Welch verheerende Folgen in unserer neuen alten Welt sich dem Betrachter zeigen können, findet der Leser in nunmehr teilweise 30 Jahre alten Texten Volker Brauns1 wieder, die in dem Reclam-Band „Verheerende Folgen mangelnden Anscheins innerbetrieblicher Demokratie“ zusammengestellt worden sind, so dass der unmittelbaren Eindruck entsteht, es hätte sich in dieser Zeitspanne wieder nichts in der Sache geändert. Bei Weitem gefehlt, denn dies lässt zumindest den Teil der Deutschen außer Acht, die damals im „real existierenden Sozialismus“, um eine Terminologie von Rudolf Bahro zu benutzen, der 1967 wegen eines nicht genehmigten Abdrucks von Volker Brauns Stück „Kipper Paul Bauch“ als Chefredakteur der FDJ-Zeitung „Forum“ gefeuert wurde, gelebt und gearbeitet haben, womit ich diesen Stapelverarbeitungssatz endlich beenden kann und nicht vergessen will, den Leser auf Christian Morgensterns Vorrede zu seinen „Galgenliedern“ diesbezüglich aufmerksam zu machen. Welchen Stellenwert die Arbeit für die menschliche Existenz im damals geteilten Deutschland gehabt hat, erfährt der Leser bei dieser Textzusammenstellung überwiegend unveröffentlichter Texte in der ersten Abteilung.
Das Wesen des Menschen ist die Arbeit oder aber die Faulheit, wie der Schwiegersohn Karl Marx', Paul Lafargue, in seiner Schrift „Über die Faulheit“ in seiner besonderen Art und Weise dargelegt hat. Wenn der Autor Protagonisten beider Systeme gemeinsam auftreten lässt, kann er nur gewollt anecken, schließlich ist das Telos des Individuums nur in Gesellschaft zu erreichen und das System nur Mittel zum Zweck. Welches der beiden Gesellschaftssysteme die Arbeit und welches die Faulheit besser entwickelt, sei jedem selbst überlassen. Beidem lässt sich Positives und Negatives abgewinnen, wenn nur die Verhältnisse es zulassen.
Vielleicht wird der Leser bei den Texten der ersten Abteilung ab und zu „mangelnden Anschein an Ernsthaftigkeit“ feststellen und dies hat nicht nur mit innerbetrieblicher Demokratie zu tun. In meinem Fall hat der Autor es jedenfalls verstanden, dass Maß an Verwunderung hervorzurufen, von dem Aristoteles meint, es sei der Anfang jeglichen Nachdenkens. Aber führt das allein zum Ziel? Eine Struktur, die eine sehr große Masse besitzt, ist bekanntlich träge und lässt sich nicht so einfach bewegen, geschweige denn aus dem Weg räumen. Dafür entwickelt sie eine sehr große Anziehungskraft, in der alles zu verschwinden droht. Bleibt nur das vom System Unverdauliche, Unverwurstbare, das es immer geben wird und ausgespuckt irgendwo landet, wie der Jetstream eines Schwarzen Lochs.
Die anscheinend fehlende Ernsthaftigkeit wird dann in der zweiten Abteilung nachgeholt. Es handelt sich um drei Texte zu Lessing, Büchner und Rimbaud. Eventuell ist die Sprache ja das Fliegenglas, die es unseren Geist nicht ermöglicht über die Grenzen zu schauen. Aber selbst wenn wir es könnten, würden wir es merken - oder würden wir nicht wie Büchner2 feststellen müssen: „... Sind wir denn nicht in einem ewigen Gewaltzustand? Weil wir im Kerker geboren und großgezogen sind, merken wir nicht mehr, dass wir im Loch stecken mit angeschmiedeten Händen und Füßen und einem Knebel im Munde.“ Damit wird auch klar, welche Schwierigkeiten ein jeder mit einem Satz wie: „Die Welt ist erkennbar, aber nicht weiter in den Denkgleisen von heute, die auf dem Schotter unserer Strukturen ruhen.“3 haben muss.
Noch etwas wird deutlich beim Lesen der Lektüre: Wer den Tatsachen Rechnung trägt, hat mit seinem kaufmännischem Urteil Ja zu jeder Macht gesagt, sei es eine Regierung, eine öffentliche Meinung oder eine Statistik. Er bewegt seine Glieder genau in dem Takt, in dem irgendeine Macht am Faden zieht und ihm ist jedes kritische Urteil fremd. Wenn das Bestehende, die Wirklichkeit, Ausdruck einer sittlichen Idee ist und Normen mit universellem Geltungsanspruch als Handlungsmaßstäbe aufstellt, dann dient das Bewusstsein der Verfestigung der bestehenden Verhältnisse, gleich welcher Art sie auch sein mögen, und beraubt sich seiner Geschichtlichkeit. Dies wäre das Ende der Geschichte.
© goo, Juni 2009
1Volker Braun, Verheerende Folgen mangelnden Anscheins innerbetrieblicher Demokratie, Leipzig 1988
2Hans Magnus Enzensberger, Georg Büchner, Ludwig Weidig; Der Hessische Landbote; Texte, Briefe, Prozessakten kommentiert von Hans Magnus Enzensberger, Frankfurt am Main 1965
3Volker Braun, Verheerende Folgen mangelnden Anscheins innerbetrieblicher Demokratie, Leipzig 1988, S. 78