Es gibt viele Wege, einen Menschen loszuwerden, der sich gegen dummdreisten religiösen Übereifer in der Öffentlichkeit ausspricht. Wie wäre es mit einem professionellen Killer, der den gehassten Bösewicht aus dem Wege räumt? Mitten auf der Straße bricht er zusammen, kein Schuss ist zu hören, nur das leichte Plopp eines Sektkorkens. Der Mann ist tot.

Besser ist es allerdings, die Schwächen des potentiellen Opfers auszunutzen, um ihn in den Tod zu treiben. Man verbreitet so lange Lügengeschichten über sein Opfer, bis dieses sozial geächtet wird. Der so Geschmähte wird infolgedessen meistens Zuflucht in der Anonymität einer Großstadt suchen. Dort wird er in der selbst gewählten Isolation zwar in Ruhe gelassen, aber die Verletzungen sind immer noch spürbar und hindern ihn nicht nur am Einschlafen. Sein Lebensmut ist dahin, und letztendlich wird sich das Opfer selbst von diesem Elend zu befreien suchen.

So erging es Galois' Vater, der sich gegen die Hetzkampagne, zu der sich ein junger Priester von Gott berufen fühlte, nicht mehr wehren konnte, so dass er 1829 in Paris Zuflucht suchte. Er nahm sich sechs Monate später das Leben. War der schmerzerfüllte Evariste Galois hasserfüllt, als sein Vater in Bourg-la-Reine durch eben den Gemeindepriester beigesetzt wurde, der die Hetzkampagne inszeniert hatte? Vielleicht war es für ihn eine Genugtuung, als Beschimpfungen und Steine den Priester trafen. Auf dem Grabstein kann man heute immer noch lesen:
 

Wie ein Friedensengel, der auf die Erde gesandt wurde, hinterließ er nur gute Dinge, wo immer er ging und nimmt mit sich ins Grab den immer währenden Kummer der Unglücklichen, die ihn Vater nannten. Wenn all diejenigen, die ihn kannten, ihn betrauern – wie groß muss der Kummer derjenigen sein, die er liebte? Wer wird seinen Kindern und seiner Witwe Trost zusprechen für den schrecklichen Schlag, den dein Tod mir versetzt hat. Meine Liebe, meine Hoffnung, meine Stütze , alles liegt hier begraben. Möge er in Frieden ruhen.“.1

Evariste Galois war zu jenem Zeitpunkt 18 Jahre alt und hatte da bereits gedanklich seine mathematische Theorie vollendet und eine Veröffentlichung in Gergonnes „Analen der Mathematik“ sowie eine nicht bestandene Aufnahmeprüfung an der Universität hinter sich gebracht. Auch er hatte eine zweite Chance, doch wenn der Prüfling klüger ist als die Prüfer, dann ist auch diese Chance vertan. Genau so erging es Evariste Galois, als er den Prüfern die Theorie des Logarithmus erklärte. Dies tat er leider nicht in der Art, wie sie in den damals vorhandenen Lehrbüchern zu finden war. Als bei dieser Gelegenheit zu allem Überdruss eine hitzige Diskussion zwischen Prüfern und Prüfling aufkam, in der Galois einen Tafellappen nach einem der Prüfer warf, war die Sache mit der Universität erledigt und Frankreich hatte einen weiteren klugen Kopf gewissermaßen guillotiniert.

Galois - ein jugendlicher Hitzkopf, der sich nicht beherrschen konnte? Was hatte er besseres verdient? Wäre er finanziell besser gestellt gewesen, wäre ihm dies höchstwahrscheinlich vollkommen egal gewesen. Er hätte weiter Mathematik mit einer Leichtigkeit betrieben wie ein anderer allmorgendlich sein Frühstück zu sich nimmt. Die Veröffentlichungen in den mathematischen Fachblättern hätte er anfangs selbst bezahlt und irgendwann einmal wäre er mit seinen revolutionierenden Vorstellungen verstanden worden. Danach hätte man ihn direkt als Ehrendoktor an die Universität berufen und als einen großen Sohn Frankreichs gefeiert.

Aber die Verhältnisse waren nicht so, dass sie ihm dies gestattet hätten. Er musste sich nach Verdienstquellen umsehen und das möglichst rasch, um seinen Lebensunterhalt bestreiten zu können. Mit einigen Schwierigkeiten bestand er die Aufnahmeprüfung an einem Ausbildungsseminar für Lehrer. „Der Kandidat bringt obskure Gebiete in der Mathematik zum Ausdruck, aber er ist intelligent und zeigt ein großes Interesse für die Forschung. Er lieferte eine sehr erfrischende Sichtweise was die angewandte Analysis betraf.“ So urteilte sein Mathematikprüfer Leroy. Allerdings kam er im Fach Physik nicht so gut weg. Sein Prüfer Péclet schrieb: „Er war der einzige Kandidat, der erbärmliche Antworten von sich gab. Mir wurde erzählt, dass er sehr gut in Mathematik sei. Dies überrascht mich sehr, weil er in der Physikprüfung nicht sehr intelligent erschien oder aber seine Intelligenz ist so gut versteckt, dass ich nicht in der Lage war, sie zu entdecken. Falls er wirklich das ist, was sich mir darbot, dann zweifle ich allerdings sehr stark daran, dass er einen guten Lehrer abgeben wird.“2

 

Vielleicht war Galois erleichtert, dass er trotz dieser divergierenden Meinungen am 20.2.1830 im Lehrerseminar aufgenommen wurde. Aber – wie froh musste er gewesen sein, als er noch im Januar von einer Ausschreibung der mathematischen Fakultät hörte, die zur Einsendung gedruckter oder handschriftlicher Arbeiten der angewandten oder theoretischen Mathematik aufrief. Galois schrieb erneut ein Manuskript, das er schon ein Jahr zuvor an Augustin Louis Cauchy in die Universität gesandt hatte, ohne jemals eine Reaktion bekommen zu haben. Zwar hatte dieser zunächst tatsächlich vorgehabt, Galois' Arbeit in einem Vortrag zu präsentieren, wozu es aber letztendlich nicht kam. Hier hatte Galois also wieder seine zweite Chance, um über diesen Weg an die Universität zu kommen und endlich das zu tun, was er am liebsten tat. Doch wie das Schicksal so spielt, wurde seine Arbeit „Über die Lösbarkeit algebraischer Gleichungen durch Radikale“ an den berühmten Mathematiker Fourier zur Begutachtung weitergegeben, der sie mit nach Hause nahm. Sicherlich hätte Fourier Galois' Arbeit würdigen können, wenn er nicht am 16. Mai desselben Jahres verstorben wäre. Galois' Arbeit tauchte nie wieder auf, er selbst wurde vom Wettbewerb ausgeschlossen und niemand machte sich die Mühe, ihn persönlich darüber zu informieren. Galois wurde zum zweiten Mal von der „Grande Nation“ und deren Protagonisten sinnbildlich geköpft.

Wenn Enttäuschungen zu groß werden, dann sind Freunde wichtig. Die lernte er auf dem Lehrerseminar kennen. Sie übten einen großen Einfluss auf Galois aus, weil diese wie er selbst von einer besseren Zukunft träumten, in der die Freiheit, die Gleichheit und die Brüderlichkeit die gesellschaftlichen Verhältnisse gestalten sollten. Vielleicht waren die hitzigen politischen Diskussionen mit seinen Freunden und die Vorstellungen eines Claude-Henri de Rouvroy, Comte de Saint-Simon das einzige, was Galois damals aufmuntern konnte, um seine Jahres-Prüfung am 22. Juni 1830 am Lehrerseminar zu bestehen, um danach in den Sommerferien seine Familie in Bourg-la-Reine zu besuchen.

Seine Geschwister sahen, wie er sich verändert hatte. Einst scheu und zurückgezogen, lernten sie nun einen wilden und resoluten Bruder kennen, der auch vor Gewalt nicht zurückschreckte. Galois verhielt sich also nur konsequent, als er Mitte November der Untergrundorganisation „Die Freunde des Volkes“ in Paris beitrat, die damals der terroristischen Umtriebe angeklagt war. Von nun an hatten Galois und die Freunde einen gemeinsamen Feind, König Louis-Philippe. Galois war inzwischen im zweiten Jahr am Lehrerseminar, und von seinem Manuskript hatte er immer noch nichts gehört.

Der König kämpfte mit allen Mitteln gegen die neue revolutionäre Bewegung. Zuerst löste er die republikanischen Teile des Militärs auf. Er entließ General Lafayette und löste die National-Garde auf. Galois hingegen wurde nicht müde, sich gegen das Regime aufzulehnen. So schrieb er in einer Pariser Zeitung: „Meinungen sind in der Wissenschaft unwichtig. Ich will wissen, ob ein bestimmtes Individuum ein guter oder schlechter Lehrer ist und mich nicht über seine Meinung sorgen müssen, die nichts mit wissenschaftlichen Fragen zu tun hat. Es ist deshalb frustrierend und skandalös zugleich, zu sehen, wie Lehrerstellen für diejenigen geschaffen werden, die die akzeptierten royalistischen und religiösen Vorstellungen vorweisen können. Die Situation hat sich nicht verbessert. Kleingeisterei wird belohnt.“3.

 

Wer solches in der Öffentlichkeit schreibt, hat sich vom Lehrerseminar zu verabschieden und muss als Privatlehrer sein Geld verdienen. Galois versuchte es bei seinen Freunden – ohne Erfolg. Seine Ansprüche waren zu hoch, die Freunde blieben den Unterrichtsstunden fern, jedoch nicht den politischen Treffen. Allerdings war Galois bereits so radikalisiert, dass seine Freunde ihn letztendlich doch verließen, als er eines Tages mit einem Klappmesser herumfuchtelte und dabei in den Saal schrie: „Für Louis-Philippe“.

Am nächsten Tag erwartete ihn bereits die Polizei. Er wurde ins Gefängnis Sainte-Pélagie gesteckt. Am 15. Juni 1831 begann sein Prozess. Er hatte Glück, konnte sich gut verteidigen und wurde letztendlich unerwartet freigesprochen. Von seinem Manuskript hatte er immer noch nichts gehört.

Aller guten Dinge sind drei, und so versuchte Galois es ein drittes Mal und sandte das Manuskript „Über die Lösbarkeit algebraischer Gleichungen durch Radikale“ ein weiteres Mal an die Universität. Um der Sache noch mehr Druck zu verleihen, erschien ein von Galois verfasster Artikel über die Nachlässigkeit der Universität in der Presse. Dies veranlasste dann endlich die Professoren Lacroix und Poisson dazu, sich des Manuskripts anzunehmen.

Nichts ist schlimmer für einen Mathematiker, als eine fehlerhafte Arbeit abzugeben. Dann ist alles falsch und seine Theorie ist hinfällig geworden. Noch schlimmer aber ist, wenn der angeblich nachgewiesene Fehler selbst auf einer fehlerhaften Begründung basiert. Offensichtlich waren die beiden Gutachter mit Galois' Theorie total überfordert und infolgedessen wurde Evariste Galois diesmal endgültig, und zwar am 4. Juli 1831, dem Erscheinungsdatum des vernichtenden Gutachtens, als Mathematiker diskreditiert.

 

Und die Liebe? Manchmal hilft sie, über derartige Lebenssituationen hinweg zu kommen. Aber sollte er sich jetzt zurückziehen wie sein geschmähter Vater? Da gab es noch die Politik. Hier konnte er vielleicht noch etwas tun für die Entwicklung Frankreichs zu einem modernen, demokratischen Staat. Also warum die Flinte ins Korn werfen, wenn man sie noch in die Hand hält.

 

Eine Demonstration gegen den König wurde organisiert und mit Plakaten öffentlich gemacht. Galois wurde als subversiver Republikaner am 14. Juli auf Anordnung des Polizeipräfekten Vivien festgenommen, während er mit einer Gruppe Freunde den Point Neuf überquerte. Sein Prozess begann am 23. Oktober 1831 und er wurde zu sechs Monaten Gefängnis in Sainte-Pélagie verurteilt.

 

Galois verbrachte die meiste Zeit im Gefängnis mit Meditationen über sein Leben. Er war gescheitert! Sollte ihn dasselbe Schicksal ereilen wie seinen Vater? Folgendes soll er im Gefängnis geschrieben haben: „Wenn ein Mann sagt, dass er ein Wissenschaftler sei, so muss er einen Namen haben, um denjenigen zu kontern, die gegen ihn sind. Ein Mann, der eine Idee hat, kann zwischen dem hohen und lebenslangen Ansehen eines Gelehrten wählen oder aber er gründet eine Schule, bleibt still und stellt das zukünftige Überleben seines großen Namens sicher. Der erste Fall tritt ein, wenn er seine Idee zu Lebzeiten in die Praxis umsetzt, der zweite Fall, wenn er seine Idee veröffentlicht. Es gibt einen dritten mittleren Weg: veröffentlichen und praktizieren. Dann ist man der Lächerlichkeit ausgesetzt.“4.

Galois wollte nicht so sterben wie sein Vater. Sollte sein Freitod irgendeinen Sinn haben, dann im Geiste der Revolution. Die Verhältnisse hatten sich zugespitzt. Der König musste durch einen Gewaltakt abgesetzt werden. Für die revolutionäre Inszenierung brauchte man folgende Zutaten: einen toten Helden, dessen Körper man den Massen zeigen konnte und in dessen Namen die französische Bevölkerung sich gegen den König erheben würde. Galois erklärte sich sofort damit einverstanden, den Helden zu geben. Er war von dieser Idee nicht mehr abzubringen. Sein Leben war aussichtslos geworden. Das Duell fand am 30. Mai statt und Galois' Tod war vorprogrammiert, weil seine Pistole nicht geladen war. Dies konnte man später in der Zeitung Le Précurseur nachlesen. Kurz vor seinem Tod schrieb er sein letztes „Mémoire“, in dem er seine Theorie zusammenfasste und durch weitere Theoreme ergänzte. Er schloss mit folgender Bemerkung: „Fragt Jacobi und Gauss nach ihrer Meinung in der Öffentlichkeit - nicht über die Wahrheit dieser Theoreme, sondern über ihre Bedeutung.“5.

 

Galois hatte seinen Traum geträumt. Seine Mémoires wurden 60 Jahre nach seinem Tod wieder entdeckt. Nun erst erkannte man die Bedeutung, Galois hatte die neue Mathematik begründet. Dieselben Methoden, die Grothendieck in den sechziger Jahren des 20. Jahrhunderts weiter entwickelte, hatte Galois schon gekannt. Ihm allein verdanken wir die Übersetzung von Problemen, wie zum Beispiel die Lösung von Gleichungen beliebigen Grades durch Radikale in ein neues mathematisches Universum, die Welt der Gruppen. Darüber hinaus zeigte er auf, dass beide Universen funktoriell in enger Verbindung stehen: Eine Gleichung beliebigen Grades ist genau dann auflösbar, wenn die Galoisgruppe, die dieser Gleichung eindeutig zugeordnet werden kann, auflösbar ist.

Noch heute wird Galois' Traum geträumt, unter anderem auch von all denjenigen, die mit der Weltmaschine das Universum erklären wollen. In diesem Jahr jährt sich Galois' zweihundertster Geburtstag. Man kann nur hoffen, dass dann auch in Deutschland dieser große Mathematiker, der im Alter von nur 20 Jahren starb, seine Würdigung finden wird.

 

© GOO, Januar 2009

1LauraToti Rigatelli, Evariste Galois, Translated from the Italian by John Denton, Birkhäuser Verlag, Basel, Boston, Berlin, 1996, S. 44

2Ebenda, S. 47-48

3Ebenda, S. 77

4Ebenda, S. 97

5Ebenda, S. 112

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