Hallo Kinder! Kennt ihr schon die Geschichte vom Schachbrett? Nein, ich meine nicht die vom Erfinder des Schachspiels und den Reiskörnern! Die kennt doch jeder. Nein, die Geschichte von Amir, der das schönste Schachbrett machte, das man sich überhaupt denken kann.
Amir ist Schreiner und lebt in einer sehr alten Stadt. Viel älter als New York, viel, viel älter als London oder Paris, ja sogar viel älter als Rom und Athen, von Peking und Tokio ganz zu schweigen. Er lebt in Damaskus und das liegt in Syrien und ist die älteste Stadt, die es auf der Erde gibt. Ja, vielleicht gibt es auf anderen Planeten noch ältere Städte. Das kann sein, aber hier auf der Erde ist Damaskus die älteste Stadt.
Es ist gar nicht so weit nach dorthin. Vielleicht zwei Stunden mit dem Flugzeug und schon bist du da. Damaskus liegt in Syrien und ist sehr berühmt für seine Handwerker. Die haben nämlich ihr Handwerk von ihren Vätern gelernt, und die wiederum von ihren Vätern und so fort. Und weil Damaskus die älteste Stadt ist, gibt es dort auch die versiertesten Handwerker, denn sie haben das Wissen von Generationen in ihrem Kopf.
Amir macht am liebsten Schränke, Tische und Stühle. Aber nicht etwa solche, wie sie heute in Möbelgeschäften zu kaufen sind. Nein, alles ist mit der Hand gemacht. Und das Holz wird vorher von Amir ausgesucht, bevor er es weiter verarbeitet. Er muss es fühlen und riechen und manchmal will er auch das Holz schmecken. Erst dann weiß er, wofür er es gebrauchen kann. Ist es das Holz für Bettler oder das für Könige? Amir weiß es. Und Amir kennt auch Hölzer, die nicht in Syrien wachsen. Das Holz der Japanischen Kirsche, Buchenholz oder Tannenholz, und er ist ein wahrer Fachmann, was das Zedernholz betrifft. Damit arbeitet er am liebsten, weil er alles über die Zeder von seinem Vater gelernt hat.
Das Besondere an Amirs Arbeit aber ist, dass er wie ein Maler Bilder aus Holz macht. Dazu hat er eine Holzplatte und verklebt darauf kleine Holzstücke aus anderen Hölzern. Das kannst du vielleicht auch einmal probieren. Denn die Hölzer haben unterschiedliche Farben, und so kannst du ein Gesicht aus Holz malen. Genau das macht Amir. Die meisten seiner Intarsien, so nennt man die Bilder aus Holz, sind Ornamente. Dazu hat Amir ein großes Buch, das er ebenfalls von seinem Vater geerbt hat. Tausende Ornamente findest du da.
Wenn ein Kunde zu ihm kommt und einen Schrank haben will, dann zeigt Amir ihm das Buch, und der wählt ein Ornament aus, das ihm ganz besonders gefällt. Dann weiß Amir schon, welche Hölzer er verwenden muss.
Eines Tages kommt eine Frau zu ihm. Sie will einen Stuhl für ihren Großvater machen lassen. Er soll besonders bequem und schön sein. Dann mach ich ihm einen Stuhl nach Maß, sagt Amir und schaute der Frau in ihre dunklen Augen. Sie hat so wunderschöne Augen. Und das Meer ist so ruhig und die Augen von Asmaa, so heißt die Frau, lachen mich an. Und wir gehen Hand in Hand am Strand entlang und umarmen uns und streicheln uns und küssen uns und springen danach beide ins Meer und schwimmen. Hallo, soll ich später wieder kommen? Passt es ihnen jetzt nicht?, fragt Asmaa, denn sie weiß nicht, dass Amir gerade geträumt hat. Nein!, entgegnet Amir, denn er will Asmaa wiedersehen. Bringen sie doch ihren Großvater das nächste Mal mit. Sie können sich jetzt schon einmal ein paar Ornamente anschauen! Amir reicht Asmaa das große Buch. Da sitzt sie, wie eine Königin sieht sie aus. Welche schmalen und weichen Hände sie hat. Und ihre schwarzen Haare so seidig und glänzend!
Amir träumt den ganzen Tag von Asmaa und will ihr ein ganz besonderes Geschenk machen. Da kommt ihm die Idee mit dem Schachbrett. Er setzt sich noch in der Nacht in seine Werkstatt und zeichnet die 64 Felder auf und die Ornamente, die jedes Feld bekommen soll. Es soll ein wunderschönes Schachbrett werden. Auf der Rückseite will er ein Mühlespiel haben. Die dunklen Linien sollen aussehen wie Girlanden und Schlangen und in der Mitte will er das Gesicht von Asmaa zeichnen.
Als am nächsten Tag Asmaa mit ihrem Großvater wiederkommt und Amir Maß für den Stuhl des Großvaters nimmt, ist ihm klar, dass er das Schachbrett zusammen mit dem Stuhl fertig haben will. Es dauert 66 Tage, sagt Amir, dann ist der Stuhl fertig. Sie können ihn direkt bei mir abholen. Ich muss noch die Mahagonihölzer besorgen und die Lehne soll aus festem Zedernholz sein. Asmaa ist damit einverstanden.
Nun sitzt Amir Tag und Nacht an seiner Arbeit. Nichts darf ihn stören. Er schließt sein Geschäft und die Menschen fragen sich, was mit ihm los ist. Er ist krank, sagen manche. Aber er hat doch abends Licht in seiner Werkstatt, sagen die anderen. Der schläft bestimmt zwischen all dem Holz, der Holzkopf, sagen wiederum einige und andere wissen es besser: der Amir, der ist verliebt. Wer mag die Auserwählte bloß sein? Doch Amir schert das Geschwätz der Menschen wenig. Er ist wie versessen, das schönste Schachbrett zu erschaffen, das ganz Damaskus jemals gesehen hat. Für seine Geliebte, die schöne Asmaa, damit sie merkt, wie sehr er sie liebt.
Nach genau 66 Tagen erscheint Asmaa erneut in Amirs Werkstatt. Amir hat alles fertig und zeigt ihr stolz den Stuhl für den Großvater. Er ruht auf Kufen aus Holz, so dass der Großvater mit dem Stuhl schaukeln kann. Asmaa ist sehr erfreut, ihren Großvater den wunderschönen Stuhl zu schenken. Komm, hilf der Dame tragen, ruft Amir den Jungen herbei, der vor seiner Werkstatt Wasser verkauft. Und er nimmt den Jungen beiseite und spricht ganz leise zu ihm: Du nimmst das noch mit und lässt es dann heimlich neben dem Stuhl liegen. Kriegst auch etwas Extra dafür. So komm und lass dir nichts anmerken.
Der Junge trägt Stuhl und Schachbrett in Asmaas Haus. Er stellt das Schachbrett in den Flur. Asmaa sieht es gar nicht und wundert sich, als ihre Mutter ankommt und sie nach dem Schachbrett fragt. Das hat der Junge bestimmt hier liegen gelassen, sagt sie und will es schon zurückbringen. Nein, sagt die Mutter, bist du verrückt! Das ist bestimmt viel wert. Wir werden es auf dem Markt verkaufen! Von dem Geld können wir Großvaters Stuhl bezahlen und ich kaufe mir eine schöne Kette obendrein. Aber schau, sagt Asmaa, die das Schachbrett umgedreht hat. Sieht die Frau nicht aus wie ich? Ja, du hast recht. Eine Ähnlichkeit hat sie schon mit dir. Das macht das Brett nur noch wertvoller. Und die Mutter nimmt es und geht zum Markt.
Sie muss nicht lange warten, bis der erste Käufer vorbeikommt. Ein so schönes Schachbrett habe ich noch nie gesehen. Wie viel soll es kosten? 100.000 Pfund, das ist zu viel! 50.000 würde ich schon geben. Nein, wie kannst du nur … du machst mich arm, ich habe ja schon 60.000 dafür bezahlt. Ein Tourist, der den Handel beobachtet hat, bietet 75.000 Pfund. Da ist das Geschäft gemacht und das Schachbrett ist auf dem Weg nach Deutschland. Hier wohnt nämlich der Tourist. Er heißt Bernhard und hat in Damaskus Urlaub gemacht. Er stellt das Schachbrett in eine Vitrine, als er zu Hause in Berlin ankommt. Dort kann es jeder bewundern, der Bernhard besucht.
Abends, wenn Bernhard schläft, erwacht das Schachbrett. Die einzelnen Felder beginnen miteinander zu sprechen. Wo sind die Figuren, fragen sie. Wo ist Amir? Asmaa hat uns nicht geliebt. Sie hat uns verschmäht. Und jetzt sind wir weit weg von Amir, nur er kann uns wieder glücklich machen. Und das Mühlespiel auf der Rückseite des Schachbretts stimmt in das Klagelied mit ein.
Eines Tages hört Amir direkt neben seiner Werkstatt einen lauten Knall. Es ist eine Bombe, die explodiert ist. Die Menschen in Syrien sind zerstritten. Die einen wollen eine neue Regierung, die anderen wollen, das alles so bleibt wie es ist. Und Amir will weiter arbeiten. Er hat nie mehr etwas von Asmaa gehört. Und jetzt, wo der Krieg das Land zerstört, ist sie vielleicht auch gar nicht mehr in Damaskus. Amir muss sich überlegen, ob er nicht lieber weggeht, damit er nicht durch einen Schuss getötet wird. Er hat einen Bruder, der auch in Berlin lebt, so wie Bernhard. Zu ihm muss er gehen, denkt Amir, und packt das Nötigste ein, um seine Haut zu retten.
Amirs Bruder Hussein ist sehr froh, als sie sich in Berlin in die Arme fallen. Sie fahren sofort in Husseins Wohnung und Amir erzählt die Geschichte seiner unglücklichen Liebe zu Asmaa und die Geschichte von dem Schachbrett, an dem er 66 Tage lang gearbeitet hat. Du kannst doch hier in Berlin deine Schreinerwerkstatt aufmachen, sagt Hussein zu ihm. Unten in Parterre ist ein leer stehendes Ladenlokal. Da war früher ein Handyverkäufer drin. Und Amir schaut sich alles an. Er zögert nicht lange und fängt an, die schönsten Schränke, Stühle und Tische zu machen, die Berlin je gesehen hat.
Das spricht sich sehr schnell in der Stadt herum. Die Abendschau macht einen Bericht über Amir und so wird Amir in der ganzen Stadt bekannt. Jeder kommt zu ihm. Ein Stuhl soll repariert werden, Amir machte das. Und er schaut sich die Menschen genau an. Von den Armen nimmt er wenig und von den Reichen nimmt er viel. Eines Tages kommt Bernhard in seinen Laden und trägt ein Schachbrett unter seinem Arm.
Mir ist etwas Merkwürdiges passiert, sagt Bernhard. Als meine Freundin mich besuchte, habe ich ihr das Schachbrett gezeigt. Ich nahm es aus der Vitrine und da sprang es aus meinen Händen. Es fiel auf die Erde und hat jetzt hier an der Kante einen Riss. Kannst du das reparieren? Amir schaut sich das Schachbrett an. Er nimmt es in seine Hand und spürt, wie warm es ist. Das ist mein Schachbrett, ich habe es gemacht, sagt er mit leiser Stimme. Was? Bernhard kann es kaum glauben. Da erzählt Amir ihm die Geschichte. Dann gehört es dir!, sagt Bernhard und will es Amir schenken. Nein, du hast dafür bezahlt, ich werde es nur reparieren. Aber ich glaube, dass das Schachbrett eine Seele hat. Es hat uns zusammengeführt, wie zwei Dinge, die zueinander gehören, sagt Bernhard. Ich will auch Tischler werden, so wie du. Und er überredet Amir, ihm das Tischlerhandwerk beizubringen.
Bernhard wohnt in Amirs Werkstatt. Amir zeigt ihm alles, was er von seinem Vater gelernt hat. Bernhard wird immer versierter und macht sich sein eigenes Schachbrett. Das ist mein Gesellenstück, sagt er zu Amir, und Amir schaut sich Bernhards Schachbrett genau an. Er lobt es und kritisiert es auch ein bisschen, und Bernhard ist froh und dankbar, dass er so viel von Amir gelernt hat.
Amir hat inzwischen graue Haare bekommen. Er ist alt geworden. Bernhard ist mit seiner Familie in die Nähe der Werkstatt gezogen und ist glücklich mit sich, seiner Frau, seinen Kindern und seiner Arbeit. Amir, wach auf, sagt Bernhard eines Tages, als er die Werkstatt betritt. Doch Amir antwortet nicht. Er ist zwischen seinen Hölzern, den schönen Schränken und Stühlen einfach eingeschlafen. Bernhard weiß, dass er nicht mehr aufwachen wird. Der beste Freund, den Bernhard je hatte, ist gestorben. Bernhard beerdigt ihn auf dem Marienstädter Friedhof und das Schachbrett legt er mit in sein Grab.
Abends, wenn du an seinem Grab stehst, dann kannst du hören, wie die Dame zum König spricht, der Springer sich auf dem Weg macht und der Läufer Meldung erstattet. Vom Turm aus ist alles zu sehen. Und ich bin jetzt müde. Ihr nicht auch, Kinder? Ja, es ist Zeit zu schlafen. Gute Nacht!