Meine Freiheit besteht darin, dass ich das nicht tun muss, was ich will oder andere von mir wollen. Das Buch liegt vor mir auf dem Tisch. Ein Bekannter hat es mir empfohlen, als ich auf Facebook etwas über sogenannte Arbeitshelden geschrieben habe. Das Buch ist 250 Seiten stark und enthält drei Reportagen von Landolf Scherzer. Schon wieder so ein langweiliges Buch – und ich lese die erste Reportage. Was mir gleich auffällt ist, dass es besser ist, Reportagen zu lesen als sich welche im Fernsehen anzuschauen.
In der ersten Reportage geht es um Mitarbeiter einer sogenannten Tafel und deren Kunden, wie man heute so schön sagt, die im Buch auch Hilfebedürftige genannt werden, um den offiziellen Sprachgebrauch des JobCenters zu benutzen, denn es handelt sich um Hartz IV Empfänger, die zu wenig zum Leben haben und deshalb auf das Gutmenschentum der Tafeln angewiesen sind. Interessant, dass auch die Chefs der Tafeln eigentlich ihre Arbeit nicht als Hilfe verstehen sondern als Lückenbüßer eines Staates, der beschlossen hat, Millionen Menschen zu Niedriglöhnen arbeiten zu lassen, die durch Hartz IV aufgestockt werden müssen oder Millionen Menschen als Arbeitslose dazu verdammen, ein Leben in behördlich angeordneter Armut zu fristen. Infolgedessen ist diese Reportage eine Anklage an die, die ganz oben sitzen und über das Schicksal von Millionen entscheiden.
Es enthält ebenso klassische Elemente eines Dramas, das sicherlich einer Aufführung Wert wäre. So teilt uns ein Mann in der dritten Lebensgeschichte einer Abholerfamilie folgendes mit: „Ich bin nach der Wende nicht nur von der DDR befreit worden. Ich bin vor 20 Jahren ordentlicher Bildung befreit worden. Ich bin von 15 Jahren Berufserfahrung befreit worden. Man hat mich von Urlaubsreisen befreit, die können wir uns nicht mehr leisten. Ich bin von der Kultur, die ich nicht mehr bezahlen kann, befreit worden. Ich bin von geselligen Feiern, die zu viel kosten, befreit worden. … Ich bin von einer gesunden und deshalb zu teuren Nahrung befreit worden.“ Besser hätte Shakespeare den Text auch nicht schreiben können, obwohl bei ihm die Ankläger immer hoch gestellte Persönlichkeiten waren, die dann zu Fall gekommen sind.
Das Wort bleibt immer in Erinnerung. Es hat sich wiederholt, das Unfassbare, der größte anzunehmende Unfall. Es ist geschehen und es wird noch lange andauern: die radioaktive Verseuchung in Tschernobyl. Warum will man an so einen Ort fahren? Um das Elend der Menschen zu begreifen? Dazu muss man nicht dort sein. Um den Menschen zu helfen? Das wäre sicherlich ein Grund. Aber der Helfer hat zwei verschiedene Gesichter: „Wer still hilft, hilft anderen. Wer laut hilft, hilft auch sich.“ (S. 96) Der Autor macht zweimal eine Reise in die radioaktive Hölle, die erst einmal aussieht wie ein armes Land mit armen Menschen und ein paar reichen Menschen, die sich fast alles leisten können, auch eine Reise zum Grab des Atommeilers von Tschernobyl, zum Sarkophag. Hier ist das Land zu Ende, hier wird es nie mehr sein, jedenfalls für die nächsten fünfzigtausend Jahre nicht. Hier ist der Himmel Zeitraum und die Tränen sind Regenschauer, hier haben die Menschen den Preis für die Vergangenheit zu zahlen. Was will ein Mensch an diesem Ort, der abgeriegelt ist, zu dem nur besondere Persönlichkeiten Zutritt gewährt wird. Es noch einmal versuchen, weil es beim ersten Mal nicht geklappt hat? Mit Geld lässt sich vieles machen. Auch die Bestechung ist normal in einem Land, in dem der Staat nicht für alle seine Bürger da ist sondern überwiegend für seine Reichen. Und so ist die Idee eines Tschernobyltourismus sehr schnell geboren. Man bekommt auch einen Geigerzaehler um den Hals gehängt, schließlich will man mit heiler Haut wieder aus der Sache heraus kommen. Also hereinspaziert, setzen sie sich der tödlichen Strahlung aus, spielen sie selbst einmal Liquidator, erleben sie den Nervenkitzel. Bei uns gibt es für Gruppen auch Sonderpreise. So leicht ist es in einem Land, das die erste nukleare Katastrophe erlebt hat. Diese Reportage ist erst auf den zweiten Blick erschreckender als sie auf den ersten Blick erscheinen mag.
Die letzte Reportage befasst sich mit den Helden der Arbeit und was aus ihnen im neuen Gesellschaftssystem geworden ist. Schließlich muss man sich als Regiemgegner outen, wenn man es im neuen System zu etwas bringen will. Man muss seine Vergangenheit neu aufpolieren und das kann man als Held der Arbeit nicht so leicht machen. Und die Frage danach, wer das Stück Leben eines Menschen kauft, den er nicht kennt, bleibt dann im Raum stehen. Wer will schon gern zum Sündenbock gemacht werden, auch wenn er immer sehr gut gearbeitet hat und dafür eine Auszeichnung bekommen hatte? So kann man heute in aller Öffentlichkeit sagen, dass die Merkel eine echte Ostnull ist und eigentlich als Kanzlerin schon längst abgewählt hätte werden müssen, aber wenn sie innerbetriebliche Abläufe kritisieren, sagen was im Betrieb nicht läuft, dann kann es ihnen passieren, wenn so etwas an die Öffentlichkeit dringt, dass sie schon bald entlassen sind. Also sind die Unterschiede in den Systemen schon vorhanden. Die Auswirkungen der Unterschiede sind jedoch doch für den Einzelnen sehr ähnlich. In der DDR hatte man Geld und konnte sich dafür nichts kaufen, im Kapitalismus gibt es alles, aber man hat kein Geld, um es sich zu kaufen. Um das zu ändern, brauchen wir keine Helden, weil Helden immer inszeniert sind, ob es sich um kapitalistische Helden der Arbeit dreht oder um sozialistische Helden eben. Der Begriff ist schon längst enttarnt: Letzte Helden eben. Nein, wir brauchen Menschen, die das verändern wollen. Und das sind Menschen wie du und ich und keine Helden.
Fazit: Ein sehr empfehlenswertes Buch. Letze Helden, Landolf Scherzer, aufbau taschenbuch, Berlin 2010
© GOO, Mai 2013