Ein gewisser Dr. Ramoneur d'Armure, seines Zeichens Ausbildungsleiter in einem systemstützenden Konzern, der, nebenbei bemerkt, kurz vor der Verrentung steht, hält Audienz. Wir befinden uns in seinem Büro. Es hat eine Fläche von schätzungsweise 95 qm, dazu zwei sehr große Fenster, durch die der Raum von der Südseite her hell erleuchtet wird. Dr. Ramoneur d'Armure schreitet sichtlich aufgeregt in seinem Zimmer auf und ab. Aber dies macht er immer, sobald eine Audienz unmittelbar bevorsteht. (Bei sich nennt er dies anstehende Ereignis übrigens „Abstellungsgespräch“. Warum er dies tut, das bleibt sein tiefgründiges Geheimnis.)

Dr. Ramoneur d'Armure hat sich diese spezielle Art der Gesprächsführung ausgedacht, um den Rest seiner Zeit, die er in seinem gemütlichen Dienst-Ledersessel abzusitzen haben wird, ein wenig prickelnder zu gestalten. Er ist, dies vergaß ich zu erwähnen, prominentes und alt gedientes Mitglied einer Gewerkschaft, hat sich somit nach allen Seiten hin abgesichert. Damit entsprechende Bewerber zum Abstellungsgespräch (so nennt er bei sich, wir erinnern uns, seine Audienz) kommen, lockt er sie mit Einstellungsversprechungen, um sie im Laufe des Gesprächs trickreich zu widerrufen. Dabei beobachtet er mit der Akribie eines der Jagd erfahrenen Fuchses die Reaktionen seines jeweiligen Gesprächspartners – und zeichnet sie elektronisch auf. Allabendlich sieht er sich dann die Aufzeichnungen des jeweiligen Tages in seinem Eigenheim bei einem Schoppen Wein an. Das Fernsehprogramm ist ihm viel zu öde, deshalb hat er sich seine eigene Reality-Show zusammengebastelt.

Heute hat er einen Kandidaten in den besten Jahren in sein Büro gelockt. „Lassen Sie mir doch bitte noch eine Minute Zeit!“, lässt er ihn dann wissen, nachdem er seine Erscheinung flüchtig taxiert hat. Aha: etwa Mitte fünfzig, fast weißer Vollbart, stattlicher Embonpoint, weder Anzug noch Krawatte. „Ich hatte gerade ein sehr anstrengendes Gespräch. Musste jemandem erklären, dass er seine Prüfung nicht bestanden hat!“ Dr. Ramoneur d'Armure hebt eine sehr große gelbe Tasse, die in etwa dem Umfang seines Hauptes entspricht, und deutet mit der Hand auf einen Sessel: „Aber nehmen Sie doch bitte Platz!“ Der Abgestellte setzt sich, ohne ein Wort zu sagen, denn zwischen beiden liegen noch geschätzte 7 Meter Abstand.

Wir sehen Herrn Dr. Ramoneur d'Armure nun dabei zu, wie er seine übergroße gelbe Tasse lautlos auf der blank polierten Schreibtischplatte absetzt. Nach etwa 15 Sekunden widmet er sich dann gemächlich dem Abgestellten, sitzt ihm gar vis-à-vis und fordert ihn mit großzügiger Geste auf: „Ja, dann legen Sie mal los!“ Und während er dies sagt, denkt er und lässt es durch seinen gelangweilten Gesichtsausdruck auch sein Gegenüber wissen.

Gebannt nehmen wir jetzt zur Kenntnis, wie der Abgestellte dem Dr. Ramoneur d'Armure sein Curriculum Vitae herunterbetet – der aber denkt, wie wir bereits erfahren haben, an ganz andere Dinge. Umso erstaunter ist der Abgestellte, dass der Alte ihn wie aus der Pistole geschossen nach seinem Alter fragt. Müsste jener dies nicht bereits aus den Bewerbungsunterlagen wissen? Er wundert sich sehr.

Kaum hat er dennoch geantwortet, hört er den Dr. Ramoneur d'Armure wie von ferne sagen: „Eigentlich suche ich gar keinen P-Prüfer. Von denen habe ich nämlich schon genug. Eigentlich sind eher B-Prüfer das, was wir suchen. Vor drei Wochen erst hat sich eine ausgezeichnete junge Bewerberin bei mir vorgestellt. Alles Bestnoten! Sie müssen mich verstehen: da kann ich ja nicht absagen.“ Er wartet auf die Reaktion des Abgestellten. Der überlegt, ob er sich bei Dr. Ramoneur d'Armure nach dem wahren Grund für dieses Gespräch erkundigen solle. Diese Frage jedoch bringt er nicht mehr über seine Lippen. Er steht auf, dreht sich um und verlässt das Zimmer.

Ramoneur d'Armure schaut sich am Abend noch einmal die Videoaufzeichnung des Abstellungsgesprächs an. Er sieht unzufrieden aus. Darüber nachdenkend, wie er es verbessern könnte, schläft er vor seinem Fernsehgerät ein. Wir sehen, wie die Kamera sein Zimmer in der Totalen zeigt, dann aus dem Fenster schwebt, das Fertighaus mit Solaranlage und Erdwärmeheizung ins Bild bringt – und hinter den Bäumen verschwindet.

© GOO, Juni, 2009

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