Erich Fromm: Haben oder Sein (München, 1976)

Hedonismus, Spaßgesellschaft, I wonna have fun ist wie ein Traum von Freiheit in einer total systematisierten, kontrollierten, beherrschten dem wirtschaftlichen und technischen Fortschritt anheimgefallenen Gesellschaft, in der man vielleicht zum Schluss kommt, dass Habgier und Frieden ebenso einander ausschließen wie Haben und Sein. Doch worin liegt der Unterschied? Wer nichts hat, ist nichts. Doch wer viel hat, ist der schon?

 

„Flower in a crannied wall,

I pluck you out of the crannies,

I hold you here, root and all, in my hand,

Little flower – but if I could understand

What you are, root and all, and all in all,

I should know what God and man is.“ (Tennyson)

„Gefunden

Ich ging im Walde

So für mich hin,

Und nichts zu suchen,

Das war mein Sinn.

 

Im Schatten sah ich

Ein Blümchen stehn,

Wie Sterne leuchtend,

Wie Äuglein schön.

 

Ich wollt es brechen,

Da sagt' es fein:

Soll ich zum Welken

Geboren sein?

 

Ich grubs mit allen

Den Würzlein aus,

Zum Garten trug ichs

Am hübschen Haus.

 

Und pflanzt es wieder

Am stillen Ort;

Nun zweigt es immer

Und blüht so fort.“ (Goethe)

Die Inbesitznahme des Objekts ist ein Akt der Vergewaltigung, die nur zu seiner Zerstörung und nicht zur Erkenntnis führt. Goethe, ein leidenschaftlicher Anwalt des Lebens und ein Kämpfer gegen die Mechanisierung des Menschen nimmt das „cogito ergo sum“ eines Descartes nicht auf die leichte Schulter.

Sind mexikanische Analphabeten, die ein weit besseres Gedächtnis vorweisen können als lese- und schreibkundige Bürger der Industriestaaten schlechter? Erlebnisfähigkeit und Phantasie können in einer fortschrittlichen Industriegesellschaft genauso verkümmern wie ein Gespräch, das nur zum Austausch von Wissen, Informationen und Status dient, wie das Lesen eines Buches zum Zweck, die Hauptgedanken des Verfassers wiederzugeben. Kein Wunder, dass man unter diesen Bedingungen zum Schluss kommt, eine Maschine könne dies ebenso gut erledigen.

Eine auf Privateigentum und dessen Schutz ausgerichtete Gesellschaft würde sich bei Freud als pathologisch erweisen, wenn sie auch im späteren Leben dominierend bliebe. Ist unsere spätkapitalistische Gesellschaft ein Fall fürs Sanatorium? Ist es richtig, dass für Marx das Kapital das Tote und die Arbeit das Lebendige im Menschen repräsentiert? Sind wir eine Gesellschaft von Totengräbern geworden oder um es mit Albert Schweitzer zu sagen: der moderne Mensch ist unfrei, ungesammelt, unvollständig, pathologisch unselbständig und an die Gesellschaft preisgegeben. Wie kann bei einer solchen Analyse überhaupt etwas Neues entstehen?

Der „Selbstsüchtige Riese“ von Oscar Wilde und der „Kleine Prinz“ von St. Exupéry – übersetzt in alle Sprachen dieser Welt – haben die Welt von ihrer Selbstsucht nicht befreien können. Wie auch! Selbst Gautama, die Bibel und der Koran haben das nicht geschafft! Der durch materielle Vorteile korrumpierte Mensch sieht im HaErich Fromm: Haben oder Seinben nicht nur sein Ich sondern seine ganzheitliche Erfüllung. Die dem Sein Zugewandten sind dumme, naive Idealisten, die nicht wissen in welcher Zeit wir leben.

Wie können dann Appelle an die Solidarität und Opferbereitschaft fruchten, es sei denn man befindet sich im Krieg. Wohl jeder kennt dieses Muster. Wir sind von Hause aus schlecht, leben im Dschungel und lieben die Gewalt. Schön, dass wir keine Keulen mehr brauchen, das Kapital kontrolliert uns schon. Eine derart auf strukturelle Habensgewalt basierende Gesellschaft hat keine Weltverbesserer verdient. Aber sie benötigt den Marketing-Charakter. Der seine Person zu Markte trägt, sich im Konkurrenzkampf behauptet und still sitzen bleibt, wenn auf Knopfdruck mehrere hundert Menschen im Namen der Freiheit ermordet oder vom Hubschrauber aus mit dem Maschinengewehr getötet werden. Der Marketing-Charakter liebt nicht, er hasst nicht und niemand steht ihm nahe nicht einmal er selbst. Dafür prahlt er mit seinem Erfolg: seinem Besitz.

Dass das Haben der Gewalt bedarf – notfalls werden es auch Kriege sein – wer hätte das bezweifelt. Erich Fromm hat das Buch 1976 geschrieben und mir kommt es so vor, als wäre es heute geschrieben worden. Denn: „Je weniger du bist, je weniger du dein Leben äußerts, um so mehr hast du, um so größer ist dein entäußertes Leben.“ (Karl Marx). Man könnte es auch etwas profaner formulieren: stinkreicher Mann auf einer Luxusyacht in der Karibik. Sitzt gelangweilt auf seinem Thron an Deck. Hält ein Glas Champagner in seiner rechten Hand und eine Havanna in seiner linken Hand. Er seufzt: Sind wir nicht alle am Ende arme Reiche oder reiche Arme?

Viele mögen ein Buch daran beurteilen, wie konstruktiv das Gegenbild dargestellt wird. Hier hat Fromm etliches anzubieten: Die Befreiung der Frau von der patriarchalischen Gesellschaft ist nicht alles, der Mindestlohn gehört ebenso dazu. Aber wie sieht es mit der Werbung aus, die Propaganda des Konsums. Hier geht es Fromm wie Ingeborg Bachmann, die ihre Stellung dazu im dem Gedicht „Reklame“ dem Menschenkind überliefert hat. Ein wirksames System zur Verbreitung objektiver Informationen sowie die Trennung der wissenschaftlichen Grundlagenforschung von industrieller und militärischer Anwendung sind heute Utopien, die in weite Ferne gerückt sind. Die Kommerzialisierung der Wissenschaften geht sogar bis zum LHC. Hier soll das Grid – der Zusammenschluss tausender Computer über das Internet – kommerziell genutzt werden. Und was kann ein Ethikrat schon bewirken, wenn er mit fragwürdigen Gestalten besetzt ist?

Das Buch ist also nicht nur lesenswert sondern eine ernüchternde Bestandsaufnahme unserer Zeit aus der Vergangenheit vor 34 Jahren. Und es verhält sich so, wie mit dem Engel, der rückwärts gewandt in die Zukunft getrieben wird.

© GOO, April 2010

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