«... nährten wir uns vom gleichen Brot des Exils und warteten, ohne es zu ahnen, auf die gleiche alles verändernde Wiedervereinigung und den gleichen Frieden.» [Die Pest, Albert Camus, Rowohlt Taschenbuch Verlag, Hamburg 1998, S. 210]
Ein Zitat, das auf viele Situationen anzuwenden ist: die Wiedervereinigung zweier Staaten, das Zurückkehren aus dem Exil, in das Menschen gezwungen werden, weil die wirtschaftlichen oder politischen Verhältnisse nicht mehr zu ertragen sind, die Hoffnung auf Gerechtigkeit und Frieden, das Gefangensein in einer weltweiten Katastrophe, die die Menschheit heimgesucht hat.
Gerade diese Vieldeutigkeit macht den vorliegenden Text aus. Sie verallgemeinert das menschliche Verhalten, in einer konkreten Situation festzustecken und nicht zu wissen, wie man aus ihr rauskommt. Gefangen sein, nur noch schwach hoffen zu können, das alles zu überleben. Ob Klimakatastrophe, oder die Pandemie, oder ein Meteoriteneinschlag oder ein Vulkanausbruch, wir sind unserer Freiheit beraubt worden, die unsere Essenz ist, unser Menschsein festlegt. Was bleibt ist die Natur mit ihren Gesetzen, die stärker ist als wir, die uns jeden Tag vorführt, wie zerbrechlich wir sind, auch wenn wir uns selbst nicht in sinnlosen Kriegen und Kämpfen umbringen, dem anderen Leid antun, oder im narzisstischen Wahn uns als Induviduen über alles stellen, was notwendig ist zu überleben.
Was bleibt ist die Hoffnung, dass alles noch einmal gut geht. Dass der technische Fortschritt Fahrt aufnimmt und sich unsere Unzulänglichkeit in Luft auflöst, weil wir Mittel haben, ihr zu begegnen. Oder aber die romantische Vorstellung einer globalen Wiedervereinigung, in der wir alle am selben Strang ziehen, um uns aus dem Sumpf zu befreien und endlich Frieden zu erlangen. Doch wir wissen aus unserer Geschichte, wie alles weiter geht. Der Mensch hat kein Gen der Erinnerung, das die Erfahrung der Generationen vererbbar macht. Er muss sich alles neu aneignen. Nichts wird ihm geschenkt. Die Zeit wird immer knapper, die richtigen Entscheidungen zu treffen. Je mehr wir wissen, umso größer wird die Besorgnis darüber, was in der Zukunft droht, ob wir der Aufgabe noch gerecht werden oder uns die Zeit einfach wegläuft und wir uns unserm Schicksal ergeben müssen.
Als Resümee bleibt mir nur der Schluss, die Pest nicht als eine Bedrohung zu betrachten, die uns von außen droht, sondern als eine Tatsache unseres Wesens. Die Pest ist eine Metapher dafür. Wir sind nicht nur frei, sondern haben unsere Freiheit selbst verpestet und uns dann in Quarantäne geschickt, weil wir glauben, uns nur so selbst schützen zu können. Wenn der Mensch wirklich, für alles, was er tut oder eben nicht tut, verantwortlich ist, dann eben auch für das, was er ist, die dialektische Synthese von Unabhängigkeit und Abhängigkeit, Freiheit und Unfreiheit, Gut und Böse, Krieg und Frieden, Gleichheit und Ungleichheit, Leid und Freude ...
Die dialektische Einheit von Gut und Böse kennen wir schon, es ist die Vernunft und wir tragen sie in uns. Die dialektische Einheit von Leid und Freude ist die Liebe, oder das liebevolle Miteinader, das es uns ermöglicht Frieden zu schließen. So sind wir gut gerüstet, die dialektische Einheit von Abhängigkeit und Unabhängigkeit oder Freiheit und Unfreiheit Wirklichkeit werden zu lassen. Aber das wird nur funktionieren, wenn wir nicht auf die gleiche alles verändernde Wiedervereinigung warten, sondern sie aktiv umsetzen.
«Wenn man sah, wie sie (die Pest [Anm. d. Verf.]) eine so sichere Beute wie Grand oder Rieux' junges Mädchen fahrenließ, wie sie sich in manchen Vierteln zwei oder drei Tage lang verschlimmerte, während sie aus anderen gänzlich verschwand, wie sie am Montag mehr Opfer holte und sie am Mittwoch fast alle davonkommen ließ, wenn man sah, wie sie so außer Atem geriet oder sich überstürzte, hätte man meinen können, dass sie sich aus Nervosität oder Überdruss selbst zerstörte, dass sie zusammen mit der Gewalt über sich selbst die unfehlbare mathematische Wirksamkeit verlor, die ihre Kraft gewesen war.»
Das ist das Happy End des Buches. Das Happy End eines Chronisten, der die Selbstzerstörung der Pest beschreibt und die Freude der Menschen über die wiedergewonnene Freiheit. Doch dieses Narrativ ist nicht, wie wir sehr sicher wissen, die Geschichte der Klimakatastrophe, die uns droht, wenn wir weiter so machen und nichts ändern. Wie wird ein Chronist diese Geschichte erzählen? Wird es ein Happy End geben? Hat sich die Klimakatastrophe am Ende selbst abgeschafft?
© GOO, September 2021