nur dumme Menschen gehen dorthin. Genauso doof wie blöd ist der, der in der Stadt wöhd! Hahaha, Ha, Hahahahaha! In der Stadt wöhd!».

Jonas macht keine weiteren Anstalten, darauf zu antworten. Es ist ihm egal. Er ist viel größer und stärker als der Wicht. Hunde, die bellen, beißen nicht, hat sein Vater ihm einmal gesagt, um ihn zu trösten. Damals musste er sich von seinem Fußballtrainer eine Standpauke anhören, weil er zu spät zum Training gekommen war. Dabei war es doch gar nicht seine Schuld gewesen. Die Busfahrer hatten gestreikt und so bekam er seine Busverbindung zum Stadion nicht rechtzeitig.

Der Wicht, der sich gerade vor Jonas aufplustert wie ein Pfau, ist viel zu albern, als dass er ihn ernst nehmen kann. Aber was soll er tun? Die Lawine donnert immer noch ins Tal und der aufstiebende Schnee versperrt den Eingang zur Höhle. «Du kannst mich doch jetzt nicht aus der Höhle werfen!», fleht er den Zwerg an. «Siehst du nicht, dass draußen gerade eine Lawine herunterkommt?», fügt er noch hinzu. Aber anscheinend sind die beiden nicht allein in der Höhle. Wie aus dem Nichts sieht sich Jonas umringt von vier weiteren Zwergen, die ihn mit dummen Sprüchen verhöhnen. «In die Stadt der Kinder kommen nur die Rinder!», grölen alle im Chor und zeigen mit ihren kohlrabenschwarzen Händen auf Jonas.

«Allein leben wir in dieser Höhle. So soll es sein. Kein Mensch soll hier bleiben. Ist die Gefahr vorbei, dann schmeißen wir dich raus? Gehe fort aus unserm Haus!», ruft einer der Wichte, die nun alle im Kreis um Jonas herumstehen. Eins ist klar, dachte Jonas, diese Zwerge mögen Menschen nicht. Aber sie tun Menschen auch nichts an, sonst hätten sie ihn schon längst aus der Höhle geworfen oder ihn verprügelt. Vielleicht wissen die mehr über die Stadt der Kinder als sie zugeben. Das musste er herausfinden!

«Wer seid ihr?», fragt Jonas die Zwerge. Die antworten alle gleichzeitig: «Wir sind die Wichte der Berge und leben wie die Zwerge in den Stollen ganz tief, hauen den Stein schnief, schnief!». «Trief, trief!», lacht Jonas sie an und die Männchen werden still. Dann laufen alle nach vorn, wie von Geisterhand geführt, um den Eingang zur Höhle freizumachen. Jonas traut seinen Augen nicht, mit welcher Schnelligkeit sie ans Werk gehen und im Nu kann er das Blau des Himmels wieder sehen. Da wendet sich einer der Zwerge Jonas zu und flüstert ihm ins Ohr: «Vergiss nicht das goldene Haar des Schweigens mitzunehmen, wenn du in die Stadt gehst. Es wird dich vor dem Fluch schützen. Denn dort sind alle verflucht. Denke an meine Worte!» und schon ist er im Stollen verschwunden. Zusammen mit den anderen Wichten lässt er Jonas allein in der Höhle zurück.

Jonas ist verwirrt. Das goldene Haar des Schweigens, was soll das sein? Er überlegt und schaut aus der Höhle als er einen Wolf am Eingang sieht, der ihm tief in die Augen guckt. Jonas macht ohne nachzudenken eine Abwehrbewegung zur Seite hin und kauert sich auf den Boden der Höhle. Wölfe sind gefährlich, wenn sie allein sind. Das hatte er einmal irgendwo gelesen. Und nun hat er große Angst, der Wolf könnte ihn fressen.

Als nichts geschieht, wagt Jonas erneut einen Blick zum Eingang der Höhle. Er sieht auf ein weißes Etwas, über das sich ein Grau des Himmels aufgetürmt hat. Das Wetter ist schlagartig schlechter geworden und der Wolf ist genauso schnell verschwunden, wie er gekommen war. Jonas atmet auf und bemerkt nicht, wie hinter seinem Rücken erneut eines der Männlein auftaucht. «Das Haar des Schweigens reicht nicht aus. Die blaue Brille des Blinden musst du dir borgen, damit du zum Stein der Sorgen, mitten in der Stadt, kommst. Doch nur wenn der Mond um Mitternacht weint, siehst du den Stein.», spricht ein Zwerg ihn an, der ebenfalls gleich wieder im Stollen verschwindet.

Jonas versteht nichts mehr. Zuerst wollen die Zwerge ihn aus der Höhle herausschmeißen und jetzt kommen sie mit lauter guten Ratschlägen, mit denen er absolut nichts anfangen kann. Was soll das Haar des Schweigens bedeuten und wo findet man es, geht es durch seinen Kopf. Und was bitteschön ist ein weinender Mond! Den hat er noch nie gesehen. Der Mond kann wunderschön scheinen, das hat er zusammen mit Vater erlebt, als sie damals ihre Spaziergänge durch die Nacht machten. Dann hat Vater ihm die Sternbilder und die Namen der vielen Sonnen erklärt, die man am Nachthimmel besonders gut als helle Lichtpunkte sehen kann. Ein kleines Teleskop hatte er damals Jonas zum Geburtstag geschenkt. Damit konnte er sogar die Krater auf dem Mond sehen. Aber jetzt sind die Wichte schon wieder verschwunden und er kann sie nicht danach fragen.

Es ist still in der Höhle und Jonas setzt sich auf den kalten Felsboden. Ein Feuer wäre jetzt genau das richtige, denkt er. Aber er hat kein Holz und auch keine Streichhölzer.

Da sieht er an der Wand der Höhle seltsame Zeichnungen. Ob sie von den Zwergen stammen? Aber die sind viel zu klein, um so hochzukommen. Ein bunter Regenbogen ist zu sehen und merkwürdige Fabelwesen. Drachen, die Feuer in verschiedenen Farben speien und Pferde mit Menschenköpfen. All das hat Jonas schon in Märchen- und Sagenbüchern gesehen. Aber dieses Zeichen hat er noch nie gesehen. Einen Kreis in dem ein Quadrat, in dem ein Dreieck, in dem ein Strich neben dem ein Punkt ist. Was soll es bedeuten und wer hat es an die Wand gemalt?

Jonas denkt wieder an seinen Vater. Der hat ihm immer abends vor dem zu Bett gehen aus dem „Buch der Wunder“ vorgelesen. Viele bunte Bilder gibt es in diesem Buch. Dort ist auch von einer Höhle die Rede, die in Frankreich gelegen ist. Dort haben Menschen vor sehr langer Zeit Bilder gemalt. Aber auch von Städten, die es schon lange nicht mehr gibt, wird in dem Buch berichtet, und von riesigen Türmen, die die Menschen einst gebaut haben und die viel schöner waren als die heutigen Wolkenkratzer. Besonders schön war Babylon. In dem Buch befand sich ebenfalls eine CD für den Computer. Mit dieser CD konnte man in Babylon spazieren gehen als hätte man dort gelebt. Wie gern wäre Jonas in dieser Stadt zur Schule gegangen. Und als sein Papa mit ihm einmal ins Pergamonmuseum ging, da war er ganz aus dem Häuschen als er das blaue Ischtar-Tor von Babylon vor sich sah mit den Drachen, Stieren und Löwen. Er wollte auf einen Schlag Archäologe werden. Schon am gleichen Tag ging er in die Stadtbibliothek, um sich Bücher über Archäologie auszuleihen. Er konnte sich sogar noch genau erinnern, als er das lila Buch vor sich sah. «Die Stadt der Kinder» von Jomami Jopampo, und er nahm es sofort mit nach Hause, um alles über diese untergegangene Stadt zu erfahren.

Ein Lachen dröhnt aus dem dunklen Gang und Jonas hört, wie die Wichte sich untereinander streiten. Doch um was es geht, kann er nicht heraushören. Das Echo vermischt die einzelnen Stimmen derart, dass nur ein einziges Stimmenwirrwarr übrigbleibt. Was soll ein Blinder schon mit einer blauen Brille anfangen, denkt Jonas. Schließlich kommt zum Schluss, dass er hier am falschen Ort ist. «Vergiss die Schuhe des Gelähmten nicht, sonst fressen dich die Raben, die bösen Wölfe werden sich laben an deinem Blut, die ganze Brut!», hört er die Wichte grölen, die jetzt gerade den Eingang der Höhle versperren.

«Was meint ihr damit? Wo soll ich das goldene Haar des Schweigens, die blaue Brille des Blinden und die Schuhe des Gelähmten denn finden? Wo soll ich suchen? So sagt doch!», stößt Jonas in seiner Verzweiflung hervor, als ginge es um sein Leben. Doch die Wichte lachen nur und grölrn weiter: «Willst du in die Stadt der Kinder, höre, was der Jamu spricht. Lös das Rätsel und sei kein Wicht.», und so treiben sie ihren Schabernack mit Jonas und sind sichtlich vergnügt dabei.

«Ein Zauberer hat zehn Zauberschatullen. In keiner von zwei Schatullen befinden sich gleich viele Zauberkugeln und der Zauberer hat immer mehr Schatullen als Kugeln in jeder Schatulle sind. Wie viele Zauberkugeln sind in jeder der zehn Schatullen? So sprich du Riese, sonst holt dich gleich der Rübling!», singen sie weiter im Chor. Dabei fliegen die fünf Wichte im Kreis über Jonas' Kopf und sprechen geheimnisvoll: «Alles zu seiner Zeit. Halte dich bereit! Bist du erst in der Stadt, wirst du schon sehen. Doch erst wollen wir die Lösung des Rätsels bevor wir gehen!».

Jonas überlegt und dabei sieht er immer so aus, als würde er ein Ei ausbrüten. Sein Gesicht wird rot, die Anspannung ist ihm anzusehen. In der Schule hatten sie schon über Zahlen gesprochen, die kein Ende haben. Jonas konnte sich das nur so vorstellen, als würden alle Zahlen im Kreis aufgereiht sein. Aber die Lehrerin sprach immer von einer geraden Linie, auf der all diese Zahlen liegen würden. Wie nannte sie diese Zahlen? Jonas fiel es ganz plötzlich wieder ein: natürliche Zahlen und mit denen kann man immer weiter zählen, sein ganzes Leben lang und niemals ist ein Ende in Sicht. Merkwürdig denkt Jonas. Bei dem Rätsel ist es genauso. Legt er in Gedanken nur eine Zauberkugel in eine Schatulle, dann braucht er direkt eine weitere Schatulle mit zwei Zauberkugeln. Hat er aber beide Schatullen, so braucht er wiederum eine dritte mit drei Zauberkugeln und hier ist kein Ende in Sicht. Genauso wie mit den natürlichen Zahlen. Immer wieder brauchte man eine neue Schatulle mit einer Kugel mehr als in der letzten. Das Rätsel hat gar keine Lösung.

Doch dann fällt Jonas ein, dass es eine ganz besondere Zahl gibt, die eigentlich keine Zahl ist, weil sie nichts bedeutet. Doch für Jonas ist es nicht schwierig, sich diese Zahl vorzustellen. Oft hat er keinen einzigen Cent in seiner Tasche, um sich am Schulkiosk einen Schokoriegel zu kaufen, so wie die anderen Kinder. Mutter sagte zwar immer, dass Süßigkeiten nur schlecht seien für die Zähne und sie einmal mit der Schulleitung sprechen müsste. Doch das konnte Jonas nicht so recht überzeugen. Die anderen Kinder machten immer ein zufriedenes Gesicht, wenn sie die Süßigkeiten aßen und niemals wurden die Süßigkeiten weggeworfen, so wie es mit manchen Schulbroten passierte. Ab und zu bekam Jonas auch einmal etwas Süßes unter die Nase gehalten. Nur angucken nicht reinbeißen, hieß es dann, und Jonas hatte das Nachsehen.

Ja, dafür, dass man nichts hat, dafür gibt es schließlich auch eine Zahl. Die Zahl des Habenichts'. So nannte Jonas die Zahl. Aber offiziell heißt die Zahl Null. In der ersten Schatulle war also gar keine Zauberkugel drin. In der zweiten war eine drin und so weiter. Die letzte Schatulle aber hatte nur neun Zauberkugeln. Und so ergab alles einen Sinn. In keiner von zwei Schatullen sind gleich viele Zauberkugeln und der Zauberer hat immer mehr Schatullen als Zauberkugeln in jeder Schatulle sind. Das ist die Lösung! Als Jonas den Wichten davon erzählt, schreien die: «Du trägst die Schuld an unserm Leiden. Drum werden wir dich jetzt vertreiben!». Damit hatte Jonas nicht gerechnet. Eigentlich glaubte er, für die Lösung des Rätsels belohnt zu werden. Er glaubte, die Zwerge würden ihm einen Tipp geben, wie er in die Stadt der Kinder kommt. Aber die Zwerge hacken wie Krähen auf Jonas herum. «Au, das tut weh!» klagt Jonas, und so schnell er kann flieht aus der Höhle und schleppt sich den Berg hoch. Oben angekommen, blickt er zurück. Er will sicher sein, dass ihm die Wichte nicht folgen. Vollkommen erschöpft fällt er in den Schnee. Ob er jemals in der Stadt der Kinder ankommen wird? Zweifel überkommen ihn. Die Wichte haben ihm arg zugesetzt.

Kapitel 2: Drei Dinge

Jonas’ Familie lebte zuerst in einem Dorf. Sein Vater war Ingenieur. Im Dorf gab es keine Schule. Deshalb fuhr Jonas mit dem Schulbus in ein etwas größeres Nachbardorf. Dort waren alle Schüler in einem Raum zusammen. Insgesamt waren es acht Klassen. Als Jonas in der ersten Klasse war, konnte er so sehr leicht das Rechnen lernen. Immer wenn die anderen Klassen vom Lehrer unterrichtet wurden, hörte er aufmerksam zu. So konnte er schon im ersten Schuljahr mit Dezimalzahlen rechnen. Er addierte, subtrahierte, multiplizierte und dividierte diese Zahlen mit wachsender Begeisterung.

Dann aber hatte sein Vater ein sehr gutes Stellenangebot von einer Sicherheitsfirma in der Kreisstadt bekommen. Deshalb zog die Familie um, und Jonas beendet dort die Grundschule. Lesen und Schreiben war nicht sein Ding, dafür konnte er aber ausgezeichnet rechnen. Anschließend kam Jonas auf das örtliche Gymnasium.

«Non scholae sed vitae discimus» stand dort über den Eingang geschrieben. Es war ein Neusprachliches Gymnasium, das bedeutet, dass man in der fünften Klasse mit Latein anfing und alle Klassen hatten lateinische Namen: Sexta, Quinta, Quarta, Untertertia, Obertertia, Untersekunda, Obersekunda, Unterprima und Oberprima hießen die Klassen bis zum Abitur.

Der Schulweg war jetzt sehr lang. Jonas brauchte für eine Strecke ungefähr eine halbe Stunde. Das Haus der Eltern stand in einer Siedlung, die auf einem Hügel lag. Die Schule war auf einem anderen Hügel, der durch einen weiteren Hügel getrennt war. Also bedeutete das für Jonas einmal herunter, dann hinauf, erneut herunter und endlich wieder hinauf und zum Schluss noch eine kleine Wegstrecke bis zum Gymnasium.

Das Erlernen der Sprachen fiel Jonas schwer. Seine Noten waren dementsprechend. In Mathematik und Sport allerdings konnte er immer glänzen. In der Sexta waren dies seine Lieblingsfächer.

Für sein Alter war Jonas ziemlich groß. Dies war ein Vorteil beim Basketball. Deshalb spielte Jonas auch in der Schulmannschaft des Gymnasiums. Training war zweimal in der Woche in der Schulturnhalle.

Mit seinem Vater konnte er sehr gut über Mathematik reden. Er war als Ingenieur sozusagen vom Fach, da er sehr viele Berechnungen zu machen hatte. Allerdings erledigte das der Computer für ihn. Im Kopfrechnen allerdings war Jonas unschlagbar. Jedenfalls sah er das damals so.

«Aufstehen!», war jeden Morgen um 6 Uhr aus Jonas' Wecker zu hören. «Aufstehen!». Damit er nie mehr zu spät in die Schule kam, hatte sein Vater einen eigenen Wecker für Jonas gebaut. Der Weckruf wurde, wie bei einem Anrufbeantworter, auf einen Kassettenrekorder aufgezeichnet. Das Ganze wurde mit dem Wecker derart verbunden, dass ein Relais zur Weckzeit den Auslösemechanismus für den Kassettenrekorder steuerte. Und so konnte Jonas seinen Vater jeden Morgen hören, wenn er aufstehen musste.

Jonas fehlte sein Vater sehr. Er war weit weg auf hoher See, so wie Mutter immer sagte. Dort arbeitete er auf einer Bohrinsel. Für sechs lange Monate im Jahr war er weg. Danach kam er wieder nach Hause und arbeitete den Rest der Zeit in seinem Büro. Das war die schönste Zeit für Jonas, weil dann die ganze Familie zusammen war. Und mit dem Papa konnte man viel unternehmen.

Früher hatten sie im Haus ein Funkgerät, über das sich Jonas' Vater zu festen Zeiten meldete, wenn er auf der Bohrinsel war. Doch danach wurde alles viel besser. Jonas konnte seinen Vater über das Internet sehen und hören. Freitagabends meldete er sich immer. Die ganze Familie versammelte sich am Computer und fast war es so, als wäre der Papa mitten unter ihnen.

Aber jetzt konnte er mit dem Papa nicht mehr sprechen. Eines Tages wurde die Familie von der Ölfirma angerufen. Es hätte auf der Bohrinsel gebrannt, hieß es und man sei sich nicht sicher, ob der Papa überlebt hätte. Momentan seien Suchmannschaften unterwegs, um nach Überlebenden zu suchen. Zwei Tage später war klar, dass Jonas' Vater in den Flammen umgekommen war. Jonas wurde krank und wollte nicht mehr in die blöde Schule gehen. Allen Versuchen seiner Mutter, mit ihm zu sprechen, wich er aus. Er schloss sich in sein Zimmer ein. Jonas hätte alles gegeben, den Papa noch einmal zu sehen.sozusagen

Das ging zwei Wochen so. Als Jonas dann wieder in die Schule musste, verprügelte er bei der kleinsten Kleinigkeit seine Mitschüler. Es häuften sich Beschwerden und irgendwann wurde eine Schulkonferenz einberufen. Jonas musste die Schule verlassen.

Die neue Schule mochte Jonas ebenso wenig wie die alte. Aber er hielt sich von seinen Mitschülern fern, galt als Einzelgänger, den man am besten in Ruhe ließ.

Jonas war ziemlich benommen von seinem Traum. Er schüttelte sich den Kopf, um nicht mehr an die blöden Zwerge zu denken. «Bist du immer noch nicht fertig!». Jonas rüttelte an der Badezimmertür. «Bin gleich fertig!», antwortet Carla, seine Schwester, und Jonas ging zurück in sein Zimmer.

In letzter Zeit brauchte seine Schwester immer länger, um sich ausgehfähig zu machen, wie sie das nannte. Sie hat einen neuen Freund, den Jonas einmal an der Schulbushaltestelle gesehen hat. Ein ziemlich kräftiger, großer Kerl, der nach Jonas' Meinung genauso lang wie dumm ist.

Als Carla am Frühstückstisch erscheint, verschwindet Jonas im Badezimmer. Die Haarbürste seiner Schwester liegt auf der Ablage und er sieht die blonden Haare. Blitzartig erinnert er sich an das Goldene Haar des Schweigens. Er greift in die Büste, holt alle Haare heraus und läuft in sein Zimmer. Er sucht einen Briefumschlag, in dem er die Haare seiner Schwester aufbewahren kann. Langsam wird es Zeit für ihn, sonst verpasst er noch den Schulbus. Mutter hat auch schon nach ihm gerufen, wo er denn bliebe, seine Schwester sei schon gegangen. Jonas wird immer unruhiger, wo ist der Briefumschlag denn, geht es durch seinen Kopf. Da steht die Mutter auch schon in der Tür und fragt, was er da mache. Wie der Zufall es will, sieht Jonas einen leeren Umschlag unter dem Bücherregal. Er fischt ihn heraus, legt die Haare in den Umschlag und diesen unter sein Kopfkissen. „Bin schon fertig!“, ruft er seiner Mutter zu und drückt sich an ihr vorbei. Den Schulbus kann er gerade noch erwischen.

Im Bus glaubt Jonas, dass die Augen aller Schüler auf ihn gerichtet sind. Jonas schaut zurück. Die anderen Kinder im Schulbus sind verkleidet. Vor ihm sitzt eine Biene Maja und daneben ein Cowboy. Jonas hat ganz vergessen, dass heute Karnevalsfest in der Schule ist und alle Kinder verkleidet kommen sollen. Nun sitzt er da und fällt wieder einmal auf, weil er nicht verkleidet ist. Die höhnischen Kommentare überhört er. Er setzt sich auf einen freien Platz und sieht den Boden an.

An der nächsten Haltestelle steigt ein weiteres Kind in den Bus. Es ist ganz blau angezogen, hat sich die Haare blau gefärbt und trägt eine blaue Brille. Das blaue Etwas steuert direkt auf Jonas zu und setzt sich neben ihn. Jetzt erkennt er, dass es Katja ist. Katja mag Jonas, weil er nicht so ein Aufschneider ist, wie die anderen Jungen in der Klasse.

«Bist gar nicht verkleidet?», fragt Katja den Jonas. Der gibt kleinlaut zu, dass er es vergessen hat. «Macht nichts!», sagt Katja, «Kannst etwas von mir haben!». Und Jonas weiß genau, was er haben will. Katja schweigt zunächst, aber dann willigt sie doch ein und Jonas kann die blaue Brille tragen. «Jetzt brauche ich nur noch die Schuhe», murmelt er und Katja fragt zurück: «Was meinst du?». «Ach nichts!», erwidert er und sieht die blaue Landschaft durch die blaue Brille an sich vorüberziehen.

In der Schule angekommen, erwartet sie schon die Klassenlehrerin. Das Klassenzimmer ist mit bunten Bildern geschmückt, die die Kinder zu Karneval gemalt haben. Auch Luftschlangen sind über die Tische gelegt und im Hintergrund ertönt Karnevalsmusik aus dem CD-Player. Jonas sieht Katjas blaues Bild an der Wand hängen. Es ist das schönste Bild, denkt er und dreht sich zu ihr um und lächelt sie an.

Jonas wollte eigentlich als Schnecke verkleidet kommen. Er hatte ein entsprechendes Bild gemalt. Aber als er der Lehrerin sagt, dass er sein Kostüm vergessen hätte, erwidert sie zuerst kein Wort und sieht Jonas in die Augen. Danach spricht sie zur Klasse gewandt: «Dann nimm einmal Platz, Jonas. Wir wollen zuerst ein Lied zusammen singen. Danach spielt jeder eine Szene, die zu seiner Verkleidung passt. So wie wir es abgemacht haben.».

Jonas fühlte sich wie im Kino. Das Klassenfest läuft vor ihm ab, wie ein Film auf der Leinwand. Da fällt ihm plötzlich Heino auf. Er ist als Clown verkleidet und spielt Tollpatsch. Die Kinder lachen über ihn, so wie sie es immer tun. Wer heißt schon Heino? Er wurde regelmäßig wegen seines Vornamens gehänselt. «Rotbraun ist die Haselnuss», sagen manche oder riefen: «Wo hast du deine Gitarre gelassen?». Heino ist sehr unglücklich über seinen Vornamen, dem ihm die Eltern nur gegeben hatten, weil die den Sänger Heino so sehr mochten. Heino ist wie Jonas ein Einzelgänger. Keiner will mit ihm spielen, keiner nimmt ihn Ernst. Aber die großen Clownsschuhe, die er anhat, muss Jonas unbedingt bekommen.

Er überlegt die ganze Zeit, wie er es anstellen soll. Als das Fest zu Ende ist, laufen die Schulkinder alle zur Bushaltestelle, um nach Hause zu kommen. Katja ruft Jonas noch hinterher, ob sie sich bei ihr treffen sollen. Aber Jonas hat nur noch Augen für Heino und seine Schuhe und antwortet nur kurz: «Geht nicht. Hab noch was Wichtiges zu erledigen!».

Heino wohnt nicht weit weg von der Schule. Er geht immer zu Fuß nach Hause. Jonas folgt ihm unauffällig, wie ein Geheimagent hält er sich zunächst in sicherer Entfernung bedeckt. Doch Heino spürt, dass heute etwas nicht stimmt. Er drehte sich um und entdeckt Jonas. «Warum folgst du mir heimlich?», ruft er und Jonas kommt näher. «Ich will einen Schuh von dir!», sagt er offen heraus und Heino antwortet: «Du spinnst! Die Schuhe gehören mir nicht. Die hab ich nur ausgeliehen!». Das stimmte zwar nicht, weil Heino die Schuhe von seinem Vater geschenkt bekommen hatte. Der war früher einmal als Clown bei Festen aufgetreten. Aber seit seinem Autounfall ist er querschnittsgelähmt. Deshalb hat er die Schuhe Heino gegeben und der wollte nur den Preis hoch handeln, weil er nie Clown sein wollte.

«Nun gut. Du bekommst meine Schuhe und ich gebe dir noch 5 Euro dazu!», erwidert Jonas. «Fünf Euro nur! Ich musste schon 10 Euro für die Ausleihe bezahlen!». «Gut ich gebe dir morgen 10 Euro und wir tauschen die Schuhe auf der Stelle!». Doch das ist Heino zu unsicher und er will ein Pfand für die 10 Euro, die Jonas ihm schuldet. Jonas gibt ihm seine Armbanduhr und der Tausch ist perfekt.

Jonas latscht mit den Clownsschuhen zur Bushaltestelle. Keiner achtet auf ihn und er überlegt sich, wie er zu Hause angekommen direkt auf sein Zimmer geht und alle Sachen im Wandschrank versteckt.

Die Mutter wartet schon mit dem Essen als Jonas in seinem Zimmer verschwindet und es abschließt. Keiner soll sehen, was er dort treibt. Und auch als die Mutter an die Tür klopft, ist er nur kurz angebunden: «Ich komme gleich!».

Jonas ist überglücklich, alle Sache zusammenzuhaben, die er braucht, um in die Stadt der Kinder zu kommen. Morgen schon wird er woanders sein, denkt er und erscheint gut gelaunt in der Küche. Die Mutter freut sich, denn selten sah sie in letzter Zeit ein Lächeln auf Jonas' Gesicht, so wie heute.

Kapitel 3: Der Malipali

Als die Mutter in Jonas' Zimmer guckt, schläft der fest. Sie macht leise die Tür hinter sich leise zu, damit er nicht wach wird. Dass unter seinem Kopfkissen ein paar Haare, ein Schuh und eine Brille liegen, sieht sie nicht.

Mit einem Mal dröhnt eine blecherne Stimme aus dem Hintergrund: «Was willst du hier?». Jonas sieht sich um. Er befindet sich in einem runden Zimmer mit acht Türen. Von der Mitte der Decke hängt ein kugelförmiger Apparat. Aus dem muss die Stimme kommen, denkt Jonas. Er blickt nach oben und ruft: «Ich will in die Stadt der Kinder!». «Dann musst du das Haar des Schweigens, die blaue Brille des Blinden und die Schuhe des Gelähmten in die Mitte legen!», dröhnt es aus dem Apparat. Jonas ist bestens vorbereitet. Er nimmt den Briefumschlag und legt die Haare seiner Schwester auf das seltsame Zeichen, das sich in der Mitte des Raumes befindet und das er schon in der Höhle der Wichte gesehen hatte. Die blaue Brille befindet sich in seiner rechten Hosentasche und den Schuh trägt er in der linken Hand. Als alle Dinge an ihrem zugewiesenen Ort sind, öffnen sich drei Türen. Jonas sieht drei Städte und die Stimme spricht zu ihm: «Bevor du in die Stadt der Kinder kommst, musst du in die drei Städte gehen, die du hinter den Türen siehst. Ergründe ihr Geheimnis und du wirst dein Ziel erreichen.».

Sehr undurchsichtig, denkt Jonas. Die Zahl Drei muss wohl etwas Besonderes sein. Er war enttäuscht. Hatte er doch die drei Sachen, die ihn die Zwerge genannt hatten, mitgebracht. Und jetzt sind die nur Mittel zum Zweck. Das könnte immer so weiter gehen. Aber er immerhin ist schon ein Stück weiter gekommen und warum sollte er jetzt aufgeben?

Jonas erinnerte sich an seinen Vater und die nächtlichen Spaziergänge mit ihm. Papa hatte immer versucht, auf Jonas’ Fragen eine entsprechende Antwort zu finden. Doch manchmal wusste auch er keine Antwort. Dann sagte er immer: «Das musst du selber herausfinden!». Jonas verstand nicht sofort, was Papa ihm damit sagen wollte. Aber jetzt glaubte er es zu wissen.

«Irgendwie dreht sich unser Leben im Kreis!» stellte Jonas einmal fest, als beide den Mond beobachteten, worauf sein Vater erwiderte: «Dann kommen wir aber nicht voran!». «Ja, genau so ist es. Der Mond dreht sich um die Erde, die Erde um die Sonne, die Sonne um das Zentrum unserer Galaxie, die Milchstraße. Die Galaxien drehen sich spiralförmig in den Filamenten des Universums.» erwiderte Jonas und kam sich sehr wichtig vor, weil er sich all die unbekannten Ausdrücke gemerkt hatte, die sein Vater benutzte, um ihm etwas über das Universum zu erklären. «Aber da hast du ja schon eine Erklärung gefunden, mein Sohn! Denn wenn sich die Galaxien spiralförmig in den Filamenten bewegen, dann bewegt sie sich auch in eine Richtung vorwärts und sonst eben im Kreis!».

So musste es auch jetzt sein. Jonas hatte noch viele Fragen, die er der Stimme stellen wollte. Aber der Apparat verschwindet lautlos in der Decke des Zimmers. Jonas weiß, dass er sich jetzt allein auf den Weg machen muss. Und so geht er durch die erste Tür.

Er findet sich an einem Strand wieder. Vor ihm liegt eine Stadt auf einer Insel. Er kann sie nur mit einem Boot erreichen. Eine große Kugel liegt an Strand, in der sich eine Tür befindet. Vielleicht ist das die Fähre zur Insel, denkt Jonas und öffnet die Tür. Nachdem er in der Kugel ist, schließt sich die Tür hinter ihm automatisch und ein grelles Licht erhellt das Innere. Jonas weiß nicht, was er tun soll. Da sieht er ein Bullauge direkt vor sich und er merkt wie die Kugel sich in Bewegung setzt. Schon ist sie auf dem Wasser und steuert direkt auf die Insel zu. Jonas wundert sich, dass sich die Kugel nicht dreht. Er bleibt ruhig stehen und sieht durch das Bullauge, wie die Insel immer näher kommt. Bald wird er da sein.

Doch dann taucht die Kugel unter. Jonas wird unruhig, weil er die Insel nicht mehr sieht. Dafür tauchen allerlei seltsame Meeresbewohner vor dem Bullauge auf. Ein Krake, der einen Kopf wie ein Pferd hat und ihn anlacht. Ein Delphin, der Arme und Beine hat und einen richtigen Mund. Er scheint Jonas etwas sagen zu wollen. Aber der erkennt nur Luftblasen, die aus dem sich öffnenden und schließenden Mund heraussprudeln. Links vom Bullauge erkennt er einen sehr lustig aussehenden Fisch. Er trägt in seiner linken Flosse, die wie eine platte Hand aussieht, einen Regenschirm. Damit er nicht nass wird, denkt Jonas und fängt an zu lachen. Direkt daneben ist ein Fisch, der auf seinem Kopf ein Ding trägt, das wie eine Dusche aussieht. Jetzt muss Jonas laut lachen. Rechts vom Bullauge schwimmt ein riesiger Fisch vorbei. Der sieht aus wie ein gelbes U-Boot. An seiner Schwanzflosse ist eine Antenne angebracht, die sich regelmäßig in alle Richtungen dreht. Seine Augen sehen aus wie Bullaugen. Jetzt fixiert der U-Boot-Fisch Jonas mit seinen Bullaugenaugen. Jonas zuckt zusammen. Aber nichts passiert. Das U-Boot schwimmt einfach weiter an ihm vorbei.

Ein leises Geräusch ist in der Kugel zu hören. Und ehe sich Jonas versieht, ist die Kugel aufgetaucht und gelandet. Die Tür springt auf und Jonas betritt den mit Palmen gesäumten Strand der Insel. Der Sand ist so fein und so weiß wie Mehl. Jonas macht sich auf den Weg in die Stadt. Er muss nicht weit laufen, bis er die Straße erreicht, die direkt zur Stadt führt.

Um die Stadt herum befindet sich eine Stadtmauer. Ein rundes Portal führt in die Stadt. Vor dem Portal ist eine Tafel angebracht. Auf der steht in großen Buchstaben geschrieben: Schweigen ist Gold. Jonas weiß, dass er in der Stadt niemanden fragen kann. Er würde keine Antwort bekommen. Aber wie soll er sich verständigen? Was ist das Geheimnis der Stadt?

Jonas geht durch das Portal. Neben ihm taucht eine Frau auf. Sie trägt einen rot, weiß und schwarz gestreiften kegelförmigen Umhang und eine Mütze auf dem Kopf. Sie geht zu einem Elektroauto und als sie Jonas sieht, winkt sie ihm zu. Jonas folgt der Frau zum Auto. Er setzt sich auf den Beifahrersitz und die Frau fährt los. Alles ist still. Kein Laut ist zu hören. Selbst das Auto bewegt sich geräuschlos auf der schmalen Straße. Sie kommen an einem Platz vorbei. In der Mitte des Platzes befindet sich ein Brunnen. Der Brunnen ist mit Säulen gesäumt und in seiner Mitte ist ein großer Würfel, der auf einer Ecke auf einer breiten, weißen Säule aus Marmor steht. Um den Platz herum sind Häuser, die alle aussehen wie Miniaturkirchen. Vor jedem Haus steht eine großer orangefarbener Sonnenschirm und ein mannshoher Pfosten, der schwarz und weiß gestreift ist. Irgendwie sieht hier alles aus wie in einem Spielzeugladen, denkt Jonas und will es schon der Frau sagen. Aber da erinnert er sich an die Tafel und hält sich zurück.

Die Frau fährt ihn zu einem Haus, das auf einer kleinen Anhöhe steht. Dort setzt sie ihn ab und verschwindet wieder mit ihrem Elektroauto. Jonas steht vor dem Eingang. Er öffnet leise die halbrunde Tür, die mit Gardinen von innen her verhangen ist, sodass Jonas nicht ins Haus schauen kann. Er findet sich in einem Zimmer wieder. Dort steht in der Mitte ein runder Tisch. Auf dem Tisch liegt eine Tafel und daneben liegt ein großer Bleistift, der aber keine Mine hat.

Jonas tritt an den Tisch. Er sieht, dass die Tafel eine Art Computer ist. Er schaltet ihn an und sieht ein großes Bild von der Stadt. Jonas tippt mit dem Bleistift auf ein Haus und schon ändert sich das Bild und ein Mann ist zu sehen, der einen blauen Anzug trägt und einen weißen Strohhut. Er hält ebenfalls eine Tafel in der Hand, auf der steht: Wie geht es dir, Jonas?

Jonas wundert sich zwar, dass der Mann seinen Namen kennt. Aber er hat eine Aufgabe zu erledigen. Deshalb schreibt er mit dem Bleistift auf seine Tafel: Warum darf man nicht sprechen? Er sieht wieder den Mann, der ihm prompt antwortet: Weil Schweigen Gold ist! Wusstest du das nicht?

Jonas schaltet den Computer aus. Eine bessere Antwort hat er auch nicht erwartet. Er will die Stadt näher erkunden. Vielleicht wird er dort Anhaltspunkte finden. Er verlässt das Haus und geht zu Fuß zu dem Brunnen, an dem sich bei diesem schönen Wetter sehr viele Menschen versammelt haben. Aber sind es wirklich Menschen, oder nur Maschinen?

Alle schweigen, sehen sich aber in die Augen, wenn sie sich begegnen und lächeln sich gegenseitig zu. Dabei nicken sie mit dem Kopf und gehen weiter. Ein kleiner, rund aussehender Mann macht auf Jonas allerdings einen sehr aufgeregten Eindruck. Er will sich verstecken. Doch vor wem? Er eilt über den Platz und versucht die Tür eines Hauses zu erreichen. Aber als er kurz davor ist, ertönt aus der Luft ein gewaltiges Brausen und ein riesengroßer Vogel ist zu sehen, der mit seinen Klauen den kleinen Mann greift und sofort wieder verschwunden ist.

Die anderen tun so, als sei gar nichts passiert. Jonas steht der Mund offen, aber kein Wort kommt heraus. Er hat furchtbare Angst, das gleiche Schicksal könnte ihm widerfahren. Er läuft immer schneller. Nur weg von diesem Ort, denkt er. Wo er schließlich landen wird, weiß er nicht, als er durch einen Schacht ins Bodenlose fällt.

Jonas ist für kurze Zeit bewusstlos. Als er die Augen wieder öffnet, sieht er einen Gang, der mit Neonlicht beleuchtet ist. Er folgt dem Gang und erreicht einen achteckigen Platz. Dort gibt es ebenfalls Häuser und Jonas merkt, dass es noch eine unterirdische Stadt gibt. Aber keiner ist zu sehen. Jonas folgt der Treppe, die zu einem Haus oberhalb des Platzes führt. Da hält er inne und duckt sich, denn er hört Schritte. Es sind Soldaten, die auf den Platz marschieren. Sie tragen graue Uniformen und Helme aus Aluminium. Irgendwie sehen sie lächerlich aus. Wie eine Blechbüchsenarmee, denkt Jonas.

Die Soldaten versammeln sich in der Mitte des Platzes und stehen alle ganz still. Erst jetzt sieht Jonas wie ein alter Mann den Platz betritt und sich an die Soldaten wendet: «Wir feiern den dreißigsten Jahrestag unserer Befreiung. Deshalb haben wir uns hier versammelt, um denen die Sprache wiederzugeben, die sie verloren haben. Lasst uns stolz auf unseren Erfolg sein. Im letzten Jahr haben wir 34 Personen befreien können.».

Die Soldaten salutieren und singen ein sehr lautes Lied in einer Sprache, die Jonas zuvor niemals gehört hat. Danach verschwinden sie wieder und Jonas ist allein.

Da sieht er ein Mädchen. Es sieht durch das Fenster der Wohnung, vor der Jonas gerade kauert. «Komm doch rein!», sagt sie freundlich und Jonas lässt sich das nicht zweimal sagen. In ihrem Zimmer sind viele Holzregale und eine Menge Spielzeug. «Das brauche ich nicht mehr!», spricht sie Jonas an, als sie merkt, dass er verwundert auf die Regale guckt. «Aber warum soll ich es wegwerfen? Ist doch ein Teil von mir!», redet das Mädchen weiter, das Katja sehr ähnlich sieht. «Heißt du etwa Katja?», fragt Jonas, als sei es selbstverständlich in dieser unterirdischen Stadt zu sprechen. «Nein, ich bin Tharia! Und du?» «Ich bin der Jonas!», antwortet er, und Tharia lächelt. Jonas setzt sich auf einen freien Stuhl. Noch bevor er etwas sagen kann, spricht Tharia: «Du hast sicherlich viele Fragen. Ich würde auch lieber oben wohnen im Spielzeugland. Aber hier unten sind wir sicher.». «Sicher vor wem?» kommt es aus Jonas herausgeschossen. «Sicher vor dem Malipali. Er ist ein fürchterlicher Mensch. Vor Jahren hat er Strahlen entdeckt, die die Träume der Menschen beeinflussen können. Die Menschen im Spielzeugland träumen jeden Abend denselben Albtraum. Ein fürchterliches Ungeheuer würde sie töten, fingen sie an zu reden. Deshalb schweigen alle und unterhalten sich nur über die elektronischen Tafeln. Die überwacht der Malipali und so weiß er, was die Menschen denken.»

«Aber ich habe einen Mann gesehen, der von einem übergroßem Greif weggetragen wurde!», sagt Jonas. «Ja, das sind Halluzinationen, die der Malipali über seine schrecklichen Strahlen, die aus dem Würfel gesendet werden, auch tagsüber den Menschen einflößen kann. Wir leben hier unten, weil wir hier vor den Strahlen sicher sind. Wenn wir nach oben gehen, tragen wir diesen Sombrero, der uns vor den Strahlen schützt. So ist es uns möglich, für kurze Zeit unentdeckt oben zu bleiben. Aber der Malipali hat ein Überwachungssystem mit Videokameras installiert, die überall versteckt sind. Deshalb dürfen wir uns nicht allzu lange in der Stadt aufhalten. Meistens reicht aber die Zeit, dass wir einen Menschen von oben befreien können. Wir bringen ihn für kurze Zeit nach unten in unsere Stadt und klären ihn auf. Wenn er will, kann er dann bei uns bleiben. Andernfalls wird er wieder nach oben geschickt.»

«Und wie könnt ihr sicher sein, dass der euch nicht verrät?», fragt Jonas Tharia. «Wenn er nach oben geht, ist er den Strahlen des Malipali ausgesetzt. Er wird sofort alles vergessen, was er noch vor kurzer Zeit erfahren hat. Sein Erinnerungsvermögen wird stillgelegt. Er denkt nur noch in der Gegenwart. An die Vergangenheit und die Zukunft kann er nicht mehr denken.»

«Das ist also das Geheimnis der Stadt!», ruft Jonas überglücklich. «Jetzt kann ich in die nächste Stadt gehen. Ich will nämlich in die Stadt der Kinder, und bevor ich dort hinkommen kann, muss ich herausfinden, was das Geheimnis dreier Städte ist.». «Was willst du in der Stadt der Kinder? Ich habe noch nie davon gehört.», sagt Tharia ein wenig traurig, weil sie weiß, dass Jonas sofort wieder gehen wird. «Dort will ich leben. Ich habe meinen Vater verloren. In der Stadt der Kinder hat aber jedes Kind einen Vater und ich glaube, ihn dort wiederzusehen.». «Achte darauf, dass du den Sombrero trägst, wenn du nach oben gehst. Begib dich dann wieder zum Strand und nimm eine orangefarbene Kugel. Die anderen werden dich nicht wieder zurückbringen.» gibt Tharia Jonas mit auf den Weg. Sie begleitet ihn bis zum Aufgang in die Stadt und wünscht ihm noch viel Glück, bei seiner Suche nach seinem Vater.

Kapitel 4: Im Paradies

Als Jonas aufwacht, sieht er unter sein Kopfkissen. Tatsächlich: der Briefumschlag ist weg. Jetzt muss Jonas die Schuhe und die Brille verstecken bevor Mutter ins Zimmer kommt. Er stopft sie in seinen Wandschrank. Da kommt Mutter ins Zimmer und mahnt zur Eile. Heute ist Samstag und die Familie will Onkel Martin besuchen. Der wohnt mit seiner Familie in einer anderen Stadt und hat auch zwei Töchter, die Jonas nicht leiden kann, weil beide sehr eingebildet sind. Er hat keine Lust mitzukommen. «Ich glaube mir ist schlecht!», sagt Jonas als er die Tür zum Wandschrank schließt. Dabei sieht er Mutter in die Augen und versucht, den Kranken zu spielen.

«Was hast du denn?», fragt Mutter und Jonas tut so als hätte er Bauchschmerzen und müsste sich jeden Moment übergeben. «Leg dich erst einmal ins Bett und ruhe dich aus!», sagt Mutter besorgt und holt ein Fieberthermometer. Das steckt sie Jonas in die Achselhöhle und Mutter spricht sehr ernst: «10 Minuten muss es da bleiben! Bewege dich nicht! Verstehst du?».

Jonas versucht, das Thermometer durch Reiben hochzutreiben. Aber es passiert nichts. Dann geht er heimlich zum Heizkörper und hält das Thermometer dort dran. Das ist schon besser. Das Thermometer zeigt inzwischen 40 Grad. Viel zu hoch denkt Jonas und legt sich wieder ins Bett. Als Mutter kommt und die Temperatur abliest, bleibt ihr der Mund offen stehen. «Ach du meine Güte! Du hast 39 Grad! Da kannst du nicht mit zu Onkel Martin fahren. Was mach ich nur?».

«Ach du meine Güte!», sagt Mama immer, wenn sie sehr beunruhigt ist, denkt Jonas. Was habe ich nur getan, denn eigentlich will er Menschen nicht hereinlegen. Aber diesmal muss es einfach sein. Er muss seinen Vater noch einmal sehen, um sich von ihm zu verabschieden. Das konnte er bis jetzt nicht tun.

Mutter verlässt Jonas' Zimmer und eilt zum Telefon. Sie ruft eine alte Frau in der Nachbarschaft an. Die hatte sich früher um die Kinder gekümmert, wenn Jonas' Eltern weg waren. Jetzt macht sie es immer noch und die Kinder mögen sie, wie eine zweite Ersatzoma.

«Tante Elisabeth wird heute kommen und nach dir schauen. Sie wird mich benachrichtigen, wenn dein Fieber steigt. Dann kommen ich und Carla sofort zurück und ich bringen dich ins Krankenhaus. Aber ich hoffe, dass es nicht so schlimm wird. Verstehst du Jonas?», sagt Mutter als sie Jonas' Zimmer betritt. «Ist gut!», sagt Jonas ganz leise, als würde es ihm fürchterlich schlecht gehen und hält sich dabei seinen Bauch. Aber sein schlechtes Gefühl, das er jetzt im Bauch verspürt, rührt nicht von einer Krankheit her, sondern von seinem schlechten Gewissen, das er gegenüber seiner Mutter hat. «Wird schon werden!», ermuntert Mutter ihn. Sie gibt ihm einen Kuss auf seine Stirn und verlässt das Zimmer. Jonas hört noch das Auto anspringen. Jetzt wird er den ganzen Tag allein mit Tante Elisabeth sein. Bis Mutter und Clara wieder zurückkommen wird es Abend werden, denkt er und zieht die Bettdecke über seinen Kopf.

Jonas denkt an Tharia. Die ist nicht so zickig wie seine Schwester. Gern würde er wieder dorthin, aber er muss noch zwei Orte aufsuchen, erst dann kann er zu seinem Vater. Und der wartet bestimmt schon auf ihn. Das weiß Jonas ganz sicher, obwohl sein Vater sich nicht mehr gemeldet hat. Jonas sucht im Bücherschrank nach einem Buch. Irgendwie muss er sich die Zeit vertreiben, bis er wieder in den Raum kommt, wo alles angefangen hatte. Er ist guter Dinge, weiß er doch endlich, wie er in die Stadt der Kinder kommt.

Da sieht Jonas, dass er ein Buch in seinen Händen hält. Er muss es wie ferngesteuert aus dem Bücherschrank genommen haben. Es ist ein großes Buch und der Titel ist mit sehr großen Buchstaben auf den Buchrücken geschrieben. Noch nie hatte er das Buch gesehen. Wer hat es in seinen Bücherschrank gestellt? Alles in dem Buch war in Spiegelschrift und es fing dort an, wo andere Bücher aufhören. Jonas gibt sich keine Mühe, um die Schrift zu entziffern. Dazu ist er viel zu müde. Er holt sich aus dem Badezimmer einen kleinen Taschenspiegel und hält ihn so zum Buch, dass er lesen kann. Aber das kann doch nicht sein! Da ist es wieder das Buch von Jomami Jopampo. Aber ganz anders als er es damals aus der Stadtbibliothek entliehen hatte. Es ist viel älter und viel größer. Die Stadt der Kinder das muss er lesen und er schlägt es auf. Was er sieht, ist nicht viel. Ein Foto von dem Raum, in dem er schon war und ein sonderbares Zeichen einer Schlange, die einen Froschkopf hat. Auf der zweiten Seite sieht ihn Tharia an. Wie kommt sie in das Buch? Die anderen Seiten sind leer, als sollten sie noch beschrieben werden. Jonas erschrickt und lässt das Buch fallen.

Er macht die Augen zu und sieht noch einmal die sonderbaren Fische. Dann geht er wieder ins Bett und schläft ein. Er ist wirklich krank, aber Jonas weiß das nicht.

Rings um Jonas ist alles weiß. Kein Gegenstand ist zu sehen. Egal in welche Richtung er schaut, er ist ganz allein. Nur ein leiser Ton ist zu hören. Und dann kommt plötzlich dieser große Luftballon auf ihn zu geflogen. Er ist bunt. Alle Farben des Regenbogens kann Jonas erkennen. Er lächelt und streckt seine Hand aus, als wollte er den Luftballon fangen. Aber der schwebt in der Luft und wird immer größer und Jonas fühlt, dass er immer schwerer wird. Jetzt hat er Angst, der Luftballon könnte ihn erdrücken. Er spürt immer deutlicher den Druck auf seiner Brust und der Luftballon kommt immer näher, bedrohlich näher so nah, als könnte er ihm die Luft zum Atmen nehmen. Doch dann zerplatzt er in tausend Stücke und um Jonas herum wird alles grün. Er hört Vogelstimmen. So wie man im Frühling die Vögel morgens singen hört, wenn der Tag anbricht. Jonas fühlt sich geborgen und sicher. Hier will er sein ganzes Leben lang bleiben. Er sieht Bäume, Sträucher und die Stimmen werden immer lauter und immer mehr. Jetzt hört er sogar Menschenstimmen. Die Menschen gehen hier in einem wunderschönen Garten spazieren. Er ist also in einem Garten, jetzt kann er es genau sehen. Der Garten ist so schön wie Onkel Martins Garten, nur viel größer.

Die Menschen tragen alle weiße Gewänder, wie die Römer früher. Das hat er einmal in einem Geschichtsbuch gesehen. Dort war abgebildet, wie die Menschen früher einmal gelebt hatten. Dies wissen die Menschen heute, weil es Bilder von früher gab. Keine Fotografien, nein, es sind gemalte Bilder. Und hier ist alles so wie auf diesen Bildern aus dem Geschichtsbuch. «Wo bin ich?», schreit Jonas, doch die Menschen drehten sich noch nicht einmal um. Sie können ihn nicht hören, denkt er und schreit lauter immer lauter bis ein alter Mann neben ihm steht. Mach nicht einen solchen Lärm. Wir haben gute Ohren, du brauchst nicht zu schreien. «Wie kommst du hierhin?», fragt der alte Mann. «Wo bin ich?», fragt Jonas erneut und der Mann lächelte ihn an. Aber das weißt du doch ganz genau. Du hast den Malipali doch gebeten, dich hierher zu bringen. «Den Malipali?», sagte Jonas, «Aber der hat doch die Menschen alle betrogen und belogen!». «Ja, aber er hat dich auch hierhin geschickt. Und jetzt musst du sehen, wie du wieder hier herauskommst.». «Und wenn ich nicht will!». «Dann bleibst du hier und wirst nicht wieder zu deinen Eltern zurückkehren.» «Auch nicht zu meinem Vater?».

«Ganz gewiss nicht! Denn der ist noch in der Stadt der Kinder und sucht dich dort. Willst du dahin, so musst du den Ausgang aus diesem Garten finden. Aber das ist nicht so leicht, wie du dir das vorstellst. Der Garten ist groß und in dem Garten sind wieder Gärten, wie die Puppe in der Puppe und die sehen alle gleich aus, sodass du nicht sehen kannst, in welchem Garten du dich gerade befindest. », antwortet der alte Mann.

Jonas weint. Er ist hoffnungslos verloren, denkt er. Hier würde er nie wieder herauskommen. Alles ist zwar wunderschön, aber er will hier nicht bleiben. Nein, er will zu Vater, der in der Stadt der Kinder auf ihn wartet. Aber was soll er tun? «Achte auf alles, was dir merkwürdig vorkommt.» gibt ihm der alte Mann noch mit auf den Weg als er in den Wald verschwindet. Jonas ist gefangen, gefangen wie in einem Paradies und eigentlich kann er hier bleiben. Also was soll es! Er hat alles versucht, seinen Vater zu finden und jetzt ist er hier im Paradies gestrandet und viele Menschen würden ihn darum beneiden. Warum ist er nur so hoffnungslos? Alles ist doch gut. Er wird nie Hunger leiden, er wird nie mehr durstig sein, er wird nie mehr niedergeschlagen sein, er wird nie mehr kämpfen müssen, er wird nie mehr, nie mehr …

Jonas ist hungrig und durstig. Aber er ist im Paradies, ganz offensichtlich. Er braucht nichts zu tun, als seine Hand auszustrecken und sich eine Orange oder eine Banane oder eine Zitrone oder Mandarine zu greifen. Alles liegt neben ihm und eine Quelle ist auch direkt in seiner Nähe. Er hebt eine Orange auf und schält sie und beißt in sie hinein. So süß, wie diese Orange ist, hat er noch nie eine gegessen. Zu Hause sind die Orangen immer etwas sauer, aber die hier ist zuckersüß, nein honigsüß. Wie schmeckt eigentlich die Banane? Er ergreift eine und schält sie. Er beißt hinein und auch diese schmeckt zuckersüß, so süß wie die Orange eben. Und die Zitronen schmecken genauso? Ja, das war merkwürdig. Was ist mit dem Wasser der Quelle? Auch das schmeckt so wie die Orange, wie die Banane, wie die Zitrone. Alles schmeckt gleich im Paradies und das ist schon merkwürdig.

Jonas sieht zum Wald, in dem der alte Mann verschwunden war. Er steht auf und will ihm folgen. Was wird er hier entdecken? Er sieht ein Laufband. Sehr bequem, denkt Jonas, wie auf einem Flughafen. Er kennt das. Wenn er Vater zum Flughafen brachte, hatte sie ein kilometerlanges Laufband zum Gate gebracht. Hier ist das auch so! Vielleicht ist das Paradies ein Flughafen? Jonas schließt seine Augen und lässt sich von dem Laufband tief in den Wald bringen.

Jonas hört erneut einen leisen Ton, dann sind wieder die Vogelstimmen da und als er die Augen aufmacht, ist er genau dort, wo er zuvor war. Er sieht wiederum die Menschen, wie sie in ihrem weißen Umhängen durch den Garten spazieren, den Jonas schon einmal gesehen hatte. Er ist im Kreis gefahren. Das ist die einzige mögliche Erklärung. Doch dann erinnert er sich an das, was der alte Mann ihm gesagt hatte. Vielleicht ist er nun doch an einem anderen Ort. Zwar sehen die Puppen in den Puppen alle gleich aus, aber sie unterscheiden sich doch in ihrer Größe. Soll es hier genauso sein? Wie unterscheiden sich also all die gleich aussehenden Paradiese? So kann er diesen Ort nicht verlassen. Er muss eine andere Richtung einschlagen. Vielleicht wird er dort einen Ausgang aus diesem Paradies finden. Denn hier kann er nicht bleiben, das weiß er jetzt. Sein Wunsch, Vater wiederzusehen, wurde immer stärker und seine Angst, den Ort, an dem er ist, nie wieder verlassen zu können, auch.

Jonas beißt in eine Orange und verzieht sein Gesicht. So sauer wie die ist, sind die Orangen zu Hause nicht. Er beißt in eine Banane und verzieht wiederum sein Gesicht. Sauer! Sauer! Noch nie hatte er eine Banane gegessen, die sauer schmeckt. «Alles schmeckt hier sauer!», ruft Jonas, aber die Menschen beachteten ihn nicht. Also ist er doch nicht am selben Ort. Alles sieht hier zwar gleich aus, aber die Früchte schmecken anders. Und das Wasser ist das reinste Zitronenwasser. «Sauer macht lustig!», hatte Vater immer gesagt, und Jonas erinnert sich daran, wie Vater eine Zitrone in zwei Hälften teilte, seinen Kopf nach hinten legte und in seinen geöffneten Mund beide Zitronenhälften auspresste, sodass er den ganzen Zitronensaft trank. Dabei verzog er ein wenig sein Gesicht und schüttelte seinen Kopf. «Jetzt ist dein Kopf wieder frei von Gedanken, die dich belasten oder die dir Angst bereiten! Probiere es einfach selbst aus, ob es r hilft!».

Damals ging es Jonas schlecht, weil er am nächsten Tag eine Lateinarbeit schreiben musste. Dabei ging es um den ACI. Der Nebensatz wird mit dem Akkusativ und dem Infinitiv gebildet, wie zum Beispiel in: «Carla Junum vocare audit.», was so viel wie «Carla hört, dass Junus ruft!» bedeutet. Am nächsten Morgen presste Jonas eine Zitrone aus und nahm den Saft in seiner Trinkflasche mit zur Schule. Als er den Text sah, den sie übersetzten mussten, drehte es sich in seinem Kopf und er konnte sich nicht konzentrieren. Da nahm er einen Schluck aus seiner Flasche und schon ging es ihm besser, so wie sein Vater es gesagt hatte. In der Lateinarbeit hatte er die Note befriedigend. Seine bis dato beste Lateinarbeit.

Aber Jonas ist froh, dass er nun an einem anderen Ort ist und weiß nun, wie er vielleicht wieder hier herauskommen kann. Er muss immer darauf achten, wie die Sachen schmecken.

Jonas läuft wieder auf den Wald zu und findet auch dort ein Laufband. Wohin wird es ihn bringen? Sicherlich sieht das neue Paradies genauso aus wie die anderen beiden aus. Und so war es auch. Aber als er in die Banane beißt, schmeckt die nach gar nichts. Wie kann so etwas sein? Er ist jetzt wohl im dritten Paradies der Geschmacklosigkeit. Zitrone und Orange, beide haben keinen Geschmack. Da braucht Jonas das Wasser nun auch nicht mehr trinken. Das schmeckt wie zu Hause. Aber er trinkt trotzdem. Das Wasser ist erfrischend und Jonas glaubt, dass er endlich weiß, was es mit dem Paradies im Paradies auf sich hat. Er verschwindet über das Laufband im Wald und schwuppdiwupp ist er in einem neuen Paradies. Mal sehen, wie hier alles schmeckt? Ach, hier war ich doch schon, denkt Jonas, als er in die zuckersüße Traube beißt. Er will nicht immer die Orangen essen. Doch hier im Paradies spielt das keine Rolle, weil alles gleich schmeckt. Er ist also wieder dort angelangt, von wo aus er gestartet war. Er ist im Kreis gelaufen. Etwas Schlimmeres kann ihm nun wirklich nicht passieren. Aber irgendwie muss es doch weiter gehen! Was soll er also tun? Noch einmal eine Runde drehen? Doch ändern würde sich eigentlich nichts, oder doch?

So lässt er sich noch einmal vom Laufband in das saure Paradies tragen. Essen will er hier nichts. Aber seine Augen weit aufmachen, ob nicht doch etwas zu sehen ist, das er vorher nicht bemerkt hat.

Jonas steht an der Quelle und will gerade einen Schluck trinken. Das Wasser blubbert aus dem Boden. Es glänzt silbrig in der Sonne und bildet ein Rinnsal. Da sieht Jonas ganz plötzlich vor ihm ein neues Laufband. Es führt nicht in den Wald, sondern geht in die Erde hinein. Unterirdisch geht es also weiter! Jonas zögert nicht lange und stellt sich darauf. Das Laufband bringt ihn in ein neues Paradies, oder ist es schon eins, in dem er war? Er macht die Wasserprobe und spuckte das Wasser sofort wieder aus. Seit ihr einmal im Meer geschwommen und habt da Wasser in den Mund bekommen? Genauso schmeckt das Wasser hier, es ist salzig. Also ist in diesem Paradies alles salzig und Jonas braucht die goldgelbe Banane, die vor ihm liegt, nicht zu schälen. Er tut es trotzdem. Er will sich vergewissern, und spuckte auch gleich wieder aus. Jonas ist also im salzigen Paradies. Es gibt also das salzige, das süße, das saure und das geschmacklose Paradies. Macht vier Paradiese insgesamt. Und was passiert, wenn ich das Laufband durch den Wald nehme. Jonas steht schon drauf und ist sehr froh, dass er genau da wieder herauskommt, wo er zuerst war. Das süße Paradies liegt vor ihm.

Aber das süße Wasser will er jetzt ebenfalls nicht trinken. Deshalb macht er sich sofort auf den Weg und lässt sich von den Laufbändern in das geschmacklose Paradies tragen. Dort trinkt er erst einmal einen kräftigen Schluck aus der Wasserquelle und begibt sich anschließend wieder zurück zu seinem Ausgangspunkt.

Jonas liegt im Gras und überlegt. Egal in welches Paradies er geht, es gab immer einen Rückweg über ein anderes Paradies. Wenn nun der weiße Raum, in dem er sich anfangs befand, bevor er in das süße Paradies kam, ebenfalls zu dem System gehörte? Dann muss es einen Rückweg geben. Allerdings konnte der nur in den anderen drei Paradiesen zu finden sein. Denn einen direkten Rückweg konnte es nach Jonas' Annahme schließlich nicht geben. Aber in welchem Paradies gibt es den Rückweg? Etwa im salzigen Paradies, nein, der Rückweg in den weißen Raum konnte, wenn es ihn denn gäbe, nur im sauren Paradies sein. Jonas muss also noch einmal dorthin. Genau hinschauen, ob es nicht doch noch ein Laufband gibt, dass ihn dann wieder in den weißen Raum zurückbringen würde.

Tante Elisabeth war voller Kummer. Sie sah Jonas im Bett liegen und er hatte hohes Fieber. Manchmal sprach er Vater, wo bist du und dann drehte er sich im Bett von einer Seite zu anderen. Wann kommt denn endlich der Arzt. Er wollte doch vorbeischauen! Tante Elisabeth macht kalte Lappen und legt sie auf Jonas Stirn. Aber der dreht sich immer wieder von der einen Seite zur anderen und dabei fällt der kalte Lappen immer wieder von seiner Stirn. Tante Elisabeth gibt nicht auf. Bis der Arzt kommt, will sie an seinem Bett bleiben.

Jonas ist wieder an der Quelle im sauren Paradies. Ist hier der Rückweg in den weißen Raum? Er schaut sich um. Er sieht die Wiese, den Wald und einen großen Baum. Der ist bestimmt fünfzig Meter hoch und zehn Meter dick. Er steht mitten auf der Wiese. Warum fällt Jonas dieser Baum jetzt erst auf? Muss er nicht in jedem Paradies stehen? Ich habe Tomaten auf den Augen, denkt Jonas und läuft zum Baum. Der Baum ist sehr alt. Seine Wurzeln sind weit verzweigt im Boden. In seinem Stamm ist ein großes Loch. Es sieht aus wie ein Tor. Das Tor zurück? Vielleicht! Jonas geht hinein. Alles ist dunkel und plötzlich wird er wie von Geisterhand bewegt. Ach, ja, das Laufband bringt ihn jetzt in ein anderes Paradies! Es kann ihn nicht in das salzige oder das geschmacklose Paradies bringen. Dessen ist Jonas sich ganz sicher. Wo würde er landen? Entweder wieder in dem weißen Raum oder aber in einem neuen Paradies. Er drückt beide Hände zusammen. Er wünscht sich so sehr, wieder dort in dem weißen Raum anzukommen. Da wo er schon einmal war, und wo seine Reise, oder soll man Irrfahrt sagen, begann. «Bitte, bitte!», sagt er beschwörend zu sich selbst. Nicht noch einmal ein Paradies. «Bitte!», Jonas hält sich seine Augen zu, obwohl es ganz dunkel ist. Er will nicht sehen, wohin ihn das Laufband bringt, denn er bewegte sich nicht mehr. Das Laufband hat ihn erneut an einen Ort gebracht. Er blinzelt und sieht etwas Helles. Vielleicht die Sonne im Paradies, aber es sieht eher aus wie der weiße Schnee bei den Zwergen. Er reißt seine Augen weit auf, und alles um ihn herum ist weiß. Oben, unten vorne und hinten. Überall! Als hätte er keinen Boden unter seinen Füßen, als würde er frei schweben. Und dann erschrick er. Jonas sieht seinen Vater, ganz weit weg ist er. Vater kann ihn nicht sehen. Jonas ruft laut «Vater, Vater, ich bin hier!», immer wieder. Aber der hört Jonas nicht. «Ich komme zu dir. Noch eine Aufgabe muss ich lösen. Dann bin ich wieder bei dir. Vater! Vater! Vater!»

«Ist ja gut, Jonas!», sagte der Dr. Schmelzer als Jonas die Augen öffnet. Dein Fieber ist noch hoch, aber du bist auf dem Weg der Besserung. Du wirst sehen, dass es dir nach ein paar Stunden wieder besser geht. Im Bett musst du schon bleiben. Erst mal eine Woche keine Schule. Bettruhe, damit du wieder auf die Beine kommst. Tante Elisabeth steht neben dem Arzt. In ihrer Hand hielt sie eine große Tasse Kakao. Jonas streckt seine Hand aus. Jetzt weiß er, dass er Vater bald wieder sehen würde. Er trinkt den Kakao und lächelt Tante Elisabeth und Dr. Schmelzer zu. Dann kommt seine Mutter zur Tür hereingestürzt. Sie nimmt Jonas in den Arm, weint und sagt nur: «was machst du denn für Sachen!». Sie streichelt ihm über das Haar und gibt ihm einen dicken Kuss. Seine Schwester ist eifersüchtig auf Jonas, weil er nun im Mittelpunkt. Sie streckt ihm die Zunge heraus. Jonas zeigt ihr einen Vogel und machte die Augen zu. Alles wird wieder gut, denkt er. Bald wird Vater wieder bei ihm sein.

Dr. Schmelzer und Jonas' Mutter haben sich ins Wohnzimmer gesetzt. Der Junge ist schon lange krank. Aber es ist seine Seele, die krank ist. Er hat den Tod seines Vaters immer noch nicht verkraftet. Mutter sieht Dr. Schmelzer an, als würde der ihr sagen können, was sie jetzt tun sollte. Jonas hat seinen Vater ganz plötzlich verloren. Er konnte sich von ihm nie richtig verabschieden. Genau das versucht er jetzt. Haben Sie Geduld mit dem Jungen, sagt Dr. Schmelzer, er wird sich bald wieder finden und der alte Jonas werden. Dr. Schmelzer gibt Jonas' Mutter die Hand und verabschiedet sich. In der Tür dreht sich Dr. Schmelzer noch einmal um. Morgen wird Jonas wieder auf dem Damm sein. Aber seine Mutter glaubt der Prognose nicht.

Kapitel 5: Der Spatz

Es ist Nacht. Der Vollmond scheint in Jonas Zimmer. Jonas ist hellwach. Er kann nicht schlafen. Er geht wieder zum Bücherschrank. Wo ist das Buch? Er sucht und findet es unter dem Bett. Habe ich es hier versteckt? Er ist aufgeregt und blättert im Buch herum als wolle er etwas suchen oder finden. Dann sieht er das Bild vom Paradies. Es sieht aus wie eine Schatzkarte. Der alte Mann ist auch zu sehen. Ja, dann kann die Geschichte weiter gehen, denkt Jonas. Noch einen Ort muss er aufsuchen. Er ist kurz vor seinem Ziel. Jonas ist sehr ungeduldig und hat auch ein wenig Angst. Was wird ihn erwarten? Alles ist wie in einem Märchen. Drei und wieder einmal Drei. Warum ist diese Zahl so wichtig? Drei, drei, … Jonas liegt auf seinem Bett, das Buch hat er aus der Hand verloren und die Bettdecke weggeworfen.

Vater hat ihn immer viel über die Sterne erzählt. Wie weit sie weg sind und dass man niemals mit einem Raumschiff zu anderen Galaxien reisen kann. Das ist nur in der Fantasie möglich. Und die macht auch, dass die Sterne so aussehen wie Bilder. Wenn man sie nur richtig anschaut, dann sieht man einen großen und kleinen Wagen. Oder am Himmels ist ein roter Stern zu sehen. Das ist der Mars. Er ist gar nicht so weit weg und man könnte auch zu ihm hin fliegen. Allerdings würde das mehrere Monate dauern. «Vielleicht erlebst du es ja, dass die Menschen zum Mars fliegen. Ich werde es nicht mehr erleben!», hatte Vater damals gesagt. Eigentlich ist es Jonas gleichgültig, ob irgendwann einmal irgendwer zum Mars fliegt. Davon haben die Menschen doch nichts, außer einem großen Schauspiel. Das muss auch so gewesen sein, als die ersten Menschen auf dem Mond landeten. Ein großer Schritt für die Menschheit hat es damals geheißen. Aber viel geändert hat sich dadurch auch nichts.

Vater glaubte, dass die Menschen anders denken, wenn sie die Sterne betrachten. Sie merken, wie unbedeutend sie sind im Vergleich zum Universum. Aber das ist eben nur ein Blitzgedanke, der gleich wieder vergessen ist. Schade, denn sonst würden die Menschen auch bemerken, wie einzigartig sie sind. Und vielleicht sind sie sogar die einzigen denkenden Lebewesen im ganzen Universum und die Erde der einzige Ort, der bewohnbar ist. Obwohl das sehr unwahrscheinlich ist, bei den vielen Planeten, die es im Weltall gibt, hat dieser Gedanke Jonas immer fasziniert: Allein im Universum, Kontakt nicht möglich, gefangen wie die Fliege im Glas.

Am Nachthimmel war ein heller Streifen zu sehen. Es ist eine Sternschnuppe und Jonas sieht sie auch. Gleich wünscht er sich etwas, weil Wünsche dann in Erfüllung gehen, wenn man eine Sternschnuppe sieht. Das hat Vater ihm einmal gesagt und Jonas wünscht sich seinen Vater herbei. Beide sollen am Fenster stehen, in die mondhelle Nacht schauen und Vater soll ihm die Namen der Sterne am Himmel sagen. «Du hast doch ein Programm, dass dir den Sternenhimmel zeigt!», sagt sein Vater und Jonas steht auch gleich auf und schaltet seinen Computer an. Hier kann er den Sternenhimmel von seiner Position aus genau sehen. Und die Sternennamen sehen auch an den hell leuchtenden Punkten, so wie sie Jonas gerade sieht.

Jonas richtet den künstlichen Sternenhimmel nach Südwesten aus, weil sein Fenster in dieser Richtung ist. Der helle Punkt ist Beteigeuze. Er schaut im Internet nach dem Namen. Dort liest er, dass Beteigeuze einer der hellsten Sterne am Nachthimmel und riesengroß ist. Der Radius ist ca. 290 Millionen Kilometer. Jonas schreibt sich die Zahl auf ein Blatt Papier. Dann schreibt er die Zahl als Zahlwort und immer wieder aber immer größer. Schließlich hat er zehn Heftseiten mit der Zahl vollgeschrieben und stutzt. Hat nicht Vater eben mit ihm geredet. Er hat es ganz genau gehört. Ich soll den Computer einschalten, hat er gesagt. Aber das kann nicht sein! Außer mir ist hier niemand. Doch, ein Spatz auf dem Fensterbrett. Und als Jonas seine Hand nach ihm ausstreckt, ist er schon im Nachthimmel verschwunden.

Venus und Jupiter zeigt das Computerprogramm am Nachthimmel und Jonas findet sie im Sternenhimmel. Dann sieht er einen zweiten sehr hellen Stern. Es ist Sirius. Ein schöner Name, denkt Jonas und schaut im Internet nach, was er bedeutet. Brennender Stern passt gut, weil Sirius sehr hell ist. Wegbegleiter passt auch gut, weil man sich sehr gut an ihm orientieren kann. Aber was der Name nun wirklich bedeutet, weiß Jonas immer noch nicht.

Jonas erinnert sich an seine Lieblingsgeschichte: Der Kleine Häwelmann. Auch er kann nicht schlafen. Jetzt fehlt ihm nur noch das Segel, dass ihn zu den Sternen bringt, wenn er nur genügend pustet. Er geht zum Bücherschrank und kramt das Buch hervor. Da hat auch Vater etwas hineingeschrieben: Geduld, Tapferkeit und Eigensinn steht dort in Vaters Handschrift. Geduldig ist Jonas nicht. Er will endlich den dritten Ort aufsuchen.

Jonas hört Stimmen auf dem Flur. Er geht zur Tür und lauscht. Es ist Mutter, die mit Onkel Martin telefoniert. Sie glaubt, dass Jonas viel kränker ist, als sie dachte. Sie will einen Rat von Onkel Martin. Der sagt ihr, dass Jonas eine Weile bei ihm bleiben könnte. Vielleicht kommt er dann auf andere Gedanken. Das ist vielleicht eine Möglichkeit, sagt Mutter, aber ich habe auch schon daran gedacht, mit ihm allein an die See zu fahren. Dort ist er immer am liebsten gewesen. Dann weint Mutter. Warum hat er das nur gemacht? Er brauchte doch gar nicht auf die Bohrinsel. Daniel hatte eine neue Stelle in der Verwaltung. Immer wieder hat er mir gegenüber gesagt, dass es das letzte Mal sei. Ich habe ihn angefleht, dass er hier bleiben soll. Geh nicht, bleib hier. Du weißt nicht, was passiert, wenn du so überarbeitet bist, auf der Bohrinsel einen Fehler machst. Aber Daniel wusste es besser. Er hält das durch. Danach wird alles besser sein, hat er immer wieder gesagt. Ich hätte ihn nicht gehen lassen sollen.

Das Haus kann ich nicht mehr halten. Die Belastung durch die Hypothek ist zu groß. Wenn ich das Geld von der Risikolebensversicherung erhalte, dann werde ich wegziehen. Eine Arbeit muss auch her. Aber kann noch warten. Hauptsache Jonas geht es bald wieder besser. Dann wird auch für mich alles leichter. Mutter legt den Hörer auf. Es ist still und Jonas ist wütend. Er schlägt mit dem Fuß gegen die Bettkante. Das tut weh und er vergisst seine Wut. Er schmeißt sich auf das Bett und weint.

«Wo bist du? Komm mit Jonas. Ich bringe dich fort von hier!». Ein kleiner Spatz am Fenster will mit Jonas wegfliegen. «Wie soll das gehen?», stotter Jonas. «Aber das ist doch ganz einfach, Jonas. Du stehst auf und dann atmest du ganz tief aus. Bis keine Luft mehr in deinen Lungen ist. Dadurch wirst du leichter. So leicht, dass du fliegen kannst. Wusstest du das denn nicht?» Piep. «Du willst mich veralbern, oder?», sagt Jonas. «Aber ich doch nicht. Bin viel zu klein dafür. Probiere es doch einfach. Wenn es nicht klappt, dann passiert eben nichts. Wenn es aber klappt, dann kannst du fliegen, Jonas, fliegen, wäre das nicht wunderschön?», antwortet der kleine Spatz.

«Wohin würdest du am liebsten fliegen, Jonas?». «In die Stadt der Kinder natürlich, dort wartet mein Vater auf mich.». «Ach ja! Ich habe von der Gans und dem Storch schon davon gehört. Wie, die wissen wie man dorthin kommt? Aber klar doch. Weißt du denn nicht, dass die jedes Jahr nach Süden fliegen, weil es hier zu kalt wird.». «Doch, das habe ich schon gehört. Also liegt die Stadt der Kinder im Süden?». «Das ist nur halb richtig.». «Halb richtig, gibt es nicht. Entweder oder», sagt Jonas zum Spatz. «Na ja, du musst durch ein Tor fliegen. Das Tor ist im Himmel und du kannst es nur dann sehen, wenn du zu einer bestimmten Uhrzeit am Ort bist.». «An welchem Ort?», will Jonas wissen. «An dem Ort eben. Du wirst schon sehen. Also wie wäre es? Probierst du es aus mit dem Fliegen?».

«So einfach ist das aber nicht. Durch das Tor fliegen und dann in der Stadt der Kinder sein. Ich muss erst das Geheimnis dreier Orte ergründen, dann kann ich zu meinem Vater.» «Ja, du hast recht. Wer zum ersten Mal durch das Tor fliegt, der kommt nicht sofort in diese Stadt. Er muss durch, aber ich kann ich dir nicht sagen, wo du herauskommst, denn das musst du selbst herausfinden.» Jonas will mehr erfahren. Er bietet dem Spatzen ein Stück von seinem Keks an. Der macht sich direkt darüber her. «Du kannst noch mehr haben,», sagt Jonas, «wenn du mir von diesem Ort erzählst.». «Das kann ich nicht. Ich darf keine Geheimnisse verraten. Auch dann nicht, wenn du mich fütterst.». «Aber schau doch, den wundervollen Keks an. Den kannst du ganz haben, wenn du mir …». «Ja, ich weiß, dass du unbedingt zu deinem Vater willst. Aber wenn ich dir alles verrate, dann kommst du nicht in die Stadt der Kinder. Niemals! Und das willst du doch nicht.». «Das verstehe ich. Kannst den Keks trotzdem haben.». «Also, wollen wir losfliegen, bist du bereit Jonas?», fragt der Spatz Jonas. «Keine Frage!», sagt Jonas und atmet ganz tief aus.

Kapitel 6: Jonas kann fliegen

Schon schwebt Jonas über seinem Bett. Er legt den rechten Arm an die linke Schulter und dreht sich in der Luft. Dann hält er beide Arme gerade nach vorn über am Kopf ausgestreckt. Nun sieht er aus wie Superman, aber er möchte lieber Normalman oder Dieselman sein. Das hat er früher, als er noch sehr klein war, immer mit Vater gespielt. Er stellt sich vor, dass er auf seinem T-Shirt ein große D gemalt hat und spielt Dieselman, der Retter der Entrechteten. Das Bett ist der böse Malipali, der die Menschen manipuliert. Den wird er jetzt mit einem Hieb den Kopf abhauen. Dann sind die Menschen von ihm endlich befreit. Wie mag es Tharia gehen, denkt Jonas und schlägt mit seiner linken Hand zu, als hätte er ein riesengroßes Schwert in der Hand. Doch da dreht er sich um seine eigene Achse. Einmal, zweimal, streckte die Hände aus, ruft der Spatz und Jonas versteht ihn. Endlich ist die Karussellfahrt zu Ende. Er sieht wieder auf sein leeres Bett: «Wie soll es jetzt weiter gehen?», ruft Jonas. «Ganz einfach!», sagt der Spatz, «Du musst deine linke oder rechte Hand ausgestreckt und in die Richtung halten, in die du fliegen willst.». Jonas dreht seine linke Hand zum Fenster und siehe da, er dreht sich ebenfalls langsam zum Fenster. «Und jetzt stößt du dich mit beiden Beinen ab, als wärst du im Schwimmbecken und wolltest tauchen.». Schwupp und Jonas schwebt aus dem Fenster in die mondhelle Nacht. Aber kalt ist es draußen. Mit seinem T-Shirt bekleidet wird er nicht weit kommen. «Ich muss noch einmal zurück!», ruft er dem Spatzen zu, der neben ihm fliegt. «Es ist viel zu kalt! Ich brauche eine Jacke und Socken und eine dicke Hose!». «Du weißt ja, was du zu machen hast!», und Jonas steuert mit seiner linken Hand eine enge Kurve zurück zum Fenster. Da muss er jetzt durch, aber wie hält man an. Das hatte der Spatz ihm nicht gesagt. Er fliegt mittenmang auf den Bücherschrank zu und holt sich eine Beule am Kopf bei der Landung. «Ach ja, habe ich doch glatt vergessen, dir zu sagen, wie man landet.», piepst der Spatz, der auf Jonas Bauch Platz genommen hat. «Wenn du landen möchtest, dann musst du deine Beine in beide Hände nehmen.». «Hättest du mir auch früher sagen können!». Jonas kramt im Kleiderschrank. Er sucht sich eine warme Jacke. Draußen ist es sehr kalt. Bald wir es vielleicht schneien. Eine warme Hose braucht er und nimmt die Thermohose, die eigentlich für das Skifahren gedacht ist. Zwei Paar Socken zieht er über, als wollte er zum Südpol fliegen und eine dicke Wollmütze zieht er sich auch noch über den Kopf. Jonas sieht aus wie ein Polarforscher in seiner Winterkleidung. Stopp! Handschuhe fehlen noch. Jetzt kann es losgehen. Jonas ist sichtlich erfreut über seine neue Bewegungsfreiheit. Jetzt kann er überall hinfliegen, ohne dass er in einem Stau steht und blöde warten muss.

Jonas ist wieder draußen. Er dreht Loopings, enge Kurven und macht sogar in der Luft einen Purzelbaum. So leicht ist das. Hier ist die Freiheit vielleicht grenzenlos? Jonas düst über die Straßen der Stadt. Er nimmt die engen Kurven in der Luft. Die Ampel zeigt rot, aber Jonas düst weiter. Er braucht jetzt keine Verkehrsregeln. Muss nicht auf die Autos achten, die unten auf den Straßen fahren. Er ist hier an der frischen Luft und leicht wie eine Feder. Wenn er wieder zurück ist, dann wird er den Trick mit dem Fliegen Heino verraten, dem er die blaue Brille abgeluchst hat. Sophie hat im Internet herausgefunden, dass Heino ein Schlagersänger war, der sehr viele Volkslieder vertont hat. Seitdem wird Heino ausgelacht. Da kannst du nichts tun, sagte Heino einmal zu Jonas. Wenn andere sich über dich lustig machen, darfst du dich nicht drüber aufregen. Die Blöden sind eben die anderen. Wäre das Jonas passiert, hätte er sich geprügelt. Das hätte er nicht auf sich sitzen lassen. Und den Mädchen hätte er Spinnen, Würmer und Mäuse in die Taschen gelegt. So richtig ekliges Zeug eben, dass die vor Ekel anfangen zu schreien. Aber Heino ist anders und irgendwie musste Jonas ihn doch vor den anderen beschützen.

«Der Rächer der Lüfte! Ich mache einen Abstecher zum Fluss!», schrie Jonas den Spatzen an. «Was willst du da?», piepste der Spatz laut zurück. «Sag ich nicht!» und Jonas steuert mit seiner rechten Hand direkt auf den Fluss zu. Die Landung ist diesmal perfekt. Er nimmt seine Beine in beide Hände und schwebt langsam zu Boden. «Hier an dieser Stelle gibt es sehr viele Würmer. Die braucht man fürs Angeln. Aber nicht nur dafür sind die gut. Damit kann man auch prima Daniela erschrecken.». Die stand ganz oben auf Jonas' Liste. Die war nicht nur eingebildet, sondern auch böse. Einmal hat sie den Lehrer belogen und hat gesagt, dass Jonas sie bedroht hätte. Daraufhin gab es einen riesigen Aufstand in der Schule. Jonas musste zum Schulpsychologen. Aber auf die Idee zu kommen, dass Daniela gelogen hat, nichts da. Jetzt werde ich der einfach die Würmer ins Bett legen. Und schon ist Jonas wieder in der Luft und steuert direkt auf Danielas Haus zu. Sie wohnt in einer Siedlung. Dort gibt es Bungalows und in dem grauen Bungalow wohnt sie. Jonas fliegt um das Haus herum. Da sieht er ein offenes Fenster. Und da liegt sie auch. Die schminkt sich schon, weil sie die schönste in der Schule sein will. Sängerin will sie werden, weil sie eine so grässliche Stimme hat oder auf dem Laufsteg Kleider präsentieren. Das hat sie schon in der Schule auf dem Klassenfest gemacht. Und die Eltern haben sogar applaudiert. Jetzt muss alles schnell gehen. Die Würmer aus der Tasche geholt. Die Bettdecke gelupft und alle rein damit. Das wäre also erledigt. Jetzt nur noch warten, bis die Kuh wach wird und anfängt die ganze Siedlung durch ihr Schreien aufzuwecken.

«Aber wir müssen weiter, Jonas!», mahnt der Spatz. «Wenn es wieder hell wird, dann ist es mit deinen Flugkünsten vorbei. Dann bist du wieder ein ganz normaler Junge. Und du willst doch zu deinem Vater?». «Na klar, aber erst habe ich noch ein paar andere Dinge zu erledigen. Du siehst ja, was ich alles noch tun muss, bevor ich zu dem Tor fliege. Wie ist das denn, wenn ich heute nicht zum Tor fliege? Habe ich dann morgen noch eine Chance?». «Na klar, aber wenn du es zu lange aufschiebst, dann wird dein Vater die Stadt der Kinder verlassen. Denn er muss gehen, er kann nicht bleiben.». «Versteh ich. Ich werde mich auch beeilen. Morgen treffen wir uns wieder und dann muss ich noch zu Oskar und Hannes. Denen muss ich es noch zeigen!».

Am nächsten Tag kommt Heino zu Jonas. Er berichtet von der Schule. «Schlimmes hat sich ereignet. Die Polizei war da. Also das Ganze lief so ab: Du kennst doch die Daniela, unser Model, die kam heute total aufgelöst in die Schule. Konnte in der großen Pause nur allein sein. Jeder hat sie angeschaut, sie hat sich aber immer weggedreht. Dann hatten wir Mathematik. Die ist doch so ein Mathegenie. Also ihr wurde schlecht. Sie wollte unbedingt auf das Klo. Aber diesmal habe ich ihr geglaubt. Denn sie hat sich dort bestimmt nicht mit Yusuf zum Knutschen getroffen. Als sie draußen war, gab es plötzlich einen mordsmäßigen Schrei. Da war doch tatsächlich eine Drogensüchtige auf unserer Schülertoilette. Die Polizei wurde sofort informiert. Der Lehrer hatte seine Schwierigkeiten, den Unterricht fortzuführen. Wir waren alle mit Daniela beschäftigt, die weinte und hatte sich in eine Ecke verkrochen. Der Lehrer hat sie nach Hause geschickt. Katja hat sie begleitet, wer sonst. Aber Hannes und Oskar sind mächtig nervös geworden. Hatten wohl ihre Pillen mit, die sie in der Schule verticken. Und Anton, der Angeber, hat gleich von einer Leiche erzählt, die sein Bruder mal in einem Park gefunden hätte. Der Aufschneider muss immer noch einen obendrauf setzen.

Danach kam die Polizei auch in unsere Klasse. Im Gewühl hatten sich Oskar und Hannes verdrückt. Beide erschienen dann aber plötzlich wieder auf der Bildfläche. Irgendwie müssen die den Bullen bekannt sein. Sie wurden beiseite genommen und im Lehrerzimmer verhört, glaube ich. Wir haben dann freibekommen. War sowieso nichts mehr zu machen an diesem Tag. Deshalb bin ich auch gleich zu dir gekommen.».

«Der Hannes ist ein echter Scheißkerl!», antwortete Jonas. «Der Oskar ist nur sein Spannmann. Der macht alles, was der Hannes ihm sagt. Meine Schwester, Carla, geht mit ihm in dieselbe Klasse. Die findet den ganz nett. Kein Wunder, denn der könnte Model für Jugendmode sein. Eine Zeit lang hat er mich immer in der Schule belästigt und wollte mir Angst machen. Wenn wir aus der Pause in die Klassen gegangen sind, stand der unten an der Treppe und hat mir aufgelauert. Dann hat er mich gegriffen und gesagt, dass er mich fertig machen würde, weil ich ein Verräter sei. Ich wusste nicht, was der damit meinte. Aber der hatte mich wohl auf dem Kieker. Eines Tages stand er wieder an der Treppe. Seine Wut auf mich konnte ich in seinem Gesicht sehen. Jetzt sei es endlich genug, schrie er mich an. Du glaubst wohl, etwas Besseres zu sein. Du könntest mich einfach ignorieren. Da hast du dich aber geschnitten. Entweder du zahlst morgen 5 Euro, oder du bekommst eins auf die Fresse! Kapitol! Danach kam die Aufsicht und er hat sich verdrückt, als sei nichts gewesen. Aber am nächsten Tag baute er sich vor mir auf und streckte mir die offene Hand entgegen, als wir auf dem Schulhof waren. Was er von mir wolle, wollte ich wissen. Die fünf Euro natürlich, schon vergessen, schrie er mich an und drohte mir mit seiner Faust. Er wollte mir mitten ins Gesicht schlagen und holte schon aus. Sein ganzes Gewicht legte er in den Faustschlag, damit er mir auch richtig weh tun konnte. Aber dann machte ich eine schnelle Ausweichbewegung nach links und er flog auf den Schulhof. Hat sich seine Nase aufgeschlagen und mir Drohgebärden gemacht. Aber ich wusste, dass der mir nichts mehr tun würde.». Heute Nacht sind Oskar und Hannes dran, dachte sich Jonas, er würde dem Spiel ein Ende machen.

Heino war inzwischen gegangen. Jonas will heute Abend zur alten Fabrik fliegen. Dort treffen sich Hannes und Oskar mit ihrer Gang. Er will alles mit seiner Camcorder aufnehmen. Dazu muss er nur nah genug an sie ran kommen. Danach will er das Beweismaterial der Polizei zukommen lassen. Selbst Heino hat er nicht in seinen Plan eingeweiht. Es soll alles geheim bleiben. Niemand darf wissen, dass er die beiden bei der Polizei angezeigt hat. Er macht seinen Computer an und sieht sich das Gelände um die alte Fabrik ganz genau an. Im Unterholz kann er sich verstecken. Der Mond scheint hell genug, um die Aufnahmen zu machen. Um Mitternacht wird er dort hinfliegen. Sieht alles bestens aus.

Jonas schaut auf den Computer. Das Bild hat sich geändert. Jetzt sieht er ein Tor und neben dem Tor sind zwei Löwen aus Stein. Die bewachen das Tor, denkt er. Aber wo ist das Tor? Er schreibt sich die Koordinaten auf. Längengrad und Breitengrad und sieht auf seinem Globus nach, wo das sein könnte. Mitten im Pazifik muss das Tor liegen. Wie soll er dorthin kommen? Hinfliegen würde ja Tage dauern. Ob der Spatz das weiß. Aber vielleicht ist es gar nicht das Tor, durch das er muss, um in den letzten Ort zu gelangen. Dann dreht sich das Computerbild erneut. Jetzt wird ein Punkt vor Norwegen angezeigt. Hier hat Vater auf der Bohrinsel gearbeitet. Jonas zoomt heran und tatsächlich sieht er die Bohrinsel. Was soll das? Und Jonas glaubt, dass seine Zeit knapp wird, um Vater wiederzusehen. Was soll er tun? Wenn er heute Abend zur alten Fabrik fliegt, dann hat er wieder einen Tag verloren. Vielleicht ist dann das Tor, durch das er muss, schon geschlossen oder Vater hat die Stadt der Kinder verlassen. Wenn er aber nicht zur Fabrik fliegt, dann werden Hannes und Oskar ihre schmutzigen Geschäfte weiter betreiben. Das kann er nicht zulassen.

Jonas muss sich entscheiden. Beide Dinge kann er nicht gleichzeitig tun. Das ist unmöglich, dass ein Mensch zur selben Zeit an zwei verschiedenen Orten ist. Das wussten schon die Griechen oder besser gesagt, die Gelehrten unter den Griechen. Vater hat ihn einmal von Aristoteles erzählt und was der alles herausgefunden hat. Unter anderem auch diesen Satz. Deshalb müssen sich die Menschen vielleicht auch immer für etwas entscheiden, was sie tun sollen und sich damit auch immer gegen etwas entscheiden, was sie nicht tun werden.

Wenn Jonas zur alten Fabrik fliegen würde, dann würde er das Treffen mit seinem Vater in der Stadt der Kinder aufs Spiel setzen. Spiele sind immer offen. Vielleicht gewinnt man, wenn man Glück hat, oder man verliert und guckt in die Röhre, wie Onkel Martin manchmal sagt. In jedem Fall riskiert Jonas, seinen Vater nie mehr zu sehen. Und er muss sich doch von ihm verabschieden. Das kann er nicht riskieren. Sein Vater ist ihm viel wichtiger als diese blöde HNO-Bande hochgehen zu lassen. Hannes Oskar aber wofür steht das N? HNO-Bande klingt gut, denkt Jonas, so wie HNO-Arzt. Er lacht, aber eins ist ihm klar geworden: heute Nacht wird er nicht zur alten Fabrik fliegen, heute Nacht wird er mit dem Spatzen zum Tor fliegen und sich auf den Weg zum letzten Ort machen, den er aufsuchen muss.

«Abendessen!», hört Jonas seine Mutter rufen. Er schlurft die Treppen herunter in die Küche. Dort sitzen Clara, Tante Elisabeth und Mutter am Tisch. Es gibt süße Knödel mit Butter und Zucker. Das mag Jonas besonders gern. Clara steht auf und rutscht Jonas' Stuhl vom Tisch weg, damit er sich hinsetzen kann. Hier für unseren kleinen König. Mutter ist genervt von Claras Eifersucht. Könnt ihr euch gar nicht mehr vertragen? Aber der ist so blöd, sagt Clara und Jonas nimmt Platz. Dabei stößt er den Teller mit den Knödeln um. Alles landet bei Clara auf dem Schoß. Die schreit laut und läuft ins Badezimmer. Mutter hinterher. Tante Elisabeth schaut Jonas strafend an. Das war aber jetzt nicht nötig, sagt sie und gibt Jonas einen neuen Teller mit zwei großen Knödeln drauf. Jonas verputzt sie im Nu. «Habt ihr noch welche?», doch bevor Tante Elisabeth antworten kann, kommen Mutter und Clara zurück. Clara setzt sich Jonas gegenüber und Mutter nimmt neben ihm Platz. «Aber du hast ja schon angefangen!», beschwert sich Clara und Jonas antwortet, dass er einen Bärenhunger hatte. Clara will, dass Jonas bestraft wird. Sie glaubt, er habe ihr absichtlich den Teller mit den Knödeln über ihren Schoß ausgekippt. Jonas könnte das leugnen und einfach sagen, dass es aus Versehen passiert ist. Aber das tut er nicht. «Genau!», sagt er, «Ich habe das getan, weil du eine solche blöde Zicke bist. Und wenn du weiter hier herumzickst, dann kommt der nächste Knödel geflogen. Diesmal aber mitten ins Gesicht.». Jonas, ermahnt ihn seine Mutter. Sie duldet Jonas' Wutausbrüche nicht. «Wenn ihr nicht zivilisiert am Tisch sitzen und euch vertragen könnt, dann gibt es Ausgehverbot!». Ausgehverbot für Clara, das ist gut, denkt Jonas. Clara ist auch direkt aufgebracht. «Wer ist denn hier mit Knödeln beworfen worden? Ich bin das Opfer und will jetzt, dass der Jonas seine Strafe dafür bekommt. Aber eine richtige Strafe muss es für ihn sein. Wie wäre es mit Taschengeldkürzung?». «Von mir aus!», sagt Jonas. «Ich bin eh krank und kann kein Geld ausgeben.». Clara ist wütend und verlässt den Tisch. Mutter weint, weil die Geschwister sich nicht vertragen können und die Probleme immer mehr werden anstatt weniger. Tante Elisabeth schickt Jonas auf sein Zimmer. «Ich glaube, deine Mutter will jetzt allein sein. Streitende Kinder sind jetzt nicht das richtige für sie, wenn die Nerven blank liegen.», sagt sie. Jonas gibt Mutter einen Kuss und sagt ganz leise: «Entschuldigung!». Das meint er auch so. Er ist zu weit gegangen. Er will nicht, dass Mutter seinetwegen weint. Jonas streichelt ihr durchs Haar, so wie es Vater immer gemacht hat. Mutter schaut auf und sieht ihm tief in die Augen. Da sieht Jonas in den Augen seiner Mutter seinen Vater. Und Jonas küsst sie noch einmal.

Jonas ist auf seinem Zimmer. Es klopft an der Tür. Er macht auf und Clara steht vor ihm. Jetzt hätte er schreien können, so wie sie es tut, wenn er in ihr Zimmer kommt. Aber er ist ganz ruhig. Dann gibt Clara ihm eine Ohrfeige und sagt: «das ist für die Knödel!». Danach tritt sie ihm ins Schienbein und sagt: «das ist für dich du Arschsack!». Jonas hätte wiederum schreien können, aber er bleibt ganz ruhig. Claras Schläge tun nicht weh. Er versteht sie sogar. Sie will für das Unrecht an ihr Genugtuung. Clara ist verwundert und sieht ihn stumm an. Damit hat sie nicht gerechnet. «Warum bist du so gemein zu mir?», fragt sie Jonas und der sagt nur: «Weil ich alles ungerecht finde.». «Was findest du ungerecht?», will Clara wissen. «Vater ist einfach gegangen.». «Aber das war doch ein unglücklicher Unfall!». «Nein, Mutter hat ihn gebeten, diesmal nicht auf der Bohrinsel zu arbeiten.». «Woher weißt du das?», fragt Clara Jonas. «Ich habe Mutter belauscht als sie mit Tante Elisabeth sprach. Vater sollte einen Büroposten bei der Ölfirma übernehmen. Dann wäre er die ganze Zeit bei uns gewesen.».

«Vermisst du ihn nicht?», fragt Jonas Clara. «Zuerst habe ich ihn sehr vermisst. Aber dann habe ich mir gedacht, dass ich nichts daran ändern kann. Also muss ich irgendwie ohne ihn fertig werden. Da bin ich einfach öfter bei meinen Freundinnen gewesen und habe mich auf andere Gedanken bringen lassen. Aber so richtig hat das nicht funktioniert.». Jonas streckt Clara die Hand entgegen. «Frieden?». «Ja klar!», sagt sie und schlägt ein.

Kapitel 7: Das Tor

Jonas hat sein Fenster in seinem Zimmer sehr weit aufstehen. Draußen ist es windig. Der Spatz wird bald kommen, dann fliegt er mit ihm zum Tor. Endlich wird er in der Stadt der Kinder seinen Vater wieder sehen, um sich von ihm zu verabschieden. Piep, piep! Es ist soweit.

«Heute wird es mit dem Fliegen nicht so leicht werden!», flüstert der Spatz in Jonas Ohr. «Warum flüsterst du?», ist Jonas erschrocken, weil er den Spatzen nie Flüstern gehört hat. Außerdem kommt es ihm vor, als sei heute alles verkehrt. Er hat Angst, dass es inzwischen zu spät ist, weil sein Vater schon längst gehen musste. «Ich brauche deine Aufmerksamkeit!», antwortet der Spatz. «Heute ist es sehr windig, vielleicht kommt ein Sturm auf, da sind deine Flugkünste gefragt.», lässt der Spatz Jonas wissen. Doch das beunruhigt Jonas nicht, weil er bei den letzten Flügen immer sicherer wurde. Er musste nicht mehr darüber nachdenken, wie er den Flug steuern konnte. Die Landung ist ihm auch in Fleisch und Blut übergegangen. So wie damals, als er mit Papa unterwegs war und sie an einem Bach mit bloßer Hand Bachforellen fingen. Zuerst hat nichts geklappt, aber als Vater ihm sie impulsartige Bewegung ein paar Mal gezeigt hatte, konnte er seine erste Forelle selbst fangen.

«Wir sind jetzt wie die Bären, die sich mit selbst gefangen Lachsen den Bauch voll machen!», lachte sein Vater damals und gab Jonas einen Kuss auf die Stirn. Jonas lachte zurück und sah zu ihm auf: «Aber roh werde ich die Forellen nicht essen!». «Nein, wir gehen gleich zum Grillplatz und dann essen wir den Stockfisch. So wie Huckleberry Finn und Tom Sawyer es damals gemacht haben, als sie allein auf der Flucht vor Indianer Joe auf der kleinen Insel im Mississippi waren.», antwortete sein Vater und beide verschwanden in Richtung Grillplatz. Der Fisch hat Jonas aber nicht geschmeckt, er mochte lieber Fleisch. «Was denkst du?», fragt der Spatz Jonas. «Ach, nichts! Lass uns aufbrechen, bevor es zu spät ist!»

«Aber der Wind ist zu stark! Ich kann nicht zum Tor fliegen.», gab der Spatz Jonas zu bedenken. Jonas überlegte nicht lange und zog sich seinen Kapuzenpullover an. Er platzierte den Spatzen direkt neben seinem rechten Ohr, sodass sein Köpfchen aus der Kapuze herauslugte und ihm Fluganweisungen zuflüstern konnte. Dann sprang er aus dem Fenster und die erste Windböe trieb ihm vom Kurs ab, den der Spatz direkt korrigieren konnte. «Woher wissen die Vögel, wohin sie fliegen müssen?», hatte Jonas seinen Vater einmal gefragt. «Schlag es selber nach! Steht im Internet! Lesen kannst du ja schon!», gab er Jonas zu verstehen und der las wie die Vögel sich am Magnetfeld der Erde orientieren konnten – sie hatten einen eingebauten Kompass, der ihnen die Richtung wies. Jetzt hatte Jonas auch einen Kompass am rechten Ohr und er konnte sicher sein, das Tor zu erreichen.

«Wir besuchen Tante Jenny in England! Freust du dich, Jonas?», hörte Jonas Vater sagen. Damals war Jonas sechs Jahre alt und wusste nicht, wo England war. Deshalb kam sein Papa in die Höhle, die sich Jonas aus Decken und Holzstangen in seinem Zimmer gebaut hatte. Er zeigte ihm auf einer Landkarte, dass sie erst nach Calais in Frankreich mussten und dann mit einer Fähre nach Dover in England fahren mussten. Dann ging es weiter mit dem Bus nach Bath, dort wohnte die Schwester seines Vaters.

Die Überfahrt war für Jonas eine Katastrophe. Es war stürmisch und die Fähre konnte erst viel später losfahren. Jonas mochte es nicht, solange zu warten. Er quengelte ständig und wollte wissen, wann es endlich losginge. «Wenn der Sturm nachlässt!», sagte seine Mutter fürsorglich und nahm Jonas in den Arm. Und dann legte die Fähre endlich ab.

Es schaukelte unaufhörlich. Jonas wurde schlecht. Sein Magen drehte sich um. Diesen Ausdruck hatte er von seinem Vater. Jonas schluckte mehrmals. Er wusste, dass er sich bald übergeben musste. Jonas schämte sich und wollte nicht zugeben, dass er sich bald übergeben musste. Das hätte Carla bestimmt ausgenutzt, um ihn zu verspotten. Deshalb stand er auf und schlich zur Toilette, die Hand vor dem Mund, ohne den Eltern Bescheid zu sagen. Die machten sich große Sorgen, als sie merkten, dass Jonas nicht mehr bei ihnen war. «Wo ist der Junge hin, Carla?», fragte Mutter besorgt. «Woher soll ich das wissen! Der macht doch sowieso immer das, was ihm gerade in den Sinn kommt!». «Dann gehe ich in Suchen! Ihr bleibt hier, damit wir uns nicht verlaufen!», hatte sein Vater gesagt und machte sich auf, Jonas zu finden. Aber der war auf der Toilette und spuckte zuerst bis er sich endlich übergab. Danach war alles wieder gut. Für Jonas ja, aber für seinen Vater nicht, der auch an Deck ging, um Jonas zu suchen.

Er wurde immer besorgter als er Jonas nicht finden konnte und entschied sich, dem Kapitän der Fähre nach Jonas ausrufen zu lassen. So wurde Jonas sogar überall auf dem Schiff gesucht. Auch Jonas hörte das auf der Toilette. Jetzt musste er schnell zurücklaufen, denn er wusste genau, dass sich seine Eltern riesige Sorgen machten, weil sie nicht wussten, wo er war.

Als alle wieder am Tisch vereinigt waren, dachte Jonas, dass er sich jetzt eine Standpauke anhören musste. Aber seine Eltern reagierten liebevoll, umarmten den verlorenen Sohn. «Ich hätte etwas sagen sollen!», gab Jonas kleinlaut zu, als er die Tränen im Gesicht seiner Mutter merkte. «Ja, das hätte uns viele Sorgen erspart! Aber wir sind überglücklich, dass sich alles sich in Luft aufgelöst hat!», sagte sein Vater mit erleichterter Stimme. «Wir sind gleich da!», hörte Jonas in seinem rechten Ohr. «Dann muss ich gehen, denn ich werde dich nicht begleiten, wenn du durch das Tor in die Stadt der Kinder fliegst, oder soll ich besser sagen düst!».

Jonas konnte schon das Tor in der Ferne sehen. Jetzt war es Zeit, den Spatz freizulassen. Er lupfte ein wenig die rechte Seite seiner Kapuze, damit der Spatz davon fliegen konnte. Jetzt war er allein. Vor sich das große Tor zur Stadt der Kinder. Jonas visierte das Tor an, korrigierte seinen Kurs, schloss die Augen und flog mit Vollgas auf das Tor zu. «Augen zu und durch!», waren die Worte seines Vaters, an die sich Jonas jetzt erinnerte.

«Augen zu und durch!», ist Jonas aber auch einmal zum Verhängnis geworden. Als er fünf Jahre alt war, wohnte die Familien im ersten Stock einer stillgelegten Grundschule. Die Zimmer waren durch einen langen Flur getrennt. Am einen Ende befand sich eine riesige Küche und links und rechts vom Flur lagen die Zimmer. Das Schlafzimmer der Eltern war am anderen Ende zum Flur und hatte ein Fenster zum Hof heraus und der Flur auch. Von dort aus kam man auf ein moosbedecktes Vordach, das den gepflasterten Eingangsbereich der Schule vor Regen schützte.

Es regnete und Jonas wusste nicht, was er machen sollte. Vater brauchte Ruhe und Mutter war in der Küche. Er war allein, denn Carla konnte schon in die Schule gehen. Jonas musste noch ein Jahr warten. Sein Papa hatte ihm eine Zeitschrift geschenkt. Dort waren viele Bilder von Flugzeugen zu sehen. Und am Ende war ein Bastelbogen für ein selbstgebautes Flugzeug aus Balsaholz. Ein sehr leichtes Holz, das ideal zum Bau von Flugzeugen war, die man im Haus fliegen lassen konnte. «Was willst du Jonas?», frage seine Mama als er in der Küche auftauchte. «Ich brauche Kleber für mein Flugzeug!», antwortete Jonas. «Schau in der Krimskramschublade nach!» und Jonas wusste genau, was seine Mutter damit meinte. Es handelte sich um eine Schublade im Küchenschrank, in der allerlei Nützliches für den Haushalt lag. Allerdings musste man erst immer suchen, weil die Dinge ungeordnet in der Schublade waren. Mit dem Kleber konnte Jonas sehr schnell das Flugzeug zusammenbauen. Er bemalte es mit Filzstiften blau, grün und rot an und schrieb auf die Flügel J42, die Flugnummer des Fliegers. Jetzt war es sein Flugzeug.

Jonas probierte sofort aus, wie J42 flog. Dazu war der Flur ideal. Er war lang und breit genug, um längere Flugstrecken zu erlauben. Geradeausflüge funktionierten tadellos. Auch Schleifen waren möglich. Jonas wunderte sich, wie er die Flugbahn beeinflussen konnte, wenn der Schubs, dem er dem Flugzeug mit seiner rechten Hand gab, zusätzlich noch eine Drehung hatte. Doch dann passierte es. Jonas vertauschte die Flugrichtung. Der Flieger flog nun in Richtung Fenster. Aber das hatte Jonas gar nicht gesehen. Das Fenster stand offen und sein Flieger landete auf dem Vordach.

Jonas stürzte zum Fenster und sah sich das Schlamassel an. Zum Glück lag J42 nicht weit weg vom Fenster. Jonas konnte den Flieger mit seinem Fuß erreichen, wenn er aus dem Fenster stieg, sich am Fenstersims gut festhielt und sich lang genug machte, um den Flieger in die Reichweite seiner Arme zu bugsieren. Jonas wollte in keinem Fall, dass der Flieger auf dem Dach blieb.

Gedacht, getan! Jonas hangelte sich zum Fenstersims hoch und zog ein Bein nach, sodass er auf dem Sims Platz nehmen konnte. Ein Bein zeigte zum Dach, das andere Bein war noch im Flur. Ganz vorsichtig zog er das andere Bein nach und ließ sich beidbeinig auf das Dach gleiten. Dabei hielt er sich mit beiden Händen am Fenstersims fest. Aber das Dach war rutschig, weil es geregnet hatte und das Moos auf dem Dach war glitschig. Als er seinen Körper in Richtung J42 drehte, rutschte er aus, konnte sich nicht mehr festhalten und drohte vom Dach zu stürzen. Die Rettung war in Sicht. Jonas rutschte an einem Dachhaken vorbei, den er gerade noch mit seiner rechten Hand greifen konnte. Aber das Dach war schon alt und die Dachhaken war locker. Er hielt das Gewicht von Jonas nicht aus, gab nach und die Rutschpartie setzte sich fort. Was dann passierte, daran konnte sich Jonas nicht mehr erinnern. Er lag bewusstlos auf dem Vorhof, der mit Steinen gepflastert war. Im Sturz muss er sich noch gedreht haben, sodass er nicht mit dem Hinterkopf, sondern mit dem Kinn aufschlug. Das war sein Glück! Aber es raubte ihm auch für kurze Zeit das Bewusstsein. Als er wieder sein Bewusstsein hatte, merkte er nur, wie er nach oben gebracht wurde und neben Vater ins Bett gelegt wurde. Sein Vater hat ihm danach den Rest der Geschichte erzählt.

«Schrei!», hatte er nur gedacht, als er ein Klatschgeräusch hörte. Er wusste sofort, was passiert war. «Schrei endlich!», rief Vater laut und stürzte aus dem Bett, um nach Jonas zu sehen. «Das war der schönste Moment in meinem Leben, als ich dich schreien hörte. So wusste ich, dass du den Sturz vom Dach überlebt hast!», sagte er erleichtert zu Jonas, der nun friedlich neben seinem Vater im Bett lag.

Die Narbe auf dem Kinn sollte Jonas immer daran erinnern, dass man vorher nachdenken soll, bevor man sich in Gefahr begibt. Aber die Passage durch das Tor musste sein, um seinen Vater zum letzten Mal zu sehen und sich von ihm zu verabschieden. Dieses Risiko wollte Jonas eingehen und er machte seine Augen zu. Er sah Regenbogenfarben, die sich schraubenförmig an einen kreisrunden Tunnel befanden, der sich in alle Richtungen windete: links und rechts, vorn und hinten und oben und unten. Das Tor war der Eingang zu diesem Tunnel und Jonas spürte, wie er immer schneller wurde und es steil nach unten ging. Diesmal werde ich den Aufprall nicht überleben, dachte Jonas. Aber es sollte alles ganz anders kommen.

Kapitel 8: Hinter den Spiegeln

Jonas öffnete seine Augen wieder, als er merkte, dass er regungslos schwebte. Er sah unter sich ein weites Tal mit grünen Wiesen und einem Berg am Horizont. Auf dem Berg gab es eine Eisenbahnstation. Von dort aus konnte man in das Tal sehen und Jonas vermutete, dass dort die Stadt der Kinder war. Doch dann stutzte Jonas. Diese Bild hatte er schon einmal gesehen als er sechs Jahre alt war.

Es war Heiliger Abend. Vater gab sich immer besondere Mühe, um die Kinder zu beschenken. Es hatte geschneit und war bitterkalt. Um sechs Uhr gab es Geschenke. Damit die Kinder nicht allzu aufgeregt im Haus hin- und herliefen, beschloss Jonas’ Vater, mit beiden Kindern auf Fahrrädern durch das Dorf zu fahren, in dem die Familie damals wohnte. Das hat Jonas viel Spaß gemacht, denn er fühlte sich sehr sicher auf dem Fahrrad. Er konnte das Fahrrad anhalten, ohne abzusteigen. Er konnte auf dem Hinterrad fahren und eine Drehung im Stand auf dem Hinterrad machen. «Schau nur! Papa!», rief er und sein Vater applaudierte zu Jonas’ Kunststücken auf dem Fahrrad. Er war nicht besorgt, obwohl Jonas noch vor einem Jahr vom Dach gefallen war, weil er als Kind das Gleiche gemacht hatte, um seinem Vater zu imponieren. Er wusste, dass man blaue Flecke davon tragen konnte, aber je sicherer man auf dem Fahrrad wurde, umso weniger konnte etwas Schlimmes passieren. Deshalb war Jonas’ Vater froh, dass sein Sohn so souverän das Fahrradfahren beherrschte.

Es war Zeit, zurückzufahren. So kamen die Drei vor dem alten Schulgebäude an, stellten ihre Fahrräder in die Fahrradständer und wollten gerade ins Haus gehen, als Jonas’ die Spuren im Schnee sah. «Der Weihnachtsmann war schon da!», rief Jonas erfreut und Carla antwortete: «Nein, diesmal war es die Weihnachtsfrau!». Jonas Eltern hatten immer Spuren im Schnee hinterlassen, wenn es zur Bescherung ging. Das wussten beide Kinder inzwischen und Carla fand das nicht mehr so überraschend wie Jonas damals.

Jonas hatte sich eine elektrische Eisenbahn gewünscht. Carla wollte einen Plattenspieler. Beide Kinder sollten überrascht werden. Sie bekamen das, was sie sich gewünscht hatten und darüber hinaus noch weitere Sachen dazu. Carla bekam zwei Platten mit ihrem Lieblingsmusiker und Jonas?

Dazu war sein Vater eine Woche vor der Bescherung in seine Werkstatt im Keller des Schulgebäudes verschwunden. Niemand durfte ohne die Erlaubnis der Eltern dorthin, weil die Kinder nicht sehen sollten, was Vater für Jonas in seiner Werkstatt baute. Er benutzte ein Drahtgeflecht, um die Umrisse eines großen Berges zu gestalten. Darauf tat er Pappmaschee und bemalte alles mit sandgelber Farbe. Er hatte sich in einem Eisenbahngeschäft in der nahegelegenen Stadt zusätzliche noch kleine Schafe und Tannenbäume gekauft, die er nun auf dem derart Berg platzierte, dass alles aussah wie eine bayerische Berglandschaft. Die Eisenbahntrasse legte er bis auf den Gipfel des Berges, wo er einen aus Balsaholz selbst gebauten Bahnhof hinstellte.

Unten im grünen Tal waren vereinzelt Häuser aufgebaut. Kühe und Schafe grasten auf der grünen Wiese und ein Rund aus Schienen mit einer Weiche zur Bergstation verlegte sein Vater so, dass der Bahnhof im Tal direkt vorne neben dem Trafo zur Steuerung der Lok lag. Alles war auf einer sehr großen Holztafel montiert.

Als die Kinder ins Wohnzimmer kamen waren sie überglücklich und umarmten ihre Eltern, weil sie viel mehr bekommen hatten, als auf ihrem Wunschzettel stand. Jonas küsste seine Mutter und seinen Vater und begann sofort, mit der Eisenbahn zu spielen. Es war eine eigene Welt, in der er die Lok mit den Wagons vorwärts, zurück und den Berg hochfahren lassen konnte. Jonas war von dieser Welt so gefangen, dass er an diesem Abend die Zeit vergaß und seine Eltern viel Mühe hatten, ihn ins Bett zu bekommen.

Und genauso sah es hier aus. Jonas hatte sich damals immer vorgestellt, dass hinter dem Bahnhof auf dem Gipfel des Berges ein kleines Berdorf versteckt lag. Vielleicht war das hier auch so. Nur dort konnte er die Stadt der Kinder finden. So flog er einfach dorthin, landete sanft auf dem Bahnsteig des Bahnhofs und ging durch die Wartehalle nach draußen. Dort konnte er tatsächlich das Dorf sehen. Es lag ruhig vor ihm auf der anderen Seite des Berges. Jonas machte sich sofort auf den Weg. Diesmal musste er gehen, denn das Fliegen schien hier nicht zu funktionieren.

Bald erreichte er eine sehr kleine Stadt, die eher die Größe eines Dorfes hatte. Jonas sah keine Menschenseele in diesem Dorf, das man wohl die Stadt der Kinder nannte, wie es auf dem Eingangschild in großen Buchstaben geschrieben stand. Neben dem Schild war ein Kirschbaum. Er hatte einen dicken geneigten Stamm, sodass man wie auf einer Rutsche in den Baum klettern konnte. Jonas wollte schon von den Kirschen probieren, aber dann dachte er, dass er keine Zeit vertrödeln sollte. Also ging er weiter und kam an alten Fachwerkhäusern vorbei. Sie sahen aus wie neu, als hätte man sie gerade renoviert, weil hoher Besuch bevorstand.

Die Straße führte zu einem kreisrunden Dorfplatz. Jonas sah, dass sternförmig weitere Straßen auf den Dorfplatz zuliefen. Jonas stellte sich den Platz wie eine riesige Uhr vor. Dort wo der Zeiger der Uhr auf zwölf Uhr zeigte, stand eine große Kirche. Sie hatte ein sehr großes Eingangstor. Mindestens drei Meter hoch war die schwere Holztür, so schätzte es Jonas ab. Zum Eingang führte eine breite Steintreppe und unten an der Treppe war eine riesige Schnecke mit einem grünen Schneckenhaus, die die Stufen zum Kirchenportal hochkroch.

Die Fühler der Schnecke sahen aus wie Hörner und oben wartete ein übergroßer Hirschkäfer auf sie. «Mach endlich!», ermahnte der Hirschkäfer die Schnecke, sich schneller zu bewegen. «Ich will dich einmal sehen, wenn du dein Haus mit dir auf deinem Rücken mitschleppst!», beschwerte sich die Schnecke beim Hirschkäfer. Doch sie schaffte es nach oben. «Was machen wir jetzt?», fragte die Schnecke den Hirschkäfer. «Wir spielen Fangen!», antwortete der Hirschkäfer und Jonas fing an zu lachen, als er das hörte. «Was ist daran komisch?», fragte die Schnecke erbost. «Du bist doch viel zu langsam!», antwortete Jonas und da fing die Schnecke an zu lachen und der Hirschkäfer gleich mit dazu. «Warum lacht ihr über mich? Stimmt doch, was ich sage!», rief Jonas bestimmt. «In deiner Welt ist das richtig! Aber wir sind hier im Dorf der Kinder. Da gibt es andere Spielregeln! Hier fangen wir Gedanken und nicht uns!», erwiderte der Hirschkäfer im belehrenden Ton.

«Na dann, viel Spaß dabei!», spottete Jonas und ging weg auf den Brunnen zu, der mitten auf dem Dorfplatz stand. Dort hatte er einen Bären gesehen, der riesige Seifenblasen in die Luft blies. Dazu benutzte er einen ringförmigen Draht, den er an einem langen Stock befestigt hatte. Vor ihm war eine Wanne mit Seifenwasser. Er tauchte den Stock mit der Schlinge aus Draht dort hinein und führte sie zu seinem Maul. Dann blies er so fest er konnte und die Seifenblasen schwebten in der Luft davon bis sie zerplatzten.

Als Jonas den Bären erreichte, fragte er ihn, ob er auch einmal pusten könne. «Dazu bist du noch zu klein!», antwortete dieser ohne Jonas ins Gesicht zu sehen und machte weiter. «Hallo! Ich bin schon 11 Jahre alt!», war es von Jonas zu hören. Aber der Bär lachte nur. «Du musst schon 11 Mal so alt sein, damit du das machen kannst. Je älter du bist, um so mehr Gedanken haben sich bei dir schon in Luft ausgelöst. Sie kommen und gehen und du kannst sie nicht festhalten, denn dann zerplatzen sie wie diese Seifenblasen!».

Die sind alle so merkwürdig hier, dachte Jonas. Immer fahren die auf diese Gedanken ab. Sie wollen Gedanken fangen, das kling lächerlich, und sie können sie nicht fangen, weil sie schon längst wieder verschwunden sind, so wie die Seifenblasen des Bären in der Luft zerplatzen.

Tiere gab es in der Stadt der Kinder genug. Denn dem Brunnen gegenüber standen ein Fuchs und ein Hase. Sie unterhielten sich und als Jonas sich näherte, verstummten sie. «Was habt ihr mit den Gedanken vor?», fragte Jonas sie als er bei ihnen stand. «Das willst du nicht wissen!», sagte der Fuchs, als wäre es ein Geheimnis, das Jonas nicht zu interessieren hat. «Na kommt! Sagt es schon!», stichelte Jonas und der Hase antwortete: «Wir suchen. Immer geht etwas verloren oder man hat etwas irgendwo hingelegt und anschließend vergessen, dass man nicht mehr weiß, wo man es finden kann. Deshalb suchen wir ständig. Nach verloren Geglaubten oder nach Dingen, die es gar nicht gibt.».

«Das verstehe ich sehr gut. Auch ich suche nach meinem Vater. Er soll hier sein. Ich will mich von ihm verabschieden, weil er einfach, ohne mir etwas zu sagen, fortgegangen ist und hier auf mich wartet, bevor er weiter reist an einen Ort, an dem ich nicht sein kann. Habt ihr vielleicht meinen Vater hier in der Stadt der Kinder gesehen? Und warum heißt das überhaupt die Stadt der Kinder, wenn gar keine Kinder hier sind?», beendete Jonas seine Rede.

«Die Stadt heißt so, weil nur Kinder in diese Stadt kommen, die irgendetwas suchen, weil sie es verloren haben. Sie glauben fest daran, dass sie es hier finden werden. Du suchst deinen Vater. Der hat sich hier versteckt. Lauf dahin, wo die Spiegel sind. Hinter einem der vielen Spiegel versteckt sich der, den du suchst!», flüsterte der Fuchs in Jonas Ohr. «Und wo finde ich die Spiegel?», fragte Jonas erwartungsvoll, weil er glaubte, das die beiden diesen Ort im Dorf kannten. Aber da hatte sich Jonas getäuscht. «Die musst du suchen!», riefen beide, «Was sonst!». «Ihr seid mir aber eine große Hilfe», antwortete Jonas, um seiner Enttäuschung Luft zu machen.

Jonas versucht vom Marktplatz aus, jede Straße zu erreichen, die es im Dorf gibt. Er biegt an einem dreieckigen Haus ab. Das hätte er nicht erwartet. Am Ende der Straße ist ein Spiegel. Jonas nähert sich diesem sehr schnell. Er will wissen, was der Spiegelt widerspiegelt. Nun kann er es deutlich erkennen. Der Spiegel zeigt das Bild, das Jonas gesehen hat, als er durch das Tor flog. Jonas wird neugierig. Hinter dem Spiegel muss auch etwas sein. Also geht er weiter und findet einen zweiten Spiegel. Auch hier bleibt er stehen und erkennt ein Vordach, das genauso aussieht wie das Dach, vom dem er gefallen ist. Was ist hinter dem Spiegel? Jonas vermutet einen weiteren Spiegel, der ebenfalls ein Bild zeigt, an das er sich erinnern kann. Und siehe da, genau so ist es. Er sieht die Eisenbahn, die er zu Weihnachten geschenkt bekam. Jonas ist sich sicher, dass er hier richtig ist. All die Bilder hängen mit seinem Vater zusammen. Er sieht wieder hinter den Spiegel und findet einen Bach mit Bachforellen. Jonas erkennt, dass die Spiegel Bilder seiner Erinnerung projizieren und dann erkennt den Rücken eines Mannes. Aber das ist diesmal kein Spiegelbild. Der Mann ist so groß wie sein Vater und Jonas glaubt, den Hinterkopf seines Vaters zu sehen. Er rennt auf den Mann zu, aber im selben Augenblick bewegt sich der Mann mit derselben Geschwindigkeit von Jonas in die gleiche Richtung weg. Jonas rennt noch schneller, aber er kann den Mann nicht einholen. Jonas glaubt, dass während er rennt ein unsichtbarer Spiegel über ihm diese Bild vor seine Augen projiziert. Doch da ist er sich nicht sicher. Aber wenn es so wäre, dann könnte er den Mann vielleicht von vorne sehen, wenn er rückwärts laufen würde. Dann müsste sich der Spiegel ebenfalls drehen und die Vorderseite der Person widerspiegeln, die Jonas verfolgt. Gesagt getan und Jonas sieht sein eigenes Gesicht. Dann fällt er in ein riesiges Loch, das kein Ende zu haben scheint. Immer schneller geht es abwärts. Die Wände werden immer enger. Die Luft zum Atmen wird immer dünner und dann wacht Jonas auf. Er ist aus dem Bett gefallen und dadurch wach geworden.

Kapitel 9: Happy End

Es war der erste Sonntag im Monat. Jonas Mutter machte sich fertig, um das Grab ihres Mannes zu besuchen. Clara und ihre Mutter saßen am Esstisch. Clara wollte heute nicht mitkommen, weil sie sich mit einer Freundin verabredet hatte. Jonas war noch ganz benommen als er zum Frühstück erschien. «Hast du schlecht geschlafen, Jonas?», fragte ihn seine Mutter. «Ich bin im Schlaf aus dem Bett gefallen!», antwortete Jonas und hielt sich seinen Kopf. «Hast du Schmerzen, Jonas?». Jonas mochte es nicht, wenn man eine Frage nach der anderen stellte. Aber diesmal blieb er ganz ruhig und antwortete freundlich: «Nein! Ich hatte nur einen merkwürdigen Traum». Dann fing er an, alles zu erzählen und Mutter und Clara hörten ihm schweigend zu.

Als er fertig war, antwortete seine Mutter direkt: «Ich verstehe deinen Traum. In letzter Zeit hast du dich viel mit deinem Vater beschäftigt, der nun an einem Ort ist, an dem wir ihn nicht besuchen können. Du hast diesem Ort «Die Stadt der Kinder» genannt, um ihm einen Namen zu geben. Das finde ich sehr schön. Aber du hast diesen Ort nicht außerhalb von dir gefunden. Diesen Ort kann man nicht mit dem Auto erreichen, um dort Urlaub zu machen. Zu diesem Ort kannst du auch nicht fliegen. Er ist wie der Horizont. Er wird sich dir entziehen, wenn du versuchst, sich ihm zu nähern. Aber das heißt nicht, dass es die Stadt der Kinder nicht gibt.

Nein, er ist in dir, wo du alle Erinnerungen an deinem Vater aufgehoben hast. Dort kannst du jederzeit deinem Vater sehr nah sein. Auch ich habe diesen Ort in mir und Carla auch. Er lässt uns nicht vergessen, was dein Vater für uns bedeutet hat. Er war liebevoll und klug. Sein Vater wusste sehr viel und wollte dieses Wissen mit allen teilen, die er kannte. Er war ein wunderbarer Mann für mich, und auch ich vermisse ihn sehr.

Dieser Ort ist für uns alle sehr wichtig, weil er unsere Wut und unsere Trauer besänftigt und es uns allen leichter macht, den Tod deines geliebten Vaters zu verarbeiten. Du hast in deinem Traum erfahren, dass dieser Ort in jedem Menschen ist und jeder Mensch sich dahin begeben kann, wenn er nur will. Für manche Menschen ist dieser Ort kein Paradies, denn sie haben schlechte Erinnerung an ihre Verstorbenen. Aber bei dir ist das ganz anders. Hier bist du mit deinem Vater zusammen und all die schönen Erinnerungen an ihn werden in deinem Kopfkino genauso ablaufen als wären sie Wirklichkeit. So bist du deinem Vater ganz nah und kannst ihm auch Lebewohl sagen. Hast du Lust, heute mit mir zum Grab zu gehen?». Das musste sich Jonas nicht zweimal fragen lassen.

Nachmittags machten sich Jonas und seine Mutter auf den Weg. Der Friedhof lag etwas außerhalb der Stadt und konnte sehr gut mit dem Bus erreicht werden. Jonas nahm den selbstgebauten Wecker seines Vaters mit. Er hatte den Text verändert. Nun war kein Weckruf mehr zu hören. Ja, jetzt war es endlich soweit. Jonas konnte sich so von seinem Vater verabschieden. Er fühlte sich wieder frei, weil er wusste, dass sein Vater immer bei ihm in seinen Erinnerungen lebendig war.

Als beide endlich am Grab waren, legte Jonas’ Mutter frische Blumen auf das Grab und pflegte die Bepflanzung. Das machte sie immer, wenn sie hier war. Jonas fing an zu Buddeln. «Was hast du vor, Jonas?», fragte sie ihn. «Ich will Vater den Wecker geben, den er für mich gebaut hat. Ich habe etwas Neues auf das Tonband gesprochen: Lebewohl Papa!». Seine Mutter war sehr berührt, umarmte Jonas liebevoll und strich dabei mit einer Hand durch sein Haar.



© GOO, September 2021





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