Jetzt muss ich nur noch den Wasserhahn aufdrehen und dann kann es losgehen. Das köstliche Nass wird meinen Körper, der zugegeben etwas besser aussehen könnte, benetzen, die Tropfen werden an meiner Haut abperlen wie der Morgentau auf den Blättern einer Orchidee. Hust, Stotter, Furz und danach Friedhofsstille, wie immer man das auch nennen mag, das Wasser läuft nicht mehr, ist abgestellt oder abgesperrt, Scheißedreck.

Nun gut, dann muss ich eben auf meine Körperpflege erst einmal verzichten. Macht nichts. Das Wasser wird bald wieder kommen. Jetzt brauche ich aber meinen starken Kaffee. Ich ziehe mich an, um schnell zum Discounter um die Ecke zu laufen, Wasser holen. Komme mir vor wie in meinen Kindheitstagen. Ich bin bei meiner Tante aufgewachsen, die keinen Wasseranschluss hatte, dafür aber einen Brunnen mitten in der Waschküche. Morgens habe immer das eiskalte Wasser eimerweise geholt. Es wurde zum Trinken, Essen machen und zur Körperpflege genutzt. Jede Woche einmal ein Wannenbad für die ganze Familie: Zuerst Onkel Sepp, dann die Tante Gretel und zum Schluss ich. Leider gibt es in meiner Wohnung keinen Brunnen.

Beim Discounter herrscht Hochbetrieb. Ich sause an den Regalreihen entlang und bemerke nur, dass die Tiefkühltruhen abgeschaltet sind. Dann komme ich in die Getränkeabteilung. Aber alles leer. Warum? Die Menschen, die vor mir da waren, haben alles gekauft. Wasser ausverkauft, das hat es bis jetzt in meinem Leben noch nicht gegeben.

Aber Kaffee kann man schließlich auch in Bäckereien bekommen. Also stelle ich mich an die Straßenbahnhaltestelle und warte und warte und warte. Inzwischen hätten mindesten zwei Straßenbahnen kommen müssen. Dann eben nicht. Alte Gewohnheiten sind dazu da, über Bord geworfen zu werden. Ich nehme den Bus, der mich zuverlässig zum Einkaufszentrum in das Stadtzentrum bringt. In der Nähe sind allein drei Bäckereien, die ich kenne und die auch Kaffee verkaufen. Frischen Kaffee Creme, so lecker! Außer Betrieb ist ein Wort, das ich schon gar nicht mehr gehört habe. Aber jetzt wird mir klar, was es bedeuten kann. Die Kaffeemaschine geht nicht. Kein Wasser kein Strom, komme schon. Damit haben früher Handwerker geworben, die so ziemlich alles im Haus reparieren konnten. Aber langsam dämmert es mir, dass es sich hier um ein grundlegendes Problem handelt. Ich prüfe mein Handy, das über Akku läuft. Musik kann ich hören, anrufen kann ich nicht, weil kein Netz zur verfügbar steht. Was, wenn der Strom komplett weg wäre, so wie damals in New York?

Die Menschen um mich herum scheinen ziellos herumzulaufen. Irgendwie sehe ich in Panikgesichter, aber Einige haben sich einfach in eine Ecke gesetzt und harren der Dinge. Langsam öffnet sich mir die Welt meiner Mitmenschen. Sie besteht hauptsächlich aus Fluchen, die in die Luft abgelassen werden, weil die Wut sonst keinen Angriffspunkt findet. Einige reagieren so gereizt, dass man schon befürchten muss, sich aus einem nichtigen Grund Eine zu fangen. Nur die Kinder stört das nicht. Sie laufen wie wild umher und spielen Fangen. Der Strom ist komplett weg und das Wasser auch. Abgestellt oder ausgefallen oder... Ich setze mich ebenfalls in eine Ecke des Einkaufszentrums. Neben mir sitzt ein gut gekleideter Mann um die Fünfzig, der mit seinen Fingern spielt. Das Handy kann auch er nicht benutzen. Wir sind abgeschnitten, wird mir plötzlich klar, abgeschnitten von der Zivilisation, die ihr Schloss auf Wasser und Strom gebaut hat. Wie wird das erst sein, wenn wir kein Öl mehr haben. Die Ölquellen werden immer weniger und immer unzugänglicher, sodass das schwarze Gold bald wirklich Goldpreise erreichen kann.

Immer wieder ziehen an uns verwirrte Menschen vorbei. Sie blicken mir starr in meine Augen, um mich zu fixieren und mir den Weltuntergang mitzuteilen. Aber dann würden wir doch nicht mehr leben, antworte ich. Morgen ist alles vorbei, lautet die hellseherische These, die mir an den Kopf geworfen wird, als wäre alles das normalste auf der Welt.

Der Vortrag vom Vorabend, der mir heute noch ein Gefühl des verstärkten Glücks gab hat sich nun ins Gegenteil verkehrt. Ja, auch die Freiheit eines Einzelnen hängt von den materiellen Gegebenheiten ab, das habe ich jetzt geschluckt. In meiner Situation besteht halt meine Freiheit darin, meine Gedanken auf das Überleben zu fokussieren. Und das ist auch, was von meiner Bewegungsfreiheit übrig geblieben ist. Dass die äußeren Umstände so stark mein Leben bestimmen, hätte ich Gestern noch nicht gedacht. Der gut Gekleidete neben mir hebt seinen Kopf und schaut mir in die Augen. Ich glaube, er denkt dasgleiche wie ich. Aber er hat keine Hoffnung mehr, sich in dieser zivilisierten Situation zurechtzufinden. Zuerst werden die Menschen sich in ihren Unterkünften verkriechen, denn mehr ist nicht mehr übrig geblieben von dem, was man einmal Wohnung nannte. Dann werden sie ihre Vorräte verbrauchen, die sie sich noch beim Discounter sichern konnten. Danach werden sie sich beim Nachbarn bedienen, der noch Vorräte hat und zum Schluss werden sie das Weite suchen. Wenn nur die Stadt keinen Strom hat, dann kann man auf dem Land prima überleben.

Viele Menschen machen sich irre damit, herauszufinden warum alles so gekommen ist. Ich bin da zum Glück anders. Ich denke nur, einen Grund wird es schon haben und es wird die Zeit kommen, dass andere diesen Grund auch erfahren werden. Aber dazu ist die Infrastruktur leider nicht mehr vorhanden, dass ich ihn jetzt wissen könnte. Also was bleibt mir in einer solchen Situation übrig? Nach einem Grund zu fragen, den ich nie erfahren werde, jedenfalls zwischenzeitlich, solange die Situation noch anhält. Ich muss mich damit abfinden, dass ich keine Antworten bekomme. Außerdem würde ein Mensch niemals danach fragen, der immer ohne Strom- und Wasseranschluss gelebt hat.

Der Mann neben mir ist eingeschlafen. Vielleicht ist Morgen alles vorbei! Aber wenn nicht, dann muss ich handeln. Ich habe Durst. Nicht weit vom Einkaufszentrum ist ein Park und dort stehen auch ein paar Obstbäume. Ich rappel mich auf und verlasse das inzwischen menschenleere Einkaufszentrum. Auf dem Weg zum Park begegne ich keinem Menschen. Die Obstbäume stehen noch da. Ein Glück, dass es August ist, sonst hätte ich mir diesen Weg auch sparen können. Da steht der Gegenstand meiner Begierde: ein riesiger Pflaumenbaum. Die Pflaumen liegen auf dem Boden und ich sammle sie auf. An einer Kinderschaukel lasse ich mich nieder und beiße genüsslich in das himmlische Blau. Der Saft, die Säure, die Süße und schon geht es mir besser. Ich muss die Stadt verlassen. Auf dem Land werde ich Wasser und Nahrung finden. Hier in der wasser- und stromlosen Stadt ist ein Überleben schwieriger. Wie lange wird es noch Nahrungsmittel geben? Zur Herstellung benötigt man Wasser. Wie lange werden noch die Busse fahren? Jetzt ist der Zeitpunkt noch günstig, sich aus dem Staub zu machen. Jetzt habe ich noch eine Chance, das Ganze zu überleben.

Warum gehst du nicht ans Telefon, höre ich eine Stimme, die aus den Pflaumen kommt. Es ist meine Freundin. Was macht die hier? Sie sieht mich besorgt an und ich nehme wahr, dass ich in meinem Bett liege. Ich muss verschlafen haben, gebe ich ihr zu verstehen. Ich habe frischen Kaffee gemacht, flüstert sie mir ins Ohr und ich lächle, meine Lebensgeister kommen wieder, war alles nur ein Albtraum, gebe ich ihr zu verstehen. Sollen wir zusammen Duschen, lautet meine Frage, die sie damit beantwortet, dass sie sich auszieht.

 

© GOO, April 2013

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