Inhalt
Kapitel 1: Böse Wichte
Leise rieselt der Schnee. Über den Berg muss Jonas, sein Ziel erreichen: die Stadt der Kinder. Er mobilisiert seine letzten Kräfte. Die Sonne blendet ihn und brennt auf seiner Haut. Immer weiter stapft er durch den tiefen Schnee. Jeder Schritt kostet ihn viel Kraft. Sein Blick ist nach vorn gerichtet. Sein Atem hinterlässt Wolken in der kristallklaren Luft. Wie die Fans im Fußballstadion, die ihre Mannschaft laut anfeuern, macht er sich Mut. Die Anhöhe noch und dann den Weg ins Tal. Dort soll die Stadt der Kinder sein. Aus dem Weiß heraus blickt er in das Blau des wolkenlosen Himmels. Seine Kappe zieht er noch fester ins Gesicht. Er ist mutterseelenallein. Keine Hilfe, kein Platz zum Ausruhen. Trotz seiner hoffnungslosen Lage steuert er dennoch direkt auf ein schwarzes Loch zu. Endlich kann er es erkennen. Es ist der Eingang zu einer Höhle.
Drei Ellen ist der Wicht groß und lebt in den Bergen. Sein langer Bart reicht bis zum Boden und sein knorriges Gesicht krönt ein spitzer Hut. Er hat die Gestalt eines alten Mannes und ist wie die Bergleute bekleidet. Seinen Schabernack treibt er mit allen, die an seiner Höhle vorbeikommen. Er bewirft sie mit Steinen und bedenkt die Wanderer mit Spott und Flüchen.
«Spare in der Zeit, dann hast du in der Not», krächzt er aus seiner Höhle und wirft einen Stein nach Jonas, als der in der Nähe des Eingangs auftaucht. Jonas schaut den Berg hoch. Die Lawine, die gerade im selben Moment den Berghang herunterdonnert, hätte sein Ende sein können. Jonas nahm all seine Kräfte zusammen und konnte sich gerade eben noch in die Höhle retten. Dem Schrecken entkommen und vollkommen außer Atem, sieht er in die tiefen schwarzen Augen des Männchens. Jonas schnappt nach Luft und fängt an zu lachen.
«Hau ab, das ist meine Behausung, oder zahle drei Wichtling, weil ich dir Schutz gewähre. Aber danach haust du ab. Hier hast du nichts verloren!», giftet der Zwerg Jonas an. Der wischt sich gerade die letzten Schneereste aus seinem Gesicht und weiß gar nicht, was er sagen soll. «Ich will hier nicht bleiben. Ich will über den Berg in die Stadt der Kinder.», stammelt er noch vollkommen erschöpft und heilfroh, der Lawine entkommen zu sein. Doch das Männlein ist herzlos. Es hasst die Menschen und ganz besonders diejenigen, die sich im Umkreis seiner Höhle aufhalten. Es poltert los: «Nur dumme Menschen gehen dorthin. Genauso doof wie blöd ist der, der in der Stadt wöhd! Hahaha, Ha, Hahahahaha! In der Stadt wöhd!».
Jonas macht keine weiteren Anstalten, darauf zu antworten. Es ist ihm egal. Er ist viel größer und stärker als der Wicht. Hunde, die bellen, beißen nicht, hat sein Vater ihm einmal gesagt, um ihn zu trösten. Damals musste er sich von seinem Fußballtrainer eine Standpauke anhören, weil er zu spät zum Training gekommen war. Dabei war es doch gar nicht seine Schuld gewesen. Die Busfahrer hatten gestreikt und so bekam er seine Busverbindung zum Stadion nicht rechtzeitig.
Der Wicht, der sich gerade vor Jonas aufplustert wie ein Pfau, ist viel zu albern, als dass er ihn ernst nehmen kann. Aber was soll er tun? Die Lawine donnert immer noch ins Tal und der aufstiebende Schnee versperrt den Eingang zur Höhle. «Du kannst mich doch jetzt nicht aus der Höhle werfen!», fleht er den Zwerg an. «Siehst du nicht, dass draußen gerade eine Lawine herunterkommt?», fügt er noch hinzu. Aber anscheinend sind die beiden nicht allein in der Höhle. Wie aus dem Nichts sieht sich Jonas umringt von vier weiteren Zwergen, die ihn mit dummen Sprüchen verhöhnen. «In die Stadt der Kinder kommen nur die Rinder!», grölen alle im Chor und zeigen mit ihren kohlrabenschwarzen Händen auf Jonas.
«Allein leben wir in dieser Höhle. So soll es sein. Kein Mensch soll hier bleiben. Ist die Gefahr vorbei, dann schmeißen wir dich raus? Gehe fort aus unserm Haus!», ruft einer der Wichte, die nun alle im Kreis um Jonas herumstehen. Eins ist klar, dachte Jonas, diese Zwerge mögen Menschen nicht. Aber sie tun Menschen auch nichts an, sonst hätten sie ihn schon längst aus der Höhle geworfen oder ihn verprügelt. Vielleicht wissen die mehr über die Stadt der Kinder als sie zugeben. Das musste er herausfinden!
«Wer seid ihr?», fragt Jonas die Zwerge. Die antworten alle gleichzeitig: «Wir sind die Wichte der Berge und leben wie die Zwerge in den Stollen ganz tief, hauen den Stein schnief, schnief!». «Trief, trief!», lacht Jonas sie an und die Männchen werden still. Dann laufen alle nach vorn, wie von Geisterhand geführt, um den Eingang zur Höhle freizumachen. Jonas traut seinen Augen nicht, mit welcher Schnelligkeit sie ans Werk gehen und im Nu kann er das Blau des Himmels wieder sehen. Da wendet sich einer der Zwerge Jonas zu und flüstert ihm ins Ohr: «Vergiss nicht das goldene Haar des Schweigens mitzunehmen, wenn du in die Stadt gehst. Es wird dich vor dem Fluch schützen. Denn dort sind alle verflucht. Denke an meine Worte!» und schon ist er im Stollen verschwunden. Zusammen mit den anderen Wichten lässt er Jonas allein in der Höhle zurück.
Jonas ist verwirrt. Das goldene Haar des Schweigens, was soll das sein? Er überlegt und schaut aus der Höhle als er einen Wolf am Eingang sieht, der ihm tief in die Augen guckt. Jonas macht ohne nachzudenken eine Abwehrbewegung zur Seite hin und kauert sich auf den Boden der Höhle. Wölfe sind gefährlich, wenn sie allein sind. Das hatte er einmal irgendwo gelesen. Und nun hat er große Angst, der Wolf könnte ihn fressen.
Als nichts geschieht, wagt Jonas erneut einen Blick zum Eingang der Höhle. Er sieht auf ein weißes Etwas, über das sich ein Grau des Himmels aufgetürmt hat. Das Wetter ist schlagartig schlechter geworden und der Wolf ist genauso schnell verschwunden, wie er gekommen war. Jonas atmet auf und bemerkt nicht, wie hinter seinem Rücken erneut eines der Männlein auftaucht. «Das Haar des Schweigens reicht nicht aus. Die blaue Brille des Blinden musst du dir borgen, damit du zum Stein der Sorgen, mitten in der Stadt, kommst. Doch nur wenn der Mond um Mitternacht weint, siehst du den Stein.», spricht ein Zwerg ihn an, der ebenfalls gleich wieder im Stollen verschwindet.
Jonas versteht nichts mehr. Zuerst wollen die Zwerge ihn aus der Höhle herausschmeißen und jetzt kommen sie mit lauter guten Ratschlägen, mit denen er absolut nichts anfangen kann. Was soll das Haar des Schweigens bedeuten und wo findet man es, geht es durch seinen Kopf. Und was bitteschön ist ein weinender Mond! Den hat er noch nie gesehen. Der Mond kann wunderschön scheinen, das hat er zusammen mit Vater erlebt, als sie damals ihre Spaziergänge durch die Nacht machten. Dann hat Vater ihm die Sternbilder und die Namen der vielen Sonnen erklärt, die man am Nachthimmel besonders gut als helle Lichtpunkte sehen kann. Ein kleines Teleskop hatte er damals Jonas zum Geburtstag geschenkt. Damit konnte er sogar die Krater auf dem Mond sehen. Aber jetzt sind die Wichte schon wieder verschwunden und er kann sie nicht danach fragen.
Es ist still in der Höhle und Jonas setzt sich auf den kalten Felsboden. Ein Feuer wäre jetzt genau das richtige, denkt er. Aber er hat kein Holz und auch keine Streichhölzer.
Da sieht er an der Wand der Höhle seltsame Zeichnungen. Ob sie von den Zwergen stammen? Aber die sind viel zu klein, um so hochzukommen. Ein bunter Regenbogen ist zu sehen und merkwürdige Fabelwesen. Drachen, die Feuer in verschiedenen Farben speien und Pferde mit Menschenköpfen. All das hat Jonas schon in Märchen- und Sagenbüchern gesehen. Aber dieses Zeichen hat er noch nie gesehen. Einen Kreis in dem ein Quadrat, in dem ein Dreieck, in dem ein Strich neben dem ein Punkt ist. Was soll es bedeuten und wer hat es an die Wand gemalt?
Jonas denkt wieder an seinen Vater. Der hat ihm immer abends vor dem zu Bett gehen aus dem „Buch der Wunder“ vorgelesen. Viele bunte Bilder gibt es in diesem Buch. Dort ist auch von einer Höhle die Rede, die in Frankreich gelegen ist. Dort haben Menschen vor sehr langer Zeit Bilder gemalt. Aber auch von Städten, die es schon lange nicht mehr gibt, wird in dem Buch berichtet, und von riesigen Türmen, die die Menschen einst gebaut haben und die viel schöner waren als die heutigen Wolkenkratzer. Besonders schön war Babylon. In dem Buch befand sich ebenfalls eine CD für den Computer. Mit dieser CD konnte man in Babylon spazieren gehen als hätte man dort gelebt. Wie gern wäre Jonas in dieser Stadt zur Schule gegangen. Und als sein Papa mit ihm einmal ins Pergamonmuseum ging, da war er ganz aus dem Häuschen als er das blaue Ischtar-Tor von Babylon vor sich sah mit den Drachen, Stieren und Löwen. Er wollte auf einen Schlag Archäologe werden. Schon am gleichen Tag ging er in die Stadtbibliothek, um sich Bücher über Archäologie auszuleihen. Er konnte sich sogar noch genau erinnern, als er das lila Buch vor sich sah. «Die Stadt der Kinder» von Jomami Jopampo, und er nahm es sofort mit nach Hause, um alles über diese untergegangene Stadt zu erfahren.
Ein Lachen dröhnt aus dem dunklen Gang und Jonas hört, wie die Wichte sich untereinander streiten. Doch um was es geht, kann er nicht heraushören. Das Echo vermischt die einzelnen Stimmen derart, dass nur ein einziges Stimmenwirrwarr übrigbleibt. Was soll ein Blinder schon mit einer blauen Brille anfangen, denkt Jonas. Schließlich kommt zum Schluss, dass er hier am falschen Ort ist. «Vergiss die Schuhe des Gelähmten nicht, sonst fressen dich die Raben, die bösen Wölfe werden sich laben an deinem Blut, die ganze Brut!», hört er die Wichte grölen, die jetzt gerade den Eingang der Höhle versperren.
«Was meint ihr damit? Wo soll ich das goldene Haar des Schweigens, die blaue Brille des Blinden und die Schuhe des Gelähmten denn finden? Wo soll ich suchen? So sagt doch!», stößt Jonas in seiner Verzweiflung hervor, als ginge es um sein Leben. Doch die Wichte lachen nur und grölrn weiter: «Willst du in die Stadt der Kinder, höre, was der Jamu spricht. Lös das Rätsel und sei kein Wicht.», und so treiben sie ihren Schabernack mit Jonas und sind sichtlich vergnügt dabei.
«Ein Zauberer hat zehn Zauberschatullen. In keiner von zwei Schatullen befinden sich gleich viele Zauberkugeln und der Zauberer hat immer mehr Schatullen als Kugeln in jeder Schatulle sind. Wie viele Zauberkugeln sind in jeder der zehn Schatullen? So sprich du Riese, sonst holt dich gleich der Rübling!», singen sie weiter im Chor. Dabei fliegen die fünf Wichte im Kreis über Jonas' Kopf und sprechen geheimnisvoll: «Alles zu seiner Zeit. Halte dich bereit! Bist du erst in der Stadt, wirst du schon sehen. Doch erst wollen wir die Lösung des Rätsels bevor wir gehen!».
Jonas überlegt und dabei sieht er immer so aus, als würde er ein Ei ausbrüten. Sein Gesicht wird rot, die Anspannung ist ihm anzusehen. In der Schule hatten sie schon über Zahlen gesprochen, die kein Ende haben. Jonas konnte sich das nur so vorstellen, als würden alle Zahlen im Kreis aufgereiht sein. Aber die Lehrerin sprach immer von einer geraden Linie, auf der all diese Zahlen liegen würden. Wie nannte sie diese Zahlen? Jonas fiel es ganz plötzlich wieder ein: natürliche Zahlen und mit denen kann man immer weiter zählen, sein ganzes Leben lang und niemals ist ein Ende in Sicht. Merkwürdig denkt Jonas. Bei dem Rätsel ist es genauso. Legt er in Gedanken nur eine Zauberkugel in eine Schatulle, dann braucht er direkt eine weitere Schatulle mit zwei Zauberkugeln. Hat er aber beide Schatullen, so braucht er wiederum eine dritte mit drei Zauberkugeln und hier ist kein Ende in Sicht. Genauso wie mit den natürlichen Zahlen. Immer wieder brauchte man eine neue Schatulle mit einer Kugel mehr als in der letzten. Das Rätsel hat gar keine Lösung.
Doch dann fällt Jonas ein, dass es eine ganz besondere Zahl gibt, die eigentlich keine Zahl ist, weil sie nichts bedeutet. Doch für Jonas ist es nicht schwierig, sich diese Zahl vorzustellen. Oft hat er keinen einzigen Cent in seiner Tasche, um sich am Schulkiosk einen Schokoriegel zu kaufen, so wie die anderen Kinder. Mutter sagte zwar immer, dass Süßigkeiten nur schlecht seien für die Zähne und sie einmal mit der Schulleitung sprechen müsste. Doch das konnte Jonas nicht so recht überzeugen. Die anderen Kinder machten immer ein zufriedenes Gesicht, wenn sie die Süßigkeiten aßen und niemals wurden die Süßigkeiten weggeworfen, so wie es mit manchen Schulbroten passierte. Ab und zu bekam Jonas auch einmal etwas Süßes unter die Nase gehalten. Nur angucken nicht reinbeißen, hieß es dann, und Jonas hatte das Nachsehen.
Ja, dafür, dass man nichts hat, dafür gibt es schließlich auch eine Zahl. Die Zahl des Habenichts'. So nannte Jonas die Zahl. Aber offiziell heißt die Zahl Null. In der ersten Schatulle war also gar keine Zauberkugel drin. In der zweiten war eine drin und so weiter. Die letzte Schatulle aber hatte nur neun Zauberkugeln. Und so ergab alles einen Sinn. In keiner von zwei Schatullen sind gleich viele Zauberkugeln und der Zauberer hat immer mehr Schatullen als Zauberkugeln in jeder Schatulle sind. Das ist die Lösung! Als Jonas den Wichten davon erzählt, schreien die: «Du trägst die Schuld an unserm Leiden. Drum werden wir dich jetzt vertreiben!». Damit hatte Jonas nicht gerechnet. Eigentlich glaubte er, für die Lösung des Rätsels belohnt zu werden. Er glaubte, die Zwerge würden ihm einen Tipp geben, wie er in die Stadt der Kinder kommt. Aber die Zwerge hacken wie Krähen auf Jonas herum. «Au, das tut weh!» klagt Jonas, und so schnell er kann flieht aus der Höhle und schleppt sich den Berg hoch. Oben angekommen, blickt er zurück. Er will sicher sein, dass ihm die Wichte nicht folgen. Vollkommen erschöpft fällt er in den Schnee. Ob er jemals in der Stadt der Kinder ankommen wird? Zweifel überkommen ihn. Die Wichte haben ihm arg zugesetzt.
Kapitel 2: Drei Dinge
Jonas’ Familie lebte zuerst in einem Dorf. Sein Vater war Ingenieur. Im Dorf gab es keine Schule. Deshalb fuhr Jonas mit dem Schulbus in ein etwas größeres Nachbardorf. Dort waren alle Schüler in einem Raum zusammen. Insgesamt waren es acht Klassen. Als Jonas in der ersten Klasse war, konnte er so sehr leicht das Rechnen lernen. Immer wenn die anderen Klassen vom Lehrer unterrichtet wurden, hörte er aufmerksam zu. So konnte er schon im ersten Schuljahr mit Dezimalzahlen rechnen. Er addierte, subtrahierte, multiplizierte und dividierte diese Zahlen mit wachsender Begeisterung.
Dann aber hatte sein Vater ein sehr gutes Stellenangebot von einer Sicherheitsfirma in der Kreisstadt bekommen. Deshalb zog die Familie um, und Jonas beendet dort die Grundschule. Lesen und Schreiben war nicht sein Ding, dafür konnte er aber ausgezeichnet rechnen. Anschließend kam Jonas auf das örtliche Gymnasium.
«Non scholae sed vitae discimus» stand dort über den Eingang geschrieben. Es war ein Neusprachliches Gymnasium, das bedeutet, dass man in der fünften Klasse mit Latein anfing und alle Klassen hatten lateinische Namen: Sexta, Quinta, Quarta, Untertertia, Obertertia, Untersekunda, Obersekunda, Unterprima und Oberprima hießen die Klassen bis zum Abitur.
Der Schulweg war jetzt sehr lang. Jonas brauchte für eine Strecke ungefähr eine halbe Stunde. Das Haus der Eltern stand in einer Siedlung, die auf einem Hügel lag. Die Schule war auf einem anderen Hügel, der durch einen weiteren Hügel getrennt war. Also bedeutete das für Jonas einmal herunter, dann hinauf, erneut herunter und endlich wieder hinauf und zum Schluss noch eine kleine Wegstrecke bis zum Gymnasium.
Das Erlernen der Sprachen fiel Jonas schwer. Seine Noten waren dementsprechend. In Mathematik und Sport allerdings konnte er immer glänzen. In der Sexta waren dies seine Lieblingsfächer.
Für sein Alter war Jonas ziemlich groß. Dies war ein Vorteil beim Basketball. Deshalb spielte Jonas auch in der Schulmannschaft des Gymnasiums. Training war zweimal in der Woche in der Schulturnhalle.
Mit seinem Vater konnte er sehr gut über Mathematik reden. Er war als Ingenieur sozusagen vom Fach, da er sehr viele Berechnungen zu machen hatte. Allerdings erledigte das der Computer für ihn. Im Kopfrechnen allerdings war Jonas unschlagbar. Jedenfalls sah er das damals so.
«Aufstehen!», war jeden Morgen um 6 Uhr aus Jonas' Wecker zu hören. «Aufstehen!». Damit er nie mehr zu spät in die Schule kam, hatte sein Vater einen eigenen Wecker für Jonas gebaut. Der Weckruf wurde, wie bei einem Anrufbeantworter, auf einen Kassettenrekorder aufgezeichnet. Das Ganze wurde mit dem Wecker derart verbunden, dass ein Relais zur Weckzeit den Auslösemechanismus für den Kassettenrekorder steuerte. Und so konnte Jonas seinen Vater jeden Morgen hören, wenn er aufstehen musste.
Jonas fehlte sein Vater sehr. Er war weit weg auf hoher See, so wie Mutter immer sagte. Dort arbeitete er auf einer Bohrinsel. Für sechs lange Monate im Jahr war er weg. Danach kam er wieder nach Hause und arbeitete den Rest der Zeit in seinem Büro. Das war die schönste Zeit für Jonas, weil dann die ganze Familie zusammen war. Und mit dem Papa konnte man viel unternehmen.
Früher hatten sie im Haus ein Funkgerät, über das sich Jonas' Vater zu festen Zeiten meldete, wenn er auf der Bohrinsel war. Doch danach wurde alles viel besser. Jonas konnte seinen Vater über das Internet sehen und hören. Freitagabends meldete er sich immer. Die ganze Familie versammelte sich am Computer und fast war es so, als wäre der Papa mitten unter ihnen.
Aber jetzt konnte er mit dem Papa nicht mehr sprechen. Eines Tages wurde die Familie von der Ölfirma angerufen. Es hätte auf der Bohrinsel gebrannt, hieß es und man sei sich nicht sicher, ob der Papa überlebt hätte. Momentan seien Suchmannschaften unterwegs, um nach Überlebenden zu suchen. Zwei Tage später war klar, dass Jonas' Vater in den Flammen umgekommen war. Jonas wurde krank und wollte nicht mehr in die blöde Schule gehen. Allen Versuchen seiner Mutter, mit ihm zu sprechen, wich er aus. Er schloss sich in sein Zimmer ein. Jonas hätte alles gegeben, den Papa noch einmal zu sehen.sozusagen
Das ging zwei Wochen so. Als Jonas dann wieder in die Schule musste, verprügelte er bei der kleinsten Kleinigkeit seine Mitschüler. Es häuften sich Beschwerden und irgendwann wurde eine Schulkonferenz einberufen. Jonas musste die Schule verlassen.
Die neue Schule mochte Jonas ebenso wenig wie die alte. Aber er hielt sich von seinen Mitschülern fern, galt als Einzelgänger, den man am besten in Ruhe ließ.
Jonas war ziemlich benommen von seinem Traum. Er schüttelte sich den Kopf, um nicht mehr an die blöden Zwerge zu denken. «Bist du immer noch nicht fertig!». Jonas rüttelte an der Badezimmertür. «Bin gleich fertig!», antwortet Carla, seine Schwester, und Jonas ging zurück in sein Zimmer.
In letzter Zeit brauchte seine Schwester immer länger, um sich ausgehfähig zu machen, wie sie das nannte. Sie hat einen neuen Freund, den Jonas einmal an der Schulbushaltestelle gesehen hat. Ein ziemlich kräftiger, großer Kerl, der nach Jonas' Meinung genauso lang wie dumm ist.
Als Carla am Frühstückstisch erscheint, verschwindet Jonas im Badezimmer. Die Haarbürste seiner Schwester liegt auf der Ablage und er sieht die blonden Haare. Blitzartig erinnert er sich an das Goldene Haar des Schweigens. Er greift in die Büste, holt alle Haare heraus und läuft in sein Zimmer. Er sucht einen Briefumschlag, in dem er die Haare seiner Schwester aufbewahren kann. Langsam wird es Zeit für ihn, sonst verpasst er noch den Schulbus. Mutter hat auch schon nach ihm gerufen, wo er denn bliebe, seine Schwester sei schon gegangen. Jonas wird immer unruhiger, wo ist der Briefumschlag denn, geht es durch seinen Kopf. Da steht die Mutter auch schon in der Tür und fragt, was er da mache. Wie der Zufall es will, sieht Jonas einen leeren Umschlag unter dem Bücherregal. Er fischt ihn heraus, legt die Haare in den Umschlag und diesen unter sein Kopfkissen. „Bin schon fertig!“, ruft er seiner Mutter zu und drückt sich an ihr vorbei. Den Schulbus kann er gerade noch erwischen.
Im Bus glaubt Jonas, dass die Augen aller Schüler auf ihn gerichtet sind. Jonas schaut zurück. Die anderen Kinder im Schulbus sind verkleidet. Vor ihm sitzt eine Biene Maja und daneben ein Cowboy. Jonas hat ganz vergessen, dass heute Karnevalsfest in der Schule ist und alle Kinder verkleidet kommen sollen. Nun sitzt er da und fällt wieder einmal auf, weil er nicht verkleidet ist. Die höhnischen Kommentare überhört er. Er setzt sich auf einen freien Platz und sieht den Boden an.
An der nächsten Haltestelle steigt ein weiteres Kind in den Bus. Es ist ganz blau angezogen, hat sich die Haare blau gefärbt und trägt eine blaue Brille. Das blaue Etwas steuert direkt auf Jonas zu und setzt sich neben ihn. Jetzt erkennt er, dass es Katja ist. Katja mag Jonas, weil er nicht so ein Aufschneider ist, wie die anderen Jungen in der Klasse.
«Bist gar nicht verkleidet?», fragt Katja den Jonas. Der gibt kleinlaut zu, dass er es vergessen hat. «Macht nichts!», sagt Katja, «Kannst etwas von mir haben!». Und Jonas weiß genau, was er haben will. Katja schweigt zunächst, aber dann willigt sie doch ein und Jonas kann die blaue Brille tragen. «Jetzt brauche ich nur noch die Schuhe», murmelt er und Katja fragt zurück: «Was meinst du?». «Ach nichts!», erwidert er und sieht die blaue Landschaft durch die blaue Brille an sich vorüberziehen.
In der Schule angekommen, erwartet sie schon die Klassenlehrerin. Das Klassenzimmer ist mit bunten Bildern geschmückt, die die Kinder zu Karneval gemalt haben. Auch Luftschlangen sind über die Tische gelegt und im Hintergrund ertönt Karnevalsmusik aus dem CD-Player. Jonas sieht Katjas blaues Bild an der Wand hängen. Es ist das schönste Bild, denkt er und dreht sich zu ihr um und lächelt sie an.
Jonas wollte eigentlich als Schnecke verkleidet kommen. Er hatte ein entsprechendes Bild gemalt. Aber als er der Lehrerin sagt, dass er sein Kostüm vergessen hätte, erwidert sie zuerst kein Wort und sieht Jonas in die Augen. Danach spricht sie zur Klasse gewandt: «Dann nimm einmal Platz, Jonas. Wir wollen zuerst ein Lied zusammen singen. Danach spielt jeder eine Szene, die zu seiner Verkleidung passt. So wie wir es abgemacht haben.».
Jonas fühlte sich wie im Kino. Das Klassenfest läuft vor ihm ab, wie ein Film auf der Leinwand. Da fällt ihm plötzlich Heino auf. Er ist als Clown verkleidet und spielt Tollpatsch. Die Kinder lachen über ihn, so wie sie es immer tun. Wer heißt schon Heino? Er wurde regelmäßig wegen seines Vornamens gehänselt. «Rotbraun ist die Haselnuss», sagen manche oder riefen: «Wo hast du deine Gitarre gelassen?». Heino ist sehr unglücklich über seinen Vornamen, dem ihm die Eltern nur gegeben hatten, weil die den Sänger Heino so sehr mochten. Heino ist wie Jonas ein Einzelgänger. Keiner will mit ihm spielen, keiner nimmt ihn Ernst. Aber die großen Clownsschuhe, die er anhat, muss Jonas unbedingt bekommen.
Er überlegt die ganze Zeit, wie er es anstellen soll. Als das Fest zu Ende ist, laufen die Schulkinder alle zur Bushaltestelle, um nach Hause zu kommen. Katja ruft Jonas noch hinterher, ob sie sich bei ihr treffen sollen. Aber Jonas hat nur noch Augen für Heino und seine Schuhe und antwortet nur kurz: «Geht nicht. Hab noch was Wichtiges zu erledigen!».
Heino wohnt nicht weit weg von der Schule. Er geht immer zu Fuß nach Hause. Jonas folgt ihm unauffällig, wie ein Geheimagent hält er sich zunächst in sicherer Entfernung bedeckt. Doch Heino spürt, dass heute etwas nicht stimmt. Er drehte sich um und entdeckt Jonas. «Warum folgst du mir heimlich?», ruft er und Jonas kommt näher. «Ich will einen Schuh von dir!», sagt er offen heraus und Heino antwortet: «Du spinnst! Die Schuhe gehören mir nicht. Die hab ich nur ausgeliehen!». Das stimmte zwar nicht, weil Heino die Schuhe von seinem Vater geschenkt bekommen hatte. Der war früher einmal als Clown bei Festen aufgetreten. Aber seit seinem Autounfall ist er querschnittsgelähmt. Deshalb hat er die Schuhe Heino gegeben und der wollte nur den Preis hoch handeln, weil er nie Clown sein wollte.
«Nun gut. Du bekommst meine Schuhe und ich gebe dir noch 5 Euro dazu!», erwidert Jonas. «Fünf Euro nur! Ich musste schon 10 Euro für die Ausleihe bezahlen!». «Gut ich gebe dir morgen 10 Euro und wir tauschen die Schuhe auf der Stelle!». Doch das ist Heino zu unsicher und er will ein Pfand für die 10 Euro, die Jonas ihm schuldet. Jonas gibt ihm seine Armbanduhr und der Tausch ist perfekt.
Jonas latscht mit den Clownsschuhen zur Bushaltestelle. Keiner achtet auf ihn und er überlegt sich, wie er zu Hause angekommen direkt auf sein Zimmer geht und alle Sachen im Wandschrank versteckt.
Die Mutter wartet schon mit dem Essen als Jonas in seinem Zimmer verschwindet und es abschließt. Keiner soll sehen, was er dort treibt. Und auch als die Mutter an die Tür klopft, ist er nur kurz angebunden: «Ich komme gleich!».
Jonas ist überglücklich, alle Sache zusammenzuhaben, die er braucht, um in die Stadt der Kinder zu kommen. Morgen schon wird er woanders sein, denkt er und erscheint gut gelaunt in der Küche. Die Mutter freut sich, denn selten sah sie in letzter Zeit ein Lächeln auf Jonas' Gesicht, so wie heute.
Kapitel 3: Der Malipali
Als die Mutter in Jonas' Zimmer guckt, schläft der fest. Sie macht leise die Tür hinter sich leise zu, damit er nicht wach wird. Dass unter seinem Kopfkissen ein paar Haare, ein Schuh und eine Brille liegen, sieht sie nicht.
Mit einem Mal dröhnt eine blecherne Stimme aus dem Hintergrund: «Was willst du hier?». Jonas sieht sich um. Er befindet sich in einem runden Zimmer mit acht Türen. Von der Mitte der Decke hängt ein kugelförmiger Apparat. Aus dem muss die Stimme kommen, denkt Jonas. Er blickt nach oben und ruft: «Ich will in die Stadt der Kinder!». «Dann musst du das Haar des Schweigens, die blaue Brille des Blinden und die Schuhe des Gelähmten in die Mitte legen!», dröhnt es aus dem Apparat. Jonas ist bestens vorbereitet. Er nimmt den Briefumschlag und legt die Haare seiner Schwester auf das seltsame Zeichen, das sich in der Mitte des Raumes befindet und das er schon in der Höhle der Wichte gesehen hatte. Die blaue Brille befindet sich in seiner rechten Hosentasche und den Schuh trägt er in der linken Hand. Als alle Dinge an ihrem zugewiesenen Ort sind, öffnen sich drei Türen. Jonas sieht drei Städte und die Stimme spricht zu ihm: «Bevor du in die Stadt der Kinder kommst, musst du in die drei Städte gehen, die du hinter den Türen siehst. Ergründe ihr Geheimnis und du wirst dein Ziel erreichen.».
Sehr undurchsichtig, denkt Jonas. Die Zahl Drei muss wohl etwas Besonderes sein. Er war enttäuscht. Hatte er doch die drei Sachen, die ihn die Zwerge genannt hatten, mitgebracht. Und jetzt sind die nur Mittel zum Zweck. Das könnte immer so weiter gehen. Aber er immerhin ist schon ein Stück weiter gekommen und warum sollte er jetzt aufgeben?
Jonas erinnerte sich an seinen Vater und die nächtlichen Spaziergänge mit ihm. Papa hatte immer versucht, auf Jonas’ Fragen eine entsprechende Antwort zu finden. Doch manchmal wusste auch er keine Antwort. Dann sagte er immer: «Das musst du selber herausfinden!». Jonas verstand nicht sofort, was Papa ihm damit sagen wollte. Aber jetzt glaubte er es zu wissen.
«Irgendwie dreht sich unser Leben im Kreis!» stellte Jonas einmal fest, als beide den Mond beobachteten, worauf sein Vater erwiderte: «Dann kommen wir aber nicht voran!». «Ja, genau so ist es. Der Mond dreht sich um die Erde, die Erde um die Sonne, die Sonne um das Zentrum unserer Galaxie, die Milchstraße. Die Galaxien drehen sich spiralförmig in den Filamenten des Universums.» erwiderte Jonas und kam sich sehr wichtig vor, weil er sich all die unbekannten Ausdrücke gemerkt hatte, die sein Vater benutzte, um ihm etwas über das Universum zu erklären. «Aber da hast du ja schon eine Erklärung gefunden, mein Sohn! Denn wenn sich die Galaxien spiralförmig in den Filamenten bewegen, dann bewegt sie sich auch in eine Richtung vorwärts und sonst eben im Kreis!».
So musste es auch jetzt sein. Jonas hatte noch viele Fragen, die er der Stimme stellen wollte. Aber der Apparat verschwindet lautlos in der Decke des Zimmers. Jonas weiß, dass er sich jetzt allein auf den Weg machen muss. Und so geht er durch die erste Tür.
Er findet sich an einem Strand wieder. Vor ihm liegt eine Stadt auf einer Insel. Er kann sie nur mit einem Boot erreichen. Eine große Kugel liegt an Strand, in der sich eine Tür befindet. Vielleicht ist das die Fähre zur Insel, denkt Jonas und öffnet die Tür. Nachdem er in der Kugel ist, schließt sich die Tür hinter ihm automatisch und ein grelles Licht erhellt das Innere. Jonas weiß nicht, was er tun soll. Da sieht er ein Bullauge direkt vor sich und er merkt wie die Kugel sich in Bewegung setzt. Schon ist sie auf dem Wasser und steuert direkt auf die Insel zu. Jonas wundert sich, dass sich die Kugel nicht dreht. Er bleibt ruhig stehen und sieht durch das Bullauge, wie die Insel immer näher kommt. Bald wird er da sein.
Doch dann taucht die Kugel unter. Jonas wird unruhig, weil er die Insel nicht mehr sieht. Dafür tauchen allerlei seltsame Meeresbewohner vor dem Bullauge auf. Ein Krake, der einen Kopf wie ein Pferd hat und ihn anlacht. Ein Delphin, der Arme und Beine hat und einen richtigen Mund. Er scheint Jonas etwas sagen zu wollen. Aber der erkennt nur Luftblasen, die aus dem sich öffnenden und schließenden Mund heraussprudeln. Links vom Bullauge erkennt er einen sehr lustig aussehenden Fisch. Er trägt in seiner linken Flosse, die wie eine platte Hand aussieht, einen Regenschirm. Damit er nicht nass wird, denkt Jonas und fängt an zu lachen. Direkt daneben ist ein Fisch, der auf seinem Kopf ein Ding trägt, das wie eine Dusche aussieht. Jetzt muss Jonas laut lachen. Rechts vom Bullauge schwimmt ein riesiger Fisch vorbei. Der sieht aus wie ein gelbes U-Boot. An seiner Schwanzflosse ist eine Antenne angebracht, die sich regelmäßig in alle Richtungen dreht. Seine Augen sehen aus wie Bullaugen. Jetzt fixiert der U-Boot-Fisch Jonas mit seinen Bullaugenaugen. Jonas zuckt zusammen. Aber nichts passiert. Das U-Boot schwimmt einfach weiter an ihm vorbei.
Ein leises Geräusch ist in der Kugel zu hören. Und ehe sich Jonas versieht, ist die Kugel aufgetaucht und gelandet. Die Tür springt auf und Jonas betritt den mit Palmen gesäumten Strand der Insel. Der Sand ist so fein und so weiß wie Mehl. Jonas macht sich auf den Weg in die Stadt. Er muss nicht weit laufen, bis er die Straße erreicht, die direkt zur Stadt führt.
Um die Stadt herum befindet sich eine Stadtmauer. Ein rundes Portal führt in die Stadt. Vor dem Portal ist eine Tafel angebracht. Auf der steht in großen Buchstaben geschrieben: Schweigen ist Gold. Jonas weiß, dass er in der Stadt niemanden fragen kann. Er würde keine Antwort bekommen. Aber wie soll er sich verständigen? Was ist das Geheimnis der Stadt?
Jonas geht durch das Portal. Neben ihm taucht eine Frau auf. Sie trägt einen rot, weiß und schwarz gestreiften kegelförmigen Umhang und eine Mütze auf dem Kopf. Sie geht zu einem Elektroauto und als sie Jonas sieht, winkt sie ihm zu. Jonas folgt der Frau zum Auto. Er setzt sich auf den Beifahrersitz und die Frau fährt los. Alles ist still. Kein Laut ist zu hören. Selbst das Auto bewegt sich geräuschlos auf der schmalen Straße. Sie kommen an einem Platz vorbei. In der Mitte des Platzes befindet sich ein Brunnen. Der Brunnen ist mit Säulen gesäumt und in seiner Mitte ist ein großer Würfel, der auf einer Ecke auf einer breiten, weißen Säule aus Marmor steht. Um den Platz herum sind Häuser, die alle aussehen wie Miniaturkirchen. Vor jedem Haus steht eine großer orangefarbener Sonnenschirm und ein mannshoher Pfosten, der schwarz und weiß gestreift ist. Irgendwie sieht hier alles aus wie in einem Spielzeugladen, denkt Jonas und will es schon der Frau sagen. Aber da erinnert er sich an die Tafel und hält sich zurück.
Die Frau fährt ihn zu einem Haus, das auf einer kleinen Anhöhe steht. Dort setzt sie ihn ab und verschwindet wieder mit ihrem Elektroauto. Jonas steht vor dem Eingang. Er öffnet leise die halbrunde Tür, die mit Gardinen von innen her verhangen ist, sodass Jonas nicht ins Haus schauen kann. Er findet sich in einem Zimmer wieder. Dort steht in der Mitte ein runder Tisch. Auf dem Tisch liegt eine Tafel und daneben liegt ein großer Bleistift, der aber keine Mine hat.
Jonas tritt an den Tisch. Er sieht, dass die Tafel eine Art Computer ist. Er schaltet ihn an und sieht ein großes Bild von der Stadt. Jonas tippt mit dem Bleistift auf ein Haus und schon ändert sich das Bild und ein Mann ist zu sehen, der einen blauen Anzug trägt und einen weißen Strohhut. Er hält ebenfalls eine Tafel in der Hand, auf der steht: Wie geht es dir, Jonas?
Jonas wundert sich zwar, dass der Mann seinen Namen kennt. Aber er hat eine Aufgabe zu erledigen. Deshalb schreibt er mit dem Bleistift auf seine Tafel: Warum darf man nicht sprechen? Er sieht wieder den Mann, der ihm prompt antwortet: Weil Schweigen Gold ist! Wusstest du das nicht?
Jonas schaltet den Computer aus. Eine bessere Antwort hat er auch nicht erwartet. Er will die Stadt näher erkunden. Vielleicht wird er dort Anhaltspunkte finden. Er verlässt das Haus und geht zu Fuß zu dem Brunnen, an dem sich bei diesem schönen Wetter sehr viele Menschen versammelt haben. Aber sind es wirklich Menschen, oder nur Maschinen?
Alle schweigen, sehen sich aber in die Augen, wenn sie sich begegnen und lächeln sich gegenseitig zu. Dabei nicken sie mit dem Kopf und gehen weiter. Ein kleiner, rund aussehender Mann macht auf Jonas allerdings einen sehr aufgeregten Eindruck. Er will sich verstecken. Doch vor wem? Er eilt über den Platz und versucht die Tür eines Hauses zu erreichen. Aber als er kurz davor ist, ertönt aus der Luft ein gewaltiges Brausen und ein riesengroßer Vogel ist zu sehen, der mit seinen Klauen den kleinen Mann greift und sofort wieder verschwunden ist.
Die anderen tun so, als sei gar nichts passiert. Jonas steht der Mund offen, aber kein Wort kommt heraus. Er hat furchtbare Angst, das gleiche Schicksal könnte ihm widerfahren. Er läuft immer schneller. Nur weg von diesem Ort, denkt er. Wo er schließlich landen wird, weiß er nicht, als er durch einen Schacht ins Bodenlose fällt.
Jonas ist für kurze Zeit bewusstlos. Als er die Augen wieder öffnet, sieht er einen Gang, der mit Neonlicht beleuchtet ist. Er folgt dem Gang und erreicht einen achteckigen Platz. Dort gibt es ebenfalls Häuser und Jonas merkt, dass es noch eine unterirdische Stadt gibt. Aber keiner ist zu sehen. Jonas folgt der Treppe, die zu einem Haus oberhalb des Platzes führt. Da hält er inne und duckt sich, denn er hört Schritte. Es sind Soldaten, die auf den Platz marschieren. Sie tragen graue Uniformen und Helme aus Aluminium. Irgendwie sehen sie lächerlich aus. Wie eine Blechbüchsenarmee, denkt Jonas.
Die Soldaten versammeln sich in der Mitte des Platzes und stehen alle ganz still. Erst jetzt sieht Jonas wie ein alter Mann den Platz betritt und sich an die Soldaten wendet: «Wir feiern den dreißigsten Jahrestag unserer Befreiung. Deshalb haben wir uns hier versammelt, um denen die Sprache wiederzugeben, die sie verloren haben. Lasst uns stolz auf unseren Erfolg sein. Im letzten Jahr haben wir 34 Personen befreien können.».
Die Soldaten salutieren und singen ein sehr lautes Lied in einer Sprache, die Jonas zuvor niemals gehört hat. Danach verschwinden sie wieder und Jonas ist allein.
Da sieht er ein Mädchen. Es sieht durch das Fenster der Wohnung, vor der Jonas gerade kauert. «Komm doch rein!», sagt sie freundlich und Jonas lässt sich das nicht zweimal sagen. In ihrem Zimmer sind viele Holzregale und eine Menge Spielzeug. «Das brauche ich nicht mehr!», spricht sie Jonas an, als sie merkt, dass er verwundert auf die Regale guckt. «Aber warum soll ich es wegwerfen? Ist doch ein Teil von mir!», redet das Mädchen weiter, das Katja sehr ähnlich sieht. «Heißt du etwa Katja?», fragt Jonas, als sei es selbstverständlich in dieser unterirdischen Stadt zu sprechen. «Nein, ich bin Tharia! Und du?» «Ich bin der Jonas!», antwortet er, und Tharia lächelt. Jonas setzt sich auf einen freien Stuhl. Noch bevor er etwas sagen kann, spricht Tharia: «Du hast sicherlich viele Fragen. Ich würde auch lieber oben wohnen im Spielzeugland. Aber hier unten sind wir sicher.». «Sicher vor wem?» kommt es aus Jonas herausgeschossen. «Sicher vor dem Malipali. Er ist ein fürchterlicher Mensch. Vor Jahren hat er Strahlen entdeckt, die die Träume der Menschen beeinflussen können. Die Menschen im Spielzeugland träumen jeden Abend denselben Albtraum. Ein fürchterliches Ungeheuer würde sie töten, fingen sie an zu reden. Deshalb schweigen alle und unterhalten sich nur über die elektronischen Tafeln. Die überwacht der Malipali und so weiß er, was die Menschen denken.»
«Aber ich habe einen Mann gesehen, der von einem übergroßem Greif weggetragen wurde!», sagt Jonas. «Ja, das sind Halluzinationen, die der Malipali über seine schrecklichen Strahlen, die aus dem Würfel gesendet werden, auch tagsüber den Menschen einflößen kann. Wir leben hier unten, weil wir hier vor den Strahlen sicher sind. Wenn wir nach oben gehen, tragen wir diesen Sombrero, der uns vor den Strahlen schützt. So ist es uns möglich, für kurze Zeit unentdeckt oben zu bleiben. Aber der Malipali hat ein Überwachungssystem mit Videokameras installiert, die überall versteckt sind. Deshalb dürfen wir uns nicht allzu lange in der Stadt aufhalten. Meistens reicht aber die Zeit, dass wir einen Menschen von oben befreien können. Wir bringen ihn für kurze Zeit nach unten in unsere Stadt und klären ihn auf. Wenn er will, kann er dann bei uns bleiben. Andernfalls wird er wieder nach oben geschickt.»
«Und wie könnt ihr sicher sein, dass der euch nicht verrät?», fragt Jonas Tharia. «Wenn er nach oben geht, ist er den Strahlen des Malipali ausgesetzt. Er wird sofort alles vergessen, was er noch vor kurzer Zeit erfahren hat. Sein Erinnerungsvermögen wird stillgelegt. Er denkt nur noch in der Gegenwart. An die Vergangenheit und die Zukunft kann er nicht mehr denken.»
«Das ist also das Geheimnis der Stadt!», ruft Jonas überglücklich. «Jetzt kann ich in die nächste Stadt gehen. Ich will nämlich in die Stadt der Kinder, und bevor ich dort hinkommen kann, muss ich herausfinden, was das Geheimnis dreier Städte ist.». «Was willst du in der Stadt der Kinder? Ich habe noch nie davon gehört.», sagt Tharia ein wenig traurig, weil sie weiß, dass Jonas sofort wieder gehen wird. «Dort will ich leben. Ich habe meinen Vater verloren. In der Stadt der Kinder hat aber jedes Kind einen Vater und ich glaube, ihn dort wiederzusehen.». «Achte darauf, dass du den Sombrero trägst, wenn du nach oben gehst. Begib dich dann wieder zum Strand und nimm eine orangefarbene Kugel. Die anderen werden dich nicht wieder zurückbringen.» gibt Tharia Jonas mit auf den Weg. Sie begleitet ihn bis zum Aufgang in die Stadt und wünscht ihm noch viel Glück, bei seiner Suche nach seinem Vater.