Komplexia
I.
Kennst du das Land Real? Nein? Das ist schade, denn in Real hat sich etwas zugetragen, was ich dir jetzt unbedingt einmal erzählen muss. Am Besten ist wohl, wenn ich dir das Land zuerst vorstelle.
Das Land Real ist ein schnurgerades Land im wahrsten Sinne des Wortes. Du kannst es dir wie ein gespanntes Seil vorstellen. Nichts Besonderes auf den ersten Blick, wirst du einwenden. Doch wenn du willst, kannst du in Real dein ganzes Leben lang geradeaus gehen, ohne dabei je wieder an deinen Ausgangspunkt zurückzukehren.
Ein solch großes Land gibt es nicht, wirst du sagen. Aber Real hat keine Grenzen, keinen Anfang und kein Ende; es ist einfach unendlich groß. Sicherlich ist es schwierig, sich das vorzustellen, doch die Menschen in Real interessiert das nicht. Na ja, es handelt sich nicht gerade um Menschen wie du und ich welche sind. Aber – wie soll ich die Bewohner nennen? Na klar, so wie es in Sizilien die Sizilianer gibt, so wohnen in Real die Realisten.
Du wirst dir vielleicht überlegen, ob du das Land nicht doch schon kennst. Eventuell überlegst du dir auch, dort Urlaub zu machen, um mit deinem Fahrrad stundenlang geradeaus zu fahren. Aber das ist gar nicht so einfach. Schlägst du eine Karte auf, so findest du England, Frankreich oder Kanada. Aber wo liegt eigentlich dies Real? Real ist auf keiner Karte verzeichnet, und woher sollst du auch wissen, wie du dorthin gelangen kannst?
Sei nicht traurig. Manche Länder erreicht man nie, obwohl es sie gibt. Sie sind so weit weg wie der Mars oder die Sonne. Keine Chance, dort jemals hinzukommen. Man kann sich nur vorstellen, wie es dort ist. Und so ist es mit Real auch, obwohl man dort niemals hinfahren kann, auch nicht mit dem schnellsten Schiff, dem schnellsten Auto, dem schnellsten Flugzeug. Ja, nicht einmal mit einem Raumschiff. Lass mich lieber erst einmal weitererzählen, denn in Real gibt es so manches Sonderbare, das das Land erst so interessant macht.
Die Realisten, das musst du nämlich wissen, leben nach ganz bestimmten Regeln. Es sind einfache Regeln und das liegt wohl hauptsächlich daran, dass das Land so schnurgerade ist. Wenn zum Beispiel Erich seinen Freund Klaus besuchen will, so geht er entweder geradeaus oder er dreht sich um und geht dann eben geradeaus weiter. Wenn Erich sich aber umdreht, so wird ihm schwindelig, wie nach einer Karussellfahrt. Dann kann er nicht mehr erkennen, was um ihn herum vor sich geht, und erst wenn er wieder still stehen bleibt, sieht er Real ganz deutlich vor sich liegen. Jetzt kann er sich auf den Weg machen und Klaus besuchen.
Jeder Bewohner in Real kennt dies Schwindelgefühl beim Umdrehen. Es ist sehr unangenehm und Gegenstand vieler Untersuchungen gewesen. Doch es lässt sich nicht vermeiden.
Einige besonders kluge Realisten (bei uns würden wir sie Wissenschaftler nennen), haben das Realsyndrom, wie sie das Umdrehen nannten, untersucht. Aber erklären konnten sie es bisher nicht.
Also haben sie sich überlegt, wie man nicht den einen oder anderen Euro mit dem Realsyndrom verdienen kann. Die einen preisen die automatische Augen-zu- Umdrehbrille an, die wie eine Sonnenbrille automatisch bei einer Drehbewegung die Augen abdunkelt. Die anderen schwören auf Drehpillen, die man einnehmen soll, bevor man sich umdreht.
Doch das ist alles Schwindel. Niemandem hat das jemals geholfen. Und dass das Umdrehen schädliche Auswirkungen auf die Gesundheit haben soll, wurde niemals bewiesen, nur von den Anbietern behauptet, um ihre nutzlosen Produkte an den Realisten zu bringen.
Seit neuestem hat sich in Real zu der Sache mit den Drehpillen eine Gegenbewegung formiert. Es wird behauptet, dass die Drehpillen schädliche Nebenwirkungen haben. Deshalb soll man beim Umdrehen die Augen einfach schließen und abwarten, bis das Schwindelgefühl vorbei ist, dann die Augen wieder öffnen und weiter gehen, als sei nichts gewesen.
Dies wird damit begründet, dass das Realsyndrom offenbar zur Natur der Realisten gehört und deshalb auch nicht schädlich, sondern eher förderlich für jeden Realisten sei. Überall in Real werden Drehseminare und Workshops angeboten, weil man glaubt, dass ein Realist umso älter wird, je öfter er sich in seinem Leben umdreht. Die Drehtheorie konnte durch die letzte Volkszählung in Real allerdings nicht belegt werden.
Bei dieser Volkszählung musste jeder Befragte angeben, zu welcher Gruppe er gehört. In Real gibt es nämlich auch Realisten, die sich niemals in ihrem Leben umdrehen. Sie gehen immer nur in eine Richtung und sind deshalb auch gezwungen, ständig ihren Wohnsitz zu wechseln. Diese Realisten nennt man Monoisten – ganz im Gegensatz zu den Stereoisten, die sich in beiden Richtungen bewegen.
Wenn nun das Umdrehen tatsächlich einen Einfluss auf das Alter der Realisten hätte, so müssten die Monoisten im Durchschnitt älter oder jünger sein als die Stereoisten. Da dies aber nicht der Fall war, geht man seit der Veröffentlichung der Ergebnisse in Real offiziell davon aus, dass das Umdrehen keinen Einfluss auf das Alter hat.
Dies höchst wissenschaftliche Ergebnis machte auf die Realisten allerdings keinen Eindruck. Im Gegenteil: Die Anzahl der verkauften Brillen und Pillen sowie der Besuch der Drehseminare stieg seit der Veröffentlichung der Volkszählung sprunghaft an. Wie du siehst, sind uns die Realisten ziemlich ähnlich, obwohl sie in einem sonderbaren Land leben.
Ach! Ich muss dir aber auch noch von Realisten erzählen, die sozusagen am Rande der Gesellschaft leben. Real ist, genau wie Deutschland, in Bundesländer aufgeteilt und es geht sehr demokratisch zu in Real, obwohl die Realisten einen König haben, der nicht gewählt wird. Aber davon später.
Nun magst du glauben, dass jeder Realist in einem Bundesland leben muss, wenn Real doch in Bundesländer aufgeteilt ist. Doch da liegt gerade der Hase im Pfeffer begraben. Es gibt tatsächlich Realisten, die in keinem Bundesland leben, aber trotzdem Bewohner von Real sind. Man weiß noch nicht einmal wie viele es sind. Man vermutet, dass es sogar die meisten Realisten sind.
Diese Realisten treten kaum öffentlich in Erscheinung. Zwei von ihnen sind aber bekannt im ganzen Land. Es handelt sich um Pitor und Etor.
Pitor und Etor sind die bekanntesten Wissenschaftler in Real. Pitor hat zur Zeit der Okkupation Reals durch die Ganzen mit seinem Spruch: „Zerstöret meine Kreise nicht!“ Berühmtheit erlangt. Damit brachte er zum Ausdruck, dass die Realisten sich nicht unterkriegen lassen und Freiheit für sie das höchste Gut ist. Hierdurch löste er in Real den Widerstand gegen die Ganzen aus, die sich letztendlich zurückziehen mussten.
Heute leben sie mit den Realisten friedlich vereint, haben aber eine Sonderstellung. Der König Reals ist nämlich ein Ganzer. Warum dies so ist und wieso die Ganzen Real belagerten, wirst du später erfahren, wenn ich dir über die Kinder in Real erzähle.
Und was ist mit Etor? Den kennst du vielleicht auch. In früheren Zeiten war er auf jedem Zehnmarkschein zu sehen, und in Real ist er der Fachmann für Volksbefragungen und Wahlprognosen.
II.
Ich glaube, jetzt ist die Zeit gekommen, um endlich über die Kinder in Real zu erzählen, damit du auch verstehst, warum es zur Okkupation Reals kam und warum es einen König in Real gibt, obwohl das Land sehr demokratisch organisiert ist.
Das Merkwürdige an den Kindern der Realisten ist einmal, dass sie vom Zeitpunkt ihrer Geburt an ihr Aussehen nicht mehr ändern. Sie sehen aus wie erwachsene Realisten und sind deshalb auch in allen Fragen gleichberechtigt. Noch viel merkwürdiger aber ist die Tatsache, dass ein Teil der Realisten stets zwei Kinder bekommt und der andere Teil überhaupt keine.
Die Realisten, die Kinder bekommen, haben durchweg eine positive Lebenseinstellung. Sie halten daran fest, dass sich für sie früher oder später alles zum Guten wenden wird, wenn man nur daran glaubt. Selbst die ärgsten Widerwärtigkeiten tun sie mit dem Spruch ab: es hätte ja schlimmer kommen können. Sie heißen Positivisten.
Die anderen Realisten, die keine Kinder bekommen, heißen Negativisten und du kannst dir sicherlich vorstellen, was die Kinderlosigkeit für die Negativisten bedeutet: „Wir werden aussterben!“ beklagen sie sich, „weil wir keine Kinder bekommen. Wir müssen etwas dagegen tun!“ und so begannen sie eines Tages, sich mit den Positivisten zu streiten.
Übrigens erwarten die Negativisten nicht viel vom Leben. Sie vermuten immer einen Haken an jeder Sache. Sie sind sehr skeptisch und hinterfragen jede Kleinigkeit. Kein Wunder, da sie doch befürchten mussten, bald nicht mehr in Real zu leben.
Zusätzlich kam hinzu, dass auch die Positivisten plötzlich anfingen, sich zu streiten, denn die Ganzen waren der Meinung, sie seien etwas Besseres als die anderen Realisten. Sie behaupteten sogar, dass ganz Real aus ihren Reihen hervorgegangen sei.
Durch aufwendige Kampagnen im Radio und im Fernsehen verbreiteten sie ihre Ideen und stellten die anderen Realisten als minderwertig dar. Wegen dieser Stimmungsmache trauten sich die anderen Realisten nicht mehr, den Ganzen zu widersprechen. Außerdem versprachen die Ganzen den Negativisten, wegen der Kinder einen Ausgleich zu schaffen.
Zuerst waren die Negativisten sehr skeptisch gegenüber solchen Versprechungen, doch am Ende verbündeten sie sich mit den Ganzen, so dass die Ganzen immer mehr Einfluss in Real erlangten.
Unter den Ganzen gab es eine ganz besondere Persönlichkeit, und das war die Eins, die bald ihr Wortführer wurde. Da ein Kind der Eins aber immer so aussah wie die Eins selbst, glaubte man, dass sie unsterblich sei. Die Kinder der anderen Realisten, die sie Wurzeln nannten, sahen hingegen immer anders aus als ihre Eltern.
So gelang es der Eins, die Negativisten und die Ganzen um sich zu scharen und die Macht an sich zu reißen. Sie ließ sich zum Herrscher über Real ausrufen, was als die große Okkupation in die Geschichte Reals einging.
Dies wäre auch fast gelungen, wäre da nicht Pitor gewesen, der bei der Annäherung der Armee, die die Eins zusammengestellt hatte, eben diesen einen bedeutungsvollen Satz sagte. Du erinnerst dich vielleicht noch an den Satz mit den Kreisen, die nicht zerstört werden sollten.
Die Realisten waren davon so beeindruckt, dass sich ein einziger von ihrer Übermacht nicht ängstigen ließ, dass sie sofort alle Waffen fallen ließen und einfach nur still und stumm stehen blieben.
Dieser denkwürdige Tag wird noch heute in Real als der Tag der großen Befreiung von der Okkupation gefeiert. Und was ist aus der Eins geworden? Nun, sie ist König in Real geblieben, obwohl später in den Zeitungen enthüllt wurde, dass sie keineswegs unsterblich war, sondern ihr Kind von Geburt an eben nur so aussah wie sie selbst.
So befand man, dass dies schon ein Grund sei für die Eins, König von Real zu bleiben und dass dies Amt automatisch auf ihre Kinder übergehen sollte. Doch die Eins wurde zu strengster Neutralität verpflichtet, damit sie keinen Einfluss mehr auf die Politik Reals ausüben konnte.
Und was war mit den Negativisten? Sie bekamen keine Kinder und wären aus Real bald verschwunden. Da nun alles demokratisch zugehen sollte in Real, beschloss man, eine Versammlung abzuhalten, zu der alle Bewohner eingeladen wurden, um das Problem zu lösen.
III.
Bis jetzt habe ich dir aber nur von den Negativisten und Positivisten erzählt. Na klar! Du hast recht ! Da gibt es noch eine Bewohnerin Reals, die keiner so recht kannte und ein rechter Sonderling war. Niemals ließ sie sich blicken. Nur an ihrem Haus musste man immer vorbei gehen, wenn ein Positivist einen Negativisten besuchen wollte oder umgekehrt.
Ihr Haus sah aus wie ein Ei. Es war ganz weiß gestrichen und zu beiden Seiten der Eingangstür befanden sich zwei kleine Fenster. Aus dem linken Fenster schaute sie immer hinaus, um zu beobachten, wer gerade an ihrem Haus vorbeiging. Und das waren nicht gerade wenig. Denn zur Versammlung mussten alle Negativisten zum König kommen und damit zwangsläufig an ihrem Haus vorbei gehen.
Von der Null ist hier die Rede. Sie war so unscheinbar, dass die Realisten sie gar nicht bemerkten, wenn sie ihr Haus verließ. Natürlich war die Null auf der Versammlung, aber sie ist keinem Realisten aufgefallen. Und eigentlich hätte die Null Königin von Real werden müssen, weil sie kein Kind bekam und unsterblich war.
Selbst die Negativisten sind niemals auf die Idee gekommen, das Wesen der Null zu hinterfragen. Sie hatten alle Hände voll damit zu tun, das Umdrehen und ihre eigene Kinderlosigkeit zu hinterfragen.
Wie es auch immer gewesen sein mag, eines steht fest: Es trafen sich alle Realisten auf der Versammlung. „Da wir hier in unserem Land nun einmal das Problem mit den Negativisten haben und wir auch nicht sagen können, woran es liegt, dass die Negativisten keine Kinder bekommen, schlage ich vor, alles beim Alten zu lassen, damit die natürliche Ordnung der Dinge nicht gestört wird.“ begann ein Positivist seine Rede.
„Dann sterben wir aber aus“, wandte ein Negativist ein, „und was habt Ihr dann davon. Ihr lebt dann zwar allein in Real und braucht euch nicht mehr unsere Fragen anzuhören. Doch unsere Fragen und Einwände sind es doch gerade, die uns helfen, die natürliche Ordnung der Dinge zu erkennen. Seien wir doch ehrlich: wer von uns weiß denn genau, wie die natürliche Ordnung aussieht? Es könnte doch auch ganz anders sein. Wer sagt Euch Positivisten denn, dass Ihr nur deshalb Kinder bekommen könnt, weil wir keine haben. Es könnte ja schließlich so sein, dass das Problem der Kinderlosigkeit auch bei Euch auftritt, wenn wir nicht mehr sind. Natürlich könnte es auch ganz anders sein. Aber in einem sind wir uns einig: Wir stammen doch alle vom Großen Gleichen ab. Wir leben alle im selben Land und haben die gleichen Lebensgewohnheiten. Warum sollten wir Negativisten also keine Kinder bekommen?“
Die Positivisten mussten dem letzten Redner Recht geben. “Doch wie sollen wir das machen?“ warf da ein Positivist ein. „Schließlich wird Euer Teil des Landes immer kleiner, wenn unsere Bevölkerung immer stärker wächst.“ Wir müssen irgendwie einen Ausgleich schaffen, von dem wir alle profitieren.“
„Ja! Einen Ausgleich!“ fiel dem Redner ein anderer Positivist namens Posinus, ins Wort. „Das ist die Lösung und wurde auch damals schon von der Eins versprochen.“ Die Eins wollte darauf etwas erwidern, hielt sich dann aber doch zurück. Schließlich hatte sie sich für immer zur Neutralität verpflichtet. Und dazu gehört auch, seine Meinung nicht öffentlich zu sagen.
„Während die Negativisten immer weniger werden und auszusterben drohen, werden wir Positivisten immer mehr und unser Teil des Landes wird immer kleiner. Bald werden wir keinen ausreichenden Platz mehr haben, Häuser zu bauen, Ball zu spielen, Fahrrad zu fahren. Beides ist schlecht für Real. – Aber ich wüsste eine Lösung für dies Problem“, fügte er hinzu. „Hiermit schlage ich vor, dass je ein Kind bei den Negativisten aufwächst und das andere bei uns bleibt. Dann ist alles wieder im Gleichgewicht und keiner hat einen Nachteil davon.“
„Umgekehrt wird da eher ein Schuh daraus!“ empörte sich ein Negativist. „Wie sollte das aussehen? Was würdet Ihr von uns dafür verlangen? Das würde uns aber teuer zu stehen kommen! Diese kleine Gefälligkeit würde für uns ständige Abhängigkeit von Eurer Bereitschaft bedeuten, ein Kind zu uns zu geben. Dann wäre es vorbei mit unserer Selbständigkeit. Vielleicht müssten wir euch für das Kind bezahlen oder andere Gefälligkeiten erweisen, falls es einem Positivisten einmal in den Sinn kommt, sein Kind nicht so ohne weiteres abzugeben.“ Dabei wandte er sich zu den Negativisten und erhob den Zeigefinger: „Ich wähle lieber die Freiheit, Freiheit, jawohl, anstatt die ewige Knechtschaft unter der Kinderknute der Positivisten!“
Als er endete, hatte er schon seine Hand zur Faust geballt und sang das Freiheitslied. Das war allerdings ein berechtigter Einwand. Die Versammlung musste erst einmal unterbrochen werden.
Die Negativisten berieten untereinander, wie sie die Verhandlung weiterführen sollten. Schließlich konnten sie sich ja nicht in die Abhängigkeit der Positivisten begeben. Oder mussten sie dies gerade tun, um weiter leben zu können?
Sie waren in eine Sackgasse angelangt und wussten nicht mehr weiter. Und wie dies in solchen Situationen ist, beschlossen sie, erst einmal auf ihrem Standpunkt zu beharren.
Aber wie sah es bei den Positivisten aus? Viele waren gegen Zwietracht. Sie wollten die Kinder den Negativisten ganz einfach geben, ohne eine Gegenleistung zu verlangen. Andere wiederum gaben zu bedenken, dass es schon einer Kinderregelung bedürfe, um den Negativisten ein Recht auf ihr Kind zu geben, das sie einklagen konnten, falls ein Positivist eines seiner Kinder dennoch nicht abgeben wollte. Damit wären die Negativisten auch vor Willkür geschützt. Sie könnten sicher sein, in jedem Fall eines der Kinder der Positivisten zu bekommen, ohne jegliche Gegenleistung ihrerseits. Allein der Rechtsordnung halber.
Und als die Realisten dies zusammen bedachten, wurde ihnen plötzlich klar, wie frei sie wirklich waren. Außer der natürlichen Ordnung gab es für sie eine eigene, von ihnen geschaffene Ordnung, die sie von nun an Rechtsordnung nannten und die sie schriftlich festhielten in dem berühmt gewordenen Kindergrundrecht eines jeden Realisten.
Um es kurz zu machen: der Vorschlag der Positivisten mit dem Kindergrundrecht eines jeden Realisten wurde einstimmig angenommen. In der abschließenden Schlussakte, die feierlich versiegelt und im Haus der Eins aufbewahrt wurde, war von der Rettung und der Freiheit Reals die Rede. Dieser denkwürdige Tag wurde von nun an zum Landesfeiertag erklärt.
Jedes Jahr feierte man von nun an in Real das Ereignis der Schlussakte vom i,j-ten, denn nach dem Kalender, den es in Real gab, war es genau der i,j-te, an dem die Schlussakte unterzeichnet wurde.
Was aber machte unterdessen die Null? Nun, sie wurde wie immer von keinem Realisten beachtet. Aber wenn du die Null auf der Versammlung gesehen hättest, so hättest du dich des Gefühls nicht erwehren können, dass sie den Ausgang der Verhandlungen schon gekannt haben musste. Ja, als ob die Null sozusagen in die Zukunft hätte sehen können. Dir wäre die Null nicht mehr so gleichgültig gewesen. Nein, gerade diese eigenartige Ruhe der Null hätte dir zu verstehen gegeben, dass sie so ist, weil sie immer alles im Voraus weiß.
IV.
Nun wirst du das Land Real sicherlich besser kennen und doch gibt es über Real noch viel zu erzählen. Aber das wichtigste ist eigentlich, wie das Geheimnis gelüftet wurde.
Welches Geheimnis fragst du? Die Sache mit den Kindern, na klar, das ist das Geheimnis von Real. Warum bekommen die Negativisten von Natur aus keine Kinder und die Positivisten gerade zwei?
Nach dem Warum fragten in Real überwiegend die Negativisten. Und so wurden große Schulen gebaut, um das Geheimnis der Kinder zu ergründen. Es gab viele Theorien. So wie beim Umdrehen eben auch. Eine Theorie ging davon aus, dass die Kinder in Real nur in einer Richtung geboren wurden. Und dies sei zufälligerweise die Richtung, in der die Positivisten wohnten. Die Chance bestand also 50 zu 50, ein Real mit genau umgekehrten Verhältnissen zu haben.
Diese Theorie war deshalb so interessant, weil sie zum ersten Mal die Zufälligkeit als Erklärung benutzte. Dies gefiel einigen Realisten überhaupt nicht, weil sie sagten, dass alles was ist, nach einer bestimmten Ordnung zu sein hat, die der Große Gleiche geschaffen hätte. Sie sagten: Der Große Gleiche würfelt nicht eine Ordnung aus, sondern erschafft sie aus guten Gründen, die wir Realisten allerdings nicht wissen können.
Eigentlich lehnten die Gegner der Zufallstheorie diese ab, weil es danach überhaupt keinen letzten Grund für die Ordnung in Real gab. Und damit wäre auch der Große Gleiche für die Begründung der natürlichen Ordnung in Real überflüssig, weil dann letztendlich nicht mehr alles durch Ihn bestimmt wäre.
Deshalb ersannen sie die Drehtheorie. Sie behaupteten ganz einfach, dass die Wurzeln in Real, also die Kinder, immer durch eine ganz bestimmte Drehung, verursacht durch den Großen Gleichen, geboren würden. Diese Drehung konnte man bei der Geburt in Real aber niemals beobachten. Deshalb wurde sie auch die Drehung des Großen Gleichen genannt. Und die Geburt der Wurzeln diente nun umgekehrt dazu, dass sie daraus folgerten, dass der Große Gleiche sich immer in die Richtung der Positivisten dreht. Und da man den Großen Gleichen nicht sehen konnte, wäre seine Drehung auch unsichtbar. Und somit drehten sie sich in ihrer Begründung selbst im Kreis.
Pitor und Etor, selbst Positivisten, wandten sich mit aller Entschiedenheit gegen diese letzte Theorie, denn sie hatten erkannt, dass die Zufallstheorie viel besser zu der neuen demokratischen Gesellschaft in Real passte. Sie unterstellte nämlich, dass der Große Gleiche nicht die Realisten wie Marionetten tanzen ließ. Vielmehr hatte er die Realisten, als er sie erschuf, in seiner großen Weisheit als freie Wesen erschaffen, die selbst für ihre Ordnung verantwortlich waren. Deshalb würdigten sie auch in einem Schreiben an die Eins das Kindergrundrecht als den größten Schritt Reals in die Zukunft. Allerdings verstanden die meisten Realisten dies zu diesem Zeitpunkt nicht.
V.
Es geschah aber eines Tages, dass der Negativist Minusius seinen Freund, den Positivisten Posinus, besuchen wollte. Also machte er sich auf den Weg, und als er am Haus der Null vorbei kam, bemerkte er die weiße Farbe, die in der Morgensonne so weiß war, wie er es noch nie zuvor gesehen hatte. Da fragte er sich, warum das Haus der Null so wunderschön weiß sei. Das ist für einen Negativisten nichts Ungewöhnliches. Erstaunlich wäre eher eine Antwort auf die vielen, vielen Fragen gewesen, die sich ein Negativist tagtäglich stellte.
Eine Antwort wusste Minusius natürlich nicht. Aber das ist auch nicht so schlimm. Hauptsache ist, dass man weiß, wie man vielleicht eine Antwort bekommen kann, denn man muss ja nicht alle Fragen, die man sich stellt, auch beantworten können.
Und plötzlich hatte Minusius einen guten Einfall. Im Grunde war es eine ganz einfache Idee, die du bestimmt in einer solchen Situation auch gehabt hättest. Minusius dachte ganz einfach daran, die Null danach zu fragen.
Doch schon zweifelte er wieder. Er kannte die Null doch gar nicht. Wie würde sie auf seine Frage reagieren. Vielleicht würde sie ihn als Nichtsnutz beschimpfen, der dumme Fragen stellt, und zum Teufel jagen. Minusius kannte solche Situationen nur zu Genüge. Oft genug war seinen Eltern der Kragen geplatzt, wenn er unaufhörlich Fragen stellte.
Doch dann fasste er Mut. Fragen kostet schließlich nichts und schadet auch keinem, dachte er sich und schon hatte er an der Haustür der Null die Türglocke betätigt.
Aber... Es geschah nichts. War die Null nicht im Haus? Gerade spazieren oder zum Einkaufen unterwegs? Oder schläft sie gar noch? All diese Fragen schossen Minusius in Sekundenbruchteilen durch seinen Kopf. Er versuchte es ein zweites Mal. Dingdong machte die Türglocke, aber weiter geschah nichts. Was sollte Minusius nun tun? Er beschloss kurzerhand, nochmals zu klingeln und, wenn sich wieder nichts tun würde, zu gehen.
Dingdong machte es zum dritten Mal und, siehe da, die Tür öffnete sich und die Null wünschte Minusius eine guten Tag.
„Entschuldige, Minusius, dass es so lange gedauert hat, aber ich habe gerade ein Nickerchen gehalten. Sag, was treibt dich zu mir?“ begrüßte die Null Minusius.
Minusius kam aus dem Staunen nicht heraus. Woher wusste die Null seinen Namen? Sie konnte ihn doch gar nicht kennen. Aber das wollte er sie jetzt nicht fragen, weil er sich daran erinnerte, warum er die Null aufgesucht hatte.
“Als ich an deinem Haus vorbeiging,“ antwortete Minusius, „um meinen Freund Posinus zu besuchen, bemerkte ich plötzlich die helle weiße Farbe an deinem Haus. Ein so helles Weiß gibt es in Real bestimmt nicht ein zweites Mal. Deshalb fragte ich mich, warum dass so sei. Da ich aber keine Antwort wusste, beschloss ich, dich danach zu fragen.“
Die Null sah Minusius lange in die Augen, und als Minusius das bemerkte, wurde er unsicher. „Was hast du?“ stotterte er aufgeregt, als ob jeden Moment etwas Unheimliches passieren könnte.
“Ach, gar nichts, gar nichts!“ antwortete die Null im ruhigen Ton, um Minusius zu beruhigen. „Ich habe nur nachgedacht, wie ich es dir am besten erklären könnte. Es ist gar nicht so einfach, weil ich glaube, dass du noch viel mehr Fragen hast. Aber ich will es versuchen. Komm erst einmal rein und setze dich in irgendeinen Sessel, gerade den, der dir am besten gefällt.“
Und als Minusius in einem alten Ohrensessel, der viel zu groß für ihn war, Platz genommen hatte, da bekam er von der Null eine heiße Tasse Kakao und ein knuspriges Stückchen Streuselkuchen serviert, ganz als ob sie geahnt hätte, dass Kakao sein Lieblingsgetränk und Streuselkuchen sein Lieblingskuchen war.
Da ahnte Minusius, dass die Null ihm bald etwas zeigen würde, das all seine Fragen mit einem Schlag beantworten würde und er wurde ruhiger, weil der Kakao und der Streuselkuchen ihm so besonders gut schmeckten. Dennoch war er aufgeregt, weil er nicht wusste, was weiter mit ihm geschehen würde.
“Nun, es ist nicht leicht, deine Frage zu beantworten, lieber Minusius, aber ich will es trotzdem versuchen.“ sagte die Null und nippte dabei an einer Tasse Kaffee. „Du darfst dich aber nicht erschrecken, denn wenn ich dreimal in die Hände klatsche, wird mit dir etwas geschehen, was du zuerst nicht verstehen wirst. Doch du brauchst keine Angst zu haben, denn du wirst keinen Schaden nehmen. Es wird dich aber zuerst sehr verwirren, was du sehen wirst. Du musst nur genau hinsehen und dann wirst du wissen, warum mein Haus so weiß ist und noch vieles, vieles mehr. Nichts wird für dich ein Geheimnis mehr sein. So, bist du bereit?“
Und ob Minusius bereit war! Er war gespannt wie ein Flitzebogen. Alle seine Wünsche würden heute in Erfüllung gehen, es würde für ihn keine Geheimnisse mehr geben. Das ewige Fragen würde ein Ende haben und nichts würde ihm mehr fremd bleiben. Ihm, Minusius, dem mutigen Negativisten, der als erster Realist gewagt hatte, die Null zu befragen.
Die Null klatschte einmal in die Hände. Minusius merkte, wie es dunkler um ihn herum wurde. Die Null klatschte zum zweiten Mal in die Hände. Minusius merkte, wie es immer stiller um ihn herum wurde. Die Null klatschte zum dritten Mal in die Hände. Minusius konnte nichts mehr fühlen und riechen. Selbst der herrliche Geschmack des Kakaos und des Streuselkuchens war nicht mehr zu spüren. Er war in einem Zustand, in dem er überhaupt nichts mehr wahrnehmen konnte. Es war die große Leere.
Was dann mit Minusius geschah, kann ich dir gar nicht richtig erzählen. Es ist so ungeheuerlich, dass mir die Worte dazu fehlen, alles so wiederzugeben, wie Minusius es empfunden hatte. Trotzdem will ich es versuchen:
Nach der großen Leere nahm Minusius wahr, wie er sich plötzlich im Kreis drehte. Er wurde immer schneller herumgewirbelt, und je schneller er sich drehte, umso schwerer wurde er. Er wurde so schwer, als wären Bleigewichte an ihm befestigt. Er bekam Angst. Denn plötzlich war es ihm, als würde er in die Tiefe gezogen. Wie bei einem Wasserstrudel, der umso tiefer ist, je schneller er sich dreht.
Da war ihm angst und bange. Doch weil ihm die Null versprochen hatte, dass er keinen Schaden nehmen würde, hielt er die Schmerzen aus, die er bekam, weil er immer schwerer wurde. Er glaubte gar, sein ganzer Körper würde zerrissen.
Mit einem hörte er aus der Ferne ein Summen, das immer näher kam und lauter wurde, schließlich an ihm vorbei zog und in der Ferne verschwand. Und dann begann es von neuem. Es war schneller und lauter als beim ersten Mal. Wie ein Flugzeug, das ganz dicht über seinem Kopf vorüber flog. Und wieder und wieder war ein Geräusch zu hören und schneller und schneller sauste es an ihm vorbei. Seine Ohren begannen zu dröhnen. Minusius hielt sich die Ohren zu, aber es half ihm nicht. (kein Absatz) Der Boden unter ihm begann zu beben. Das Beben wurde immer stärker, das Dröhnen immer lauter, und er wurde immer schneller herum gewirbelt, so dass er seine Hände in die Sessellehnen krallte, damit er nicht herausgeschleudert wurde. (Kein Absatz) Seine Muskeln verkrampften sich, sein Kopf fiel zurück. Pfffmt, pfffmt, Lichtblitze zuckten. Pffmt, Pffmt, es wurden immer mehr. Und als er glaubte, die Ohren würden ihm schier zerplatzen, sein Körper würde zerrissen, da war alles vorbei, nur im Hintergrund war ein eintöniges mmmmmmmmmmm zu hören.
Alles war still um Minusius geworden. Er konnte sich wieder aus seiner Verkrampfung lösen. Nun spürte er auch, wie er immer leichter wurde; wie eine Feder hätte er beim leichtesten Windhauch davonfliegen können. Seinen Kopf konnte er in alle Richtungen bewegen. (kein Absatz) Dabei trat kein Schwindelgefühl auf, wie es in Real der Fall war, wenn man sich umschaute.
Und was sah Minusius, als seine Augen wieder sehen konnten? Es gab nicht nur eine Richtung, sondern unendlich viele. In jeder Richtung, in die er blickte, sah er ein Land, das genauso aussah wie Real. Und wenn Minusius seinen Kopf nur ganz leicht drehte, verschwand das eine Real und ein neues Real tauchte vor seinen Augen auf. Schnurgerade Reals. So viele, wie er nur haben wollte. Eines so schnurgerade wie das andere.
Dann spürte er, wie eine Hand über seine Augen strich und es geschah etwas Wunderbares mit ihm. Er sah jetzt gleichzeitig alle Länder, ohne seine Kopf drehen zu müssen. Minusius konnte es gar nicht fassen. Er sah zum ersten Mal in seinem Leben eine Ebene vor sich. In jedem Punkt der Ebene sah er einen Bewohner aus einem der vielen Länder Real.
Auf einmal sah er auch seinen Freund Posinus, der mit einem Nachbarn Fußball spielte. Und das? Was war das? Auch die Negativisten bekamen also Kinder. Unglaublich! Aber warum sahen die Negativisten ihre Kinder nicht? Direkt nach der Geburt wanderten die Kinder der Negativisten in ein anderes Real aus, das sozusagen genau senkrecht auf dem Land Real stand, in dem Minusius lebte.
Die Negativisten bekommen also doch Kinder, stellte Minusius fest. Aber wer wird mir das glauben? Minusius dachte eine Weile angestrengt über eine Lösung nach.
Danach sah er sich noch lange in dem neuen Land um, das noch kein Realist vor ihm gesehen hatte und in dessen Mittelpunkt das Haus der Null stand. Es stand da wie ein Leuchtturm, der den Bewohnern dieses Landes als Orientierung diente, um vom einem Real ins andere zu gelangen.
„Nun, was hast du gesehen?“ fragte die Null da den Minusius, der gar nichts antworten konnte, weil er von den Eindrücken ganz benommen war. „Wie heißt das Land, in dem ich war?“ fragte er zurück. „Wir nennen es Komplexia!“, antwortete die Null mit ruhiger Stimme. „Und da du es nun gesehen hast, weiß du, in welchem Land du wirklich lebst! Du musst eines wissen,“ begann sie erneut nach einer längeren Pause: „Komplexia ist ein Land, in dem es nicht nur ein Vorwärts und Rückwärts, sondern auch ein Seitwärts, ja, jede Richtung gibt, die du dir vorstellen kannst. Im Leben gibt es auch nicht nur ein Ja oder Nein. Dazwischen liegt ein Vielleicht, ein Ja aber, ein Möglicherweise und vieles andere mehr. Und genau so ist Komplexia. So vielfältig wie das Leben und doch so wahr. Aber du darfst in keinem Fall erzählen, dass du das alles von mir erfahren hast. Versprichst du mir das?“
Als Minusius das hörte, verstand er es sofort und versprach der Null, keinem Realisten jemals zu erzählen, woher er das alles wusste.
So erzählte Minusius nur, in welchem Land die Realisten wirklich lebten und wie wunderwunderschön dies sei. Doch als die Realisten ihn ausfragten, woher er sein Wissen habe, schwieg er wie ein Grab.
Da waren die Realisten Minusius böse und stellten ihn vor ein Gericht. Sie befürchteten, dass die Realisten durch seine Erzählung den Glauben an den Großen Gleichen verlieren könnten. Minusius wurde verurteilt, sein ganzes Leben lang sein Haus nicht mehr zu verlassen. Man nannte das in Real Hausarrest.
Die Richter begründeten ihr Urteil damit, dass Minusius durch seine absurden Ideen verführerisch auf die Jugend wirke und Real nur in Unordnung stürzen wolle, um anschließend die Macht an sich zu reißen – wie bei der Okkupation. Solches könne man in keinem Fall zulassen, weil die Freiheit und der Große Gleiche das höchste Gut in Real seien, dass es in jedem Fall zu schützen gelte.
Das, was Minusius aber erzählte, bewegte einige wenige Realisten dennoch, und sie erzählten es ihren Kindern. Und so kennt man noch heute in Real die Geschichte von Minusius. Aber keiner glaubt so recht daran, weil jeder befürchtet, es könnte ihm wie Minusius ergehen.
Obwohl das, was Minusius gesagt hatte, wahr ist. So wahr ich Paul heiße.