Etwas stimmt nicht mit ihr. Aber ich habe keine Lust, Kommissar Maigret zu spielen. Die Gedanken einfach verrauchen lassen, sie sich in Luft auflösen lassen, aber immer hat etwas einen Haken. Sie steht direkt vor mir. Die untere Zahnreihe fehlt. Bei mir sind es ein paar Backenzähne, die aber nicht so leicht sichtbare Lücken hinterlassen. Ich habe mir angewöhnt, nicht mehr so laut zu lachen und mir, wenn es dann nicht anders geht, die Hand vor den Mund zu halten. Aber die gelbe Farbe der Zähne teilt sie mit den meinen. Sie hat eine Trainingshose an, auch bei diesen Außentemperaturen. Am liebsten trägt sie leichte Klamotten eben und mit Kleidern kann sie nichts anfangen. Das was an ihr auffällt, ist nicht nur sie, nein, auch ihr überdimensionales Feuerzeug. Aber sie raucht keine überdimensionalen Zigaretten, dafür hat sie sich diese überdimensionale Zigarettenpackung geholt: 40 Stück in dem papiernen Quader.

Sie beschwert sich über alles. Sie ist keineswegs Psycho, nein, Cardio eben. Sie hat sofort mein Mitleid. Herzpatienten sind hier, weil sie etwas am Herzen haben, Psychos, so wie ich, weil sie etwas verbergen. Aber was sie hat, das frage ich nicht, das gebietet der Respekt ihr gegenüber.

 

Sie ist ein Mensch, jawohl, auch wenn sie etwas Abstoßendes an sich hat. Nein, ich nehme sie, wie sie ist, mit all den Macken. Die Würde des Menschen ist unantastbar. Schluss aus!

Das, was für mich gilt, muss noch lange nicht für andere gelten. Insbesondere dann nicht, wenn sie auf der Suche sind, wie der Wolf nach Beute, halten sie Ausschau, ob es nicht den ein oder anderen im Lande gibt, der etwas zur ihrer allgemeinen Belustigung beitragen kann und sich zum Beispiel in aller Öffentlichkeit auszieht. Nicht um etwas Neues zu entdecken, nein, sondern sich in den Augen einiger Artgenossen der Lächerlichkeit preiszugeben. Dazu ist eine Großstadt mit all den einsamen, schutzlosen und wehrlosen Menschen das beste Beuterevier. Wir helfen dir, wenn, ja wenn du genau das machst, was wir von dir wollen. Hier ist der Vertrag, hier ist der Kugelschreiber, hier ist deine Rettung. Nur eine Unterschrift entfernt. Also, was zögerst du noch, unterschreibe.

Sie hat ihren Hilferuf übers Internet an den Fernsehsender geschickt. Helft mir, ich bin am Ende, ich sehe keinen Ausweg mehr. Und dann sind sie gekommen, gleich am folgenden Tag. Sie würden ein paar Aufnahmen machen, hieß es, danach würden sie alles wieder sauber machen, die Wohnung renovieren und sie könnte in einer angenehmen 52 Quadratmeterwohnung wohnen und nicht mehr so hausen, wie das jetzt der Fall wäre. Die erste Prüfung hatte sie dann mit Bravour bestanden. Tatsächlich ist wortwörtlich der gesamte Fußboden mit teils bereits verrottetem Hausmüll bedeckt, so gut wie kein Möbelstück ist mehr zu erkennen und das Opfer sitzt mittendrin. Perfekt für die Realityshow am Mittwochnachmittag. Dann können die Einschaltquoten schließlich wieder auf das Maß anwachsen, wie es in Teilen der Bevölkerung vertreten ist, die sich so etwas gern anschaut, weil sie sich durch die eigene Häme unterhalten lässt. Zum Schluss der Sendung dann die fette Frau, die sich scheinheilig vor dankbaren Umarmungen Caglas kaum retten kann, als alles wie in "Schöner Wohnen" aussieht.

Sie interessiert das nicht mehr. Denn sie hatte schon alles hinter sich gebracht. Das Echo in der Presse, die Fotos, die Schmach. Aber sie hat auch die andere Seite kennengelernt: Menschen, die ihre Krankheit eben verstanden und ihr helfen wollten. Die Einen setzten zu, die Anderen stehen bei. Und so bleibt das Wechselspiel, das sie nie mehr erleben will. Verstecken will sie sich, untertauchen, vergessen und nie mehr soll das gezeigt werden, worauf sie sich damals eingelassen hat. Und ihr Arzt verschreibt ihr eine Auszeit, damit sie wieder auf die Beine kommt. Nur – bei ihr geht Psycho nicht, dazu fehlt der soziale Hintergrund. Bei ihr muss ein Herzschaden vorliegen, und das weiß der Arzt, damit sie in der Anstalt aufgenommen wird.

Aber dann gibt’s die Wiederholung im Abendprogramm und die Fernsehstube ist voll. Voll mit Menschen, die sich von ihren Strapazen, ihren seelischen und ihren körperlichen, erholen wollen. Und da lacht die Anstalt eben. Andere sind mit ihr. Können diese Demütigung nachempfinden, haben es selbst am eigenen Leib gespürt und jetzt wird es ihnen erneut vorgeführt. Sie hat nicht nur geweint, nein. Sie wollte sich mit all ihrer Wut hinstellen, selbst an den Pranger stellen, sich selbst der Lächerlichkeit preisgeben, damit sie endlich in Ruhe gelassen wird.

Heute habe ich sie nicht gesehen. War selbst auf der Bude und habe gelesen. Zum Frühstück war sie auch nicht. Hat sie sich etwa? Möglich wär's! Aber einige Mitpatienten waren aufmerksamer als ich. Sie haben schon an ihrer Tür angeklopft, aber sie wollte niemanden sehen. Wen wundert das – in dieser Welt mit diesen Spielregeln und dieser Moral.

 

© GOO, März 2012

 

 

 

 

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