Finsternis. Die Ausleuchtung des Raums ist nur punktuell möglich. Ein Wort taucht auf. Der Wortraum wird in seinen Möglichkeiten eingeschränkt. Ein Satz taucht auf. Die Möglichkeiten ziehen sich zusammen. Ein Text taucht auf. Die Möglichkeiten sind auf den Punkt gebracht, der Punkt ist hell erleuchtet.

Gefängnisse. Bewusstwerdung eines Ichs. Sum, das Cogito noch nicht erschlossen. Eingeschlossen das Ich, manchmal sogar weggeschlossen. In eine Krankheit vielleicht, in eine Gier manchmal, in eine Angst, die erstickt, in eine Selbstsucht, die betrügt, in eine Trägheit... Wie auch immer das Gefängnis heißen mag, immer ist es Einengung und Schutzraum zugleich. Jeder hockt in seinem Pavillon. Jeder ist von dem umgeben, was ihm sein Leben lang entgegenstand. Widerstand an dem sich das Ich zu Tode arbeiten muss.

Paul, Wittgensteins Neffe, ist verrückt. Deshalb wird er immer wieder eingewiesen. Damit sich seine Verrücktheit beruhigt. Reichtum heißt das Gefängnis der Familie Wittgenstein, und sie ist gestraft mit Paul, so wie Paul mit dieser Familie gestraft ist. Die Gefängniswärter heißen Ärzte. Sie sind hilflos. Können nur traktieren. Heilung nicht in Aussicht, Besserung vielleicht. Seltsame synthetische Extrakte ersetzen die Blutegel und Kräuter des Mittelalters. Der Mensch ist eine Maschine, dessen Funktionalität noch nicht zu Genüge erkundet wurde. Wir sind noch dabei! Die Pharmaindustrie forscht für ihre Zukunft.

Thomas Bernhard liegt nur ein paar Meter entfernt. Im Pavillon Hermann liegen die körperlich Kranken. Hier spielt nicht der Geist verrückt. Es ist der Körper. Das einzige Gefängnis, dass jeder sein Leben lang mit sich trägt. Der Tumor, das schwache Herz, die Immunkrankheit und durch das Kortison entwickelt sich beim frisch Operierten ein Mondgesicht.

Reichtum macht dumm und Krankheit macht abhängig. Nachteil: Die Abhängigkeit ist für denjenigen kaum zu ertragen, der immer nur von Dummen umgeben ist. Dann schon lieber verrückt spielen. Den Dummen den Widerstand geben: Musik, Malerei, Literatur und Wissenschaft. Doch: das Gefängnis der Dummen ist ein Atombunker. Undurchlässig für Alles. Widerstand zwecklos! Ist der Stein nach oben gebuckelt worden, läuft er ins Leere. Kampf gegen Windmühlen! Ja, bis man verrückt ist, krank, ausgebrannt, am Ende eben.

Aber: das Gefängnis des Kranken ist offen. Der Kranke fordert die Luft für seine Genesung, das Mitgefühl seiner Mitmenschen. Die Fenster sind vergittert, die Türen zunächst verschlossen. Wer will schon sein Leben lang mit einem Kranken zusammen leben? Damit hat der Kranke selbst seine Schwierigkeiten.

Was vom Anderen bleibt: Die Erinnerung an die Freundschaft. Das andere Ich, das die Zelle betreten hat. Das andere Ich, das man selbst ist, weil man es so gut versteht. Das andere Ich, das so verschieden ist wie Krebs von einer Geisteskrankheit verschieden ist, wie der Pavillon Hermann vom Pavillon Ludwig verschieden ist. Die eindringliche Sprache von Thomas Bernhard macht es erst möglich, dass die Gefängnistüren offen sind und gerade deshalb niemand aus seinem Gefängnis will, weil der Widerstand fehlt, es zu wollen.

 

Thomas Bernhard, Wittgensteins Neffe – Eine Freundschaft, Frankfurt am Mein 1982

 

© Goo, Oktober 2010

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