Fast ist die Strecke geschafft: Die Via dei Fori Imperiali, unter Benito Mussolini als Via dell’Impero quer über die antiken Ausgrabungsstätten der Kaiserforen angelegt, nun Großbaustelle der U-Bahnlinie C. Zur Linken ist bereits das Monumento Vittorio Emanuele II in Sicht.
Im Gegenlicht ist er kaum zu erkennen. Man könnte ihn für eine weitere Statue halten, nur wenige Meter entfernt vom bronzenen Abbild des Feldherrn Julius Cäsar. Im Hintergrund der Schattenriss des Colosseo. Der Feldherr erhebt den linken Arm zum Gruß, auch Mamadou bewegt sich zunächst nicht. Dunklen Schösslingen gleich heben sich seine kurzen Rastazöpfe vom tiefem Himmelsblau ab. Von seinem etwas angewinkelten linken Arm baumeln Armreifen, Halsschmuck, anderes afrikanisches Kunsthandwerk. Jetzt macht er ein paar Schritte auf sie zu, spricht die Frau an. Ehe sie sich besonnen hat, umringt ein aus Lederschnüren geflochtenes Armband ihr rechtes Handgelenk. Es muss die Hitze sein, vielleicht auch die Erschöpfung, die sie die gewohnte Skepsis missachten lässt, die macht, dass sie sich einlässt. Ja, das mit dem eingravierten Elefanten auf schwarzem Grund gefällt ihr. This one looks great on you! sagt der junge Mann. Wie oft wiederholt er diesen Spruch am Tag? Er gehört zum Business, das weiß sie. Das Geschäft ist eröffnet.
 
Mamadou 
Während er noch am Verschluss der Lederriemen nestelt, redet er. Er spricht Englisch, das verstehen beide. Womit er nicht gerechnet hat: Sie möchte mehr von ihm wissen. Einen Augenblick lang stutzt er. Also hakt er nach, grinst ungläubig und vergewissert sich, als habe er nicht recht gehört: You really want to know? Fürchtet er, von seinem Business abgehalten zu werden? Ohne Geschichte kein Geschäft, beharrt sie und nestelt ihrerseits am Lederband, deutet damit ihre Bereitschaft an, den angebahnten Kauf durchaus rückgängig zu machen. Okay okay, lacht er. Bevor er beginnt, fragt er sie nach ihrem Namen, das schafft Vertrauen. Bemüht sich, ihn akzentfrei zu wiederholen, nennt dann seinen: Mamadou. Mamadou, der Gepriesene, der Gelobte. Mamadou aus dem Senegal.
Luftschwaden vibrieren in der Hitze. Während Mamadou von seiner Heimat erzählt, sind seine Augen in Richtung Süden gerichtet. Africa is so beautiful, ergänzt er seinen kleinen Bericht, You should go there and see it with your own eyes! Ein bisschen klingt es wie Heimweh. Jede weitere Frage nach dem „Warum“ seiner Flucht erstirbt, bevor sie noch gedacht ist. Nein, Wunden aufreißen möchte sie nicht. Eines möchte sie aber wissen, und sie überwindet die Scheu, ihn zu fragen: Auf welchem Weg er gekommen sei? Mamadou sieht sie an. Er erkennt die Ernsthaftigkeit dieser Frage, vergisst dabei vielleicht sogar das Geschäft und schließt die Augen.
Dann zählt er auf: Senegal – Mali – Niger – Libyen. Quer durch die Wüste, fasst er zusammen. Freunde seien dabei ums Leben gekommen, fügt er etwas leiser hinzu, als sei er sich nicht sicher, ob sie das überhaupt wissen wolle. Während er erzählt, sieht Mamadou ihr in die Augen, als vergewisserte er sich immer wieder aufs Neue ihrer Aufmerksamkeit. Monatelang habe er danach in Libyen ausgeharrt, schließlich auf dem Mittelmeer sein Leben riskiert, bevor er in Europa an Land gegangen sei. „In Europa“ sagt er, und sie fragt nicht nach Details.
Sein Blick wandert erneut zur Seite. Yes, in Libya, wiederholt er langsam. That you really don’t want to know! äußert er seine Zweifel an der Glaubwürdigkeit der unglaublichen Verhältnisse in Libyens „Durchgangslagern“.

LIBYEN: Wie ein Drahtbericht des Auswärtigen Amts mit dem Titel „Rückkehr aus der Hölle“ zeigt, sind die Verhältnisse in libyschen Flüchtlingslagern katastrophal. ... „Authentische Handyfotos und -videos“ belegten die „KZ-ähnlichen Verhältnisse“ in sogenannten Privatgefängnissen im Süden Libyens. ... „Exekutionen nicht zahlungsfähiger Migranten, Folter, Vergewaltigungen, Erpressungen sowie Aussetzungen in der Wüste sind dort an der Tagesordnung.“ ... „Augenzeugen sprachen von exakt 5 Erschießungen wöchentlich in einem Gefängnis – mit Ankündigung und jeweils freitags, um Raum für Neuankömmlinge zu schaffen.“
Mamadou hat Glück gehabt. Das Armband sitzt, der eher ideelle denn geschätzte Gegenwert landet in einer perlenbestickten Geldkatze, die an seinem Gürtel hängt. Damit ist das Geschäft besiegelt. Die Frau aus dem reichen Norden und der Flüchtling aus dem in Vergessenheit geratenen Kontinent verabschieden sich, eher herzlich denn unverbindlich. Der junge Afrikaner lächelt sie an und sagt zum Abschied: Hakuna Matata ... das ist Swahili und bedeutet „no problem, don’t worry!“... Danke, Mamadou, entgegnet sie, Hakuna Matata!
„See you in Africa!“ ruft er ihr lachend hinterher, als sie schon ein paar Schritte weitergegangen ist. „Nicht in diesem Leben!“, bedauert sie, und sie sagt dies mehr zu sich selbst.
 
UNHCR: 2018 ertranken im zentralen Mittelmeer zwischen Libyen und Europa im Schnitt jeden Tag sechs Menschen bei dem Versuch das Mittelmeer zu überqueren, das heißt, jeder fünfzehnte kam um beim Versuch, das Mittelmeer zu überqueren. Insgesamt starben 2018 mindestens 2.275 Menschen. Nicht einen Tropfen Wasser hätten ihnen die Schlepper für die Überfahrt nach Europa gegeben. Wer das Wort „Wasser“ in den Mund nahm oder die libyschen Schlepper ansah, sei geschlagen worden.
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Die NGO Sea-Watch ist aus einer Initiative von Freiwilligen entstanden, die dem Sterben an Europas Grenzen nicht länger tatenlos zusehen konnten. So beschlossen sie, sich aktiv der Politik des Sterben Lassens entgegen zu stellen. Angesichts der humanitären Katastrophe leistet Sea-Watch Nothilfe, fordert und forciert gleichzeitig die Rettung durch die zuständigen europäischen Institutionen und setzt sich für legale Fluchtwege ein. Sea-Watch patrouilliert seit Juni 2015 im zentralen Mittelmeer nördlich der 24-Seemeilen-Zone vor der libyschen Küste und leistet Menschen in Not Ersthilfe. Zuerst mit Sea-Watch1, ab Frühjahr 2016 mit der Sea-Watch 2 und seit November 2017 mit der besser ausgestatteten Sea-Watch 3. Seit der Gründung war Sea-Watch an der Rettung von mehr als 37.000 Menschen beteiligt. SEA-WATCH AGIERT POLITISCH UND RELIGIÖS UNABHÄNGIG UND FINANZIERT SICH AUS SPENDEN.
Um dies Projekt fortführen zu können, ist jede Unterstützung willkommen.
 
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Die hier geschilderte Begegnung hat real während meiner letzten Rom-Reise im Oktober 2018 stattgefunden. Den vorliegenden Text habe ich im Sommer 2019 verfasst, um ihn am 01.09. bei einer Lesung in der Kreuzberger Lesekneipe Schmitz Katze vorzustellen. 
 
© Birgit Ohlsen, 2019
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