Heute war ich wieder im Park. Zeit habe ich genug, um mir die Menschen anzuschauen. Erwachsene, ja so nennt man sie wohl! Aber sind es nicht Kinder? Jedenfalls komme ich mir vor, als würde ich in einem einzigen Kindergarten leben. Selbst hier im Park. Viele liefen mit Stöcken herum und taten so, als ob sie Ski fahren würden. Bestimmt haben sie von der Kindergärtnerin in der Apotheke ihres Vertrauens gesagt bekommen, dass alles in Bewegung bleiben muss. Doch nichts kann so gut sein, dass es nicht einen Haken hätte. Soll ich jetzt lachen, wenn ich mir all die bewegten Kinder mit Arthrose vorstelle?
Ein einsamer Spaziergänger kam mir entgegen. Er trug einen Anzug. Er rauchte eine Zigarette. Rauchte? Er gierte eine Zigarette. Eine Zigarette, die er in einem Zug abrauchte. Die Probleme von dem möchte ich nicht haben. Blöde Gesellschaft. Jeder ist auf sich allein gestellt und läuft als Wolf im Anzug unter Wölfen durch den Park. Zusammen können die nur heulen. Exzesse feiern. Aber wem das gefällt!
Viele Bänke gibt es im Park. Die meisten waren heute leer. Fast jeder bewegte sich. Die Dynamik eines Gases lässt sich mit der durchschnittlichen Geschwindigkeit der Gasmoleküle messen. Je schneller sie sich in einem abgeschlossenen Raum bewegen, umso größer ist der Druck des Gases, der auf die Gefäßwände ausgeübt wird. Ist es in einer Gesellschaft genauso?
Die Jogger drehten heute jedenfalls eine Runde nach der anderen und kurbeln ihre Endorphinproduktion an. Das macht glücklich! Endorphine sind Opioide! Fällt Sport unter das Betäubungsmittelgesetz? Müsste er eigentlich! Aber besser mit Sport seinen Körper ruinieren als mit Trägheit. Denn Trägheit ist Stillstand und Stillstand passt nicht in unsere ADHS-Gesellschaft, in der alles mit Lichtgeschwindigkeit ab geht. Wo bleibt dann aber der Genuss?
Ich erinnerte mich daran, wie erwachsene Menschen doch tatsächlich davon ausgingen, dass man ihresgleichen mit Überraschungseiern glücklich machen könnte. Ein Marathonlauf würden nicht ausreichen, meinen Körper mit Endorphinen derart vollzupumpen, dass ich mich über eine Kinderüberraschung erfreut gezeigt hätte.
Die beiden Figuren hatte ich im Park allerdings noch nie gesehen. Bei dem Alten im Rollstuhl war der Kopf eingeknickt. Er hielt ein Buch in der Hand. Der ist tot, ging es mir durch den Kopf und der Andere auf der Bank neben dem Alten hatte das noch nicht einmal bemerkt!
Ich berührte den Alten, der fiel sofort zur Seite um. Ich holte mein Handy aus der Tasche und rief die Polizei. Der Begleiter, der neben dem Toten saß, schaute entsetzt auf den leblosen Körper des Alten. Er war wie versteinert. Bis die Polizei kam und alles regelte, wurde kein Wort gesprochen.
Als der Begleiter zu den Polizisten in das Auto stieg und ich meine Personalien angegeben hatte, war ein flaues Gefühl in meinem Magen. Doch jetzt, während ich das schreibe, geht es mir besser.
...
Heute war ich sehr überrascht, als ich meinen Briefkasten öffnete. Ich fand Post von einem Unbekannten vor. Als Absender stand Holger Hauf auf dem Brief. Offensichtlich handelte es sich um einen Tagebucheintrag geschrieben von dem Begleiter des Alten, den ich vor vier Tagen tot im Park auffand. Ich füge den Text in mein Tagebuch ein, damit diese Angelegenheit ihren Abschluss findet.
„Das Haus habe ich durch die Hintertür verlassen. Ich schiebe den Rollstuhl. Der Weg ist holprig. Der Alte im Rollstuhl beschwert sich. Ein Vater küsst sein Kind auf die Stirn und hält es in seinem Arm. Ich höre das Rauschen der Blätter im Wind und sehe das Licht, das im Wasser silberne Fäden spielt. Eine Rohrdommel begleitet uns.
Zwei Hunde laufen bellend im Kreis. Sie kühlen ihr Fell im Bach. Ein Läufer zieht an uns vorbei. Er rennt den Weg auf und ab. Wir sitzen auf einer Bank. Der alte Mann fragt, wo das Tagebuch sei. Ich suche das Buch in meiner Tasche und lege es dem Alten auf seinen Schoß. Mit zittrigen Händen schlägt der Alte es auf und hält es fest wie einen Schatz.
Die Hälfte seines Lebens hat er nicht gekannt. Sie steht im Tagebuch seiner Frau. In Worte gebanntes Leben. Lebendige Erinnerung. In Bewegung gehaltenes Sein. Allerdings ändern sich die Begleitumstände. Bei dem Alten muss das genauso sein. Ich drehe mich zu ihm um. Er blickt auf die Seiten. Angespanntes Lesen. Das Buch kann er kaum halten. Ja, er ist in einer unbekannten Welt. Ob die ihn treffen wird? Sicherlich! Mich hatte es damals auch getroffen.
Selbst dann, wenn nichts mehr passiert, pulsiert es noch. Das sitzt tief drin. Der Rhythmus bleibt. Als gäbe es doch eine Seele. In der alles nachklingt. Die alles verstärkt. Mit 10.000 Phon und mehr schreit sie es in dich hinein. Die Ohren mit Wachs zu verschließen, hätte keinen Sinn.
Der Alte kennt das, war viel unterwegs. In der ganzen Welt als Korrespondent. Kam er nach Hause, wollte er sich erholen. Doch das konnte er nicht. Zu viel ging in seinem Kopf herum. Schlaflose Nächte hatte er bis zur Erschöpfung. Dann wurde das Herz schwach. Er kam ins Krankenhaus. Empfehlungen! Ja, Empfehlungen aussprechen ist leicht. Sich daran zu halten, ist es nicht. Also hat er weiter gemacht. Solange, bis seine Frau nicht mehr wollte. Jetzt sitzt er im Rollstuhl hier im Park und liest im Tagebuch seiner Frau, was er verpasst hat. 50 Prozent seines Lebens, 50 Prozent ihres Lebens.“
Wie Herr Hauf an meine Adresse gekommen ist, muss ich allerdings klären. Kann ja nicht angehen, dass persönliche Daten so einfach weiter gegeben werden. Werde mich morgen einmal bei Herrn Hauf telefonisch melden und ihn danach fragen.
© goo, Mai 2009