Verliert das eigene Leben das Grundrauschen, findet es sich in einer bedrohlichen oder ausweglosen Situation wieder. Einen Ausweg kann es nur dann sehen, wenn es das unbekannte Gebiet, in dem es sich momentan aufzuhalten scheint, ohne Schaden zu nehmen verlassen kann. Die Verlassenheit bleibt zwar in der Erinnerung zurück, erscheint dort aber nur bruchstückhaft und ihrer Bedrohlichkeit beraubt, droht letztendlich allein das zwanghafte sich nicht mehr erinnern können. Dann aber wird die Situation unerträglich. Die Schwere raubt die Luft zum Atmen, der Verlust an Beweglichkeit potenziert die innere Angst in dem Maße, wie sich die eigene Verwirrung abzeichnet, der nicht mehr zu entkommen ist. Woher das Klicken im eigenen Kopf kommt, ist nicht mehr zu ergründen. Vielleicht ein genetischer Selbstschutz, der unter solchen Gegebenheiten einen Automatismus auslöst, der die Selbsterhaltung qua Selbstauflösung zum Ziel hat.
Es war vor zwei Jahren, als ich durch die Stadt irrte, die ich erkunden wollte. Der Stadtplan, der mich stets begleitete, versagte all meinen Bemühungen, meinen Standort zu bestimmen. Die Straßen waren menschenleer. Die Dämmerung begann einer spärlich beleuchteten Dunkelheit zu weichen. Vergleiche mit Geisterstädten drängten sich auf. Türen, die im Wind in ihren Angeln knarrten, Fenster die gegen die Rahmen schlugen und auf dem Gehweg Abgestelltes, das keinen Besitzer mehr zu haben schien.
Ein amerikanischer Kühlschrank stand mir im Weg. Die Straßenbeleuchtung spiegelte sich in der Aluminium-Oberfläche des Gerätes. Die Türen waren funktionsfähig und das Innere sauber. Ein Kühlschrank in dieser Einöde, abgestellt zum Abholen, kein Kaufvertrag hätte unterschrieben werden müssen. Nur eines Transportmittels hätte es bedurft, um dieses Schmuckstück in Privateigentum zu verwandeln. Einfacher geht es nun wirklich nicht, hatte ich mir damals gedacht. Leider war ich zu Fuß unterwegs und immer noch hatte ich keinen Plan, zu meinem Hotel zu kommen.
Als ich die nächste Querstraße ebenfalls nicht im Stadtplan finden konnte, habe ich ihn einfach weggeworfen. Er schien mir in dieser Situation eher hinderlich zu sein. Ich überlegt noch kurz, ob ich in die Straße einbiegen sollte, machte mir aber keine Gedanken darüber, welchen Vorteil ich davon gehabt hätte. Ist das eigene Leben so weit in unbekannte Gebiete vorgedrungen, die sich jeglicher Orientierung versagen, so hilft es nur noch, auf gut Glück den Ausweg zu finden. Eigentlich spielt es dann keine Rolle mehr, ob man an der nächsten Kreuzung rechts, links oder geradeaus geht. Hätte man einen Würfel, so wäre dieser der Entscheider gewesen.
Ich glaube mich heute noch mit Sicherheit daran zu erinnern, dass ich damals in die Querstraße eingebogen bin. Doch das Gesamtbild hatte sich nicht geändert. Die Gegend zeichnete sich durch eine immer gleich bleibende Verlassenheit aus, in der auch mein lautes Rufen nach einem menschlichen Wesen nichts änderte. Eine ausgestorbene Gegend. Möglicherweise war eine Seuche über die Stadt gekommen, die die Menschen dazu zwang, fortzugehen, alles stehen und liegen zu lassen, wie die alte, mitten auf der Straße abgestellte Mahagoni-Kommode.
Wieder so ein Schmuckstück, für das man einen sehr hohen Preis hätte erzielen können. Welche Schätze werde ich hier auf den Straßen noch entdecken, dachte ich, als ich an der nächsten Straßenecke einen Aktenkoffer herumstehen sah. Ein kurzer Druck auf die Schnappschlösser offenbarte mir seinen Inhalt: Schuldverschreibungen in Millionenhöhe. Eine mir unbekannte Bank hatte diese Art von Wertpapieren ausgegeben, die nun nicht einmal mehr so viel wert waren wie das Papier, auf dem sie gedruckt waren. Ich hielt den geöffneten Koffer über meinen Kopf und ließ es Schuldverschreibungen regnen. Dabei tanzte ich wie Rumpelstilzchen und drehte mich immer schneller um meine eigene Achse, bis ich mein Gleichgewicht verlor und mit dem Kinn auf die Bordsteinkante schlug.
Die Narbe am Kinn habe ich heute noch, aber wie lange ich bewusstlos auf dem Gehweg lag, kann ich nicht mehr sagen. Ich rappelte mich wieder auf und ging auf der einsamen Straße ein paar Schritte weiter. Ich erinnere mich nur noch an die Augen. Weit aufgerissen Augen, unbeweglich an der Straßenecke abgestellt. Den Schlag auf meinen Hinterkopf, der mich erneut niederstreckte, kann ich heute nur gedanklich rekonstruieren, genauso wie den Krankenwagen, der zufällig vorbei kam.
Eine Krankenschwester rührt Milch in einer Schüssel. Die kreisende Bewegung ihrer Hand wird schneller. Die Milch steigt vom Schüsselboden fast bis zum Rand und hinterlässt in der Mitte eine Mulde, die den Blick auf blankes Metall freigibt. Den Tornado, der am Krankenhaus vorbeifegt, bemerkt sie nicht. Erst als die Fensterscheiben zerspringen und das Glas bis in die Milchschüssel splittert, dreht sie sich um. Sie eilt in den Keller, um Bretter und Nägel zu holen. Als sie wieder nach oben kommt, sieht sie, dass der Sturm weiteres Glas in die Milchschüssel durch das zerbrochenen Fenster getrieben hat. Sie gießt die Milch in den Abguss. Die Scherben leuchten rot, grün und gelb. Darüber hat sich eine dünne Milchhaut gelegt, die die Glasscherben blasser erscheinen lassen als sie im trockenen Zustand sind. Sie spült die restliche Milch mit Wasser ab und legt die Scherben auf den Küchentisch. Dann nimmt sie die Bretter und nagelt das Fenster zu. Zufrieden geht sie in den Keller zurück, um die nicht gebrauchten Bretter und Nägel in ihre Kellerordnung zurückzulegen. Sie sieht zufrieden aus und steigt leichten Fußes die Kellertreppe hoch. Ein fürchterliches Geräusch von zerbrechenden Balken, herausgerissen Steinen und einer explodierenden Gasflasche nimmt sie wahr. Sie schaut aus der Kellerluke hervor und sieht das Krankenhaus bis auf die Grundmauern abgedeckt. Nur die Schüssel, in der sie zuvor die Milch anrühren wollte, liegt auf dem Boden, da wo einst die Küche war. Ein Krankenbett steht neben der Schüssel. Im Bett liegt ein am Kopf Verletzter. Ein fürchterliches Geschrei ist zu hören. Ärzte tauchen auf. Sie rufen nach Hilfe, aber sie kann sie nicht hören. Sie schließt die Luke und geht zurück in den Keller. Hier ist sie sicher, vermutet sie. Denn die Erde bebt als wollte sie alles verschlingen, was sich noch auf ihr oder nur ein paar Meter unter ihr befindet. Sie überfällt eine so starke Angst, dass sie sich eine Kellerecke als Versteck sucht. Dort kauert sie und schließt die Augen. Zu Gott betet sie nicht, denn an den glaubt sie nicht. Aber sie schreit, so laut, als wollte sie ihre eigene Angst erschrecken. Das Beben wird stärker. Sie fühlt es und die Regale im Keller kippen um. Ein Krankenbett wird in ihre Ecke geschleudert und kommt auf den Füßen zum Stillstand. Als würde die Erde sie einladen, ein kleines Nickerchen zu halten. Aber sie stellt es kopfüber zu ihrem Schutz in die Ecke. Den Rest deckt sie mit Brettern ab und hockt nun in ihrem Sarkophag. Als wäre hier ein sicherer Ort, an dem das Beben sie nicht findet. Ein Riss wird sichtbar. Die Erde tut sich auf. Der Riss wird größer, bis das Bett, die Bretter und sie selbst mit in die Tiefe gerissen werden. Sie fällt und nimmt noch im Fallen dieses Licht wahr, dass wie eine Funzel weit weg scheint. Als es näher kommt wird sie geblendet.
Als ich wieder zu Bewusstsein kam, spürte ich nichts. Ich war gelähmt. Das verschaffte mir Erleichterung. Das Gebrüll meines Gegenübers hörte ich nicht mehr. Die Schmerzen spürte ich nicht mehr. Die Verletzungen fühlte ich nicht mehr. Ein Lächeln umspielte meine Lippen. Als mein Gegenüber das sah, schlug er mich bewusstlos.
Zu Rate saßen der Herrscher der Stadt Schurippak, ihr Herold und ihr Fürst und auch mein Herr, Ea war dabei. Die Götter fassten den Plan eine Sturmflut über die Welt kommen zu lassen, und Ea sprach zu mir: Verachte Besitz, rette das Lebendige, baue ein Schiff und lege es am heiligen See vor Anker. Doch ich sprach: Was soll ich dem Volke sagen? Und er sprach: Ellil, der Herrscher unserer Stadt ist mir feindlich gesonnen, deshalb verlasse ich die Stadt und will zum heiligen See ziehen. Über euch wird aber großer Reichtum kommen, das sollst du sagen.
So baute ich das Schiff noch am selben Tag. Mit Most und Bier tränkte ich das Volk wie mit Flusswasser und ich lies eine Festmeile errichten wie am Neujahrstag. Das Volk grölte, johlte und lies es sich wohl ergehen. Vor Sonnenuntergang war mein Schiff vollendet. Dann kam der Regen der Götter und ich verschloss die Tür. Den Anker riss Irragal heraus und Nimurta durchbrach alle Dämme. Annunaki lies das Land entflammen und Adads Wüten drang bis zum Himmel zerbrach das weite Land wie einen Topf. Der Südsturm lies das Wasser bis zum Gebirge aufsteigen. Das Wasser fiel über die Menschen her wie eine Schlacht. Keiner sieht den anderen. Ischtar schrie wie eine Gebärende: Die Zeit ist zu Erde geworden, weil ich den Rat gab, die Menschen zu vernichten.
Die Götter tun Gutes und Schlechtes, doch sind sie auch böse? Sechs Tage und Nächte dauerte die Sturmflut. Als der siebte Tag hereinbrach unterlag der Südsturm im Kampf, das Meer wurde ruhig und ich blickte durch die Luke, eine Insel stieg vor meinen Augen auf, es war der Berg Nissir. Der Berg hielt das Schiff sechs Tage lang und ließ es nicht wanken. Am siebten Tage ließ ich eine Taube hinaus. Die Taube kam zurück, da ließ ich eine Schwalbe hinaus, doch auch sie fand keine Ruhestätte. Da ließ ich den Raben fliegen und der kam nicht wieder. Ich öffnete die Luke und das Wasser wich. Jetzt sah ich das Ausmaß der Verwüstung. Das trunkene Volk war ertrunken, wir türmten die Leichen zu Gebirgen auf und ließen sie brennen. Ea mein Herr aber sprach zu Ellil dem Herrscher: Du Weiser unter den Göttern, wie konntest du nur unbedacht eine Sturmflut über die Welt kommen lassen? Den der Sünde tut, den der Frevel tut, lass sie es tragen, doch vernichte sie nicht. Ein Löwe hätte sich erheben können, ein Wolf hätte sich erheben können, der Pestgott hätte sich erheben können, eine Hungersnot hätte kommen können, um die Menschen zu dezimieren. Das Geheimnis der Götter habe ich nie verraten. Traumbilder lies ich über die Klugen kommen. Nun gebt mir Rat! Er trat in unsere Mitte und sprach zu mir: Bisher war Utnapischtim nur ein Mensch. Jetzt soll Utnapischtim und sein Weib den Göttern gleichen und an der Mündung der Ströme wohnen.
Menschenleer waren die Straßen. Die Städte unbewohnbar geworden.
© goo, April 2011