I.
Klein ist das Mädchen, kleiner als die meisten Kinder im gleichen Alter. Es fällt aus dem Rahmen, der Körper will nicht mit den Sehnsüchten wachsen. Fliegen möchte es, schweben, wie die Figuren bei Chagall. Ins Blau hinein, ins matte Violett, das sich bei genauem Hinsehen in sonnenerhitztes Altrosa ergießt.
Manches Mal träumt das Mädchen von jenem dunkel gelockten Geigenspieler, dem die Töne abhanden gekommen sind. Oft ist er in ein anders farbenes Gewand gekleidet, immer aber sucht er ihren Blick. Kein fordernder Blick ist dies, ach, wäre er es zumindest eine kleines bisschen. Poesie und Magie, vereint mit bisher kaum gekannten Gefühlen. Nie aber erscheint ihr dies neue Empfinden so bedrohlich wie das Leben selbst.
Ein Instrument möchte sie spielen lernen. Solange du nichts für die Schule tust! Woher das Geld auch nehmen? Das mit der Schule wird nichts, vielleicht steckt ja etwas anderes dahinter?
Zum fünfzehnten Geburtstag ein Metallophon mit Kindermotiven auf den sich mit der Höhe der Töne verjüngenden Blechplättchen. Mit dem Plastikhämmerchen Melodien suchen. Caterina Valente singt im Südwestfunk: Steig in das Traumboot der Liebe/ Fahre mit mir nach Hawaii. Die Melodie ist einfach und lässt sich ohne Mühe nachspielen.
Auf dem 12-Plattenwechsler die neue Schallplatte vom Bertelsmann-Lesering. Die wohlklingende Sopranstimme der Mutter begleitet den traurigen Part des Orpheus, der seine Geliebte auf immer verloren glaubt: Wär, ach wär ich, nie geboren/ weh dass ich auf Erden bin! Die Schwester, gerade zurückkehrt vom Austauschjahr in den USA, hört AFN und Elvis Presley: It’s now or never/ Come hold me tight …. RUHE! brüllt der Mann, der nun die Stelle des Schattenvaters einnimmt. TÜR ZU!!! und: HABT IHR ZU HAUSE SÄCKE VOR DEN TÜREN????
Der Freund der Schwester kommt nachmittags mit der Vespa und holt sie ab ins Grüne.
II.
Kleine Fluchten, zufällige Variationen. Das neue Kind der Mutter. Stundenlang schiebt das Mädchen den Kinderwagen durch die Straßen der idyllischen Schwarzwaldmetropole. Bahnt sich ihren Weg durch vielsprachig belebte Gassen, vorbei an adrett aussehenden Häusern. Weicht mit sich selbst beschäftigten Menschen aus, die, Statisten gleich, ihren Weg queren. Oftmals bleibt sie vorm Töpferladen stehen. Selten wagt sie den Schritt über die Schwelle, lässt sich für wenig Geld etwas Ton in ein feuchtes Tuch einwickeln. Gut zugedeckt und in der Ablage des Kinderwagens verstaut, nimmt sie diesen Schatz mit nach Hause. Dort erst wird sie ihn in aller Heimlichkeit zum Leben erwecken.
Eines Tages entdeckt sie die Musikalienhandlung. Lange bleibt sie vorm Schaufenster stehen. Hier, nur hier, wähnt sie sich unsichtbar. Verspürt ein nahezu überschäumendes Glücksgefühl beim Anblick der stets im verlässlich unverändert bleibenden Schaufenster liegenden verstummten, das Licht der Sonne widerspiegelnden Geigen. Lässt sich in Gedanken von Chagalls Geigenspieler in die Lüfte entführen, wird in der noch an diesem Wohnort verbleibenden Zeit fast täglich in diesen geheimnisvollen Bannkreis gezogen. Die Wirklichkeit holt sie erst wieder ein, als der Säugling zu quengeln beginnt.
Im Musikunterricht erschließt sich ihr von einem Tag auf den anderen bisher unbekanntes Neuland: Beethovens Violinkonzert, Schuberts Forellenquintett. Nein, gesund wird sie dennoch nicht mehr werden, nicht in dieser grauen Stadt, von der die Welt eine solch bunte Vorstellung hat.
Dann der Umzug an einen neuen Ort, vielleicht gar in ein neues Leben? Die Musik ist leiser geworden, klingt nur noch von fern. Die Krankheit hat sich nicht verflüchtigt, sie wird es nie mehr tun, nicht in dieser Umgebung. Immer seltener erscheinen ihr die sinnenfrohen Chagallvisionen im Traum.
Die Schule, ach, die Schule! Wäre da nicht der Schulchor. Stünde nicht Mozarts Canzonetta von den unglücklich Liebenden auf dem Plan. Voller Inbrunst verliert sie sich nun zuweilen in dieser Melodie. Ist dies tatsächlich ihre eigene Stimme? Sie klingt so fremd.
An einem dieser Tage schwebt der Geigenspieler ganz in der Nähe vorbei, hält mitten im Flug inne und ist auch noch da, als der darauf folgende Tag sich dem Ende zuneigt: War er es, der ihr die Geschichte von den beiden Geigen eingeflüstert hat, oder hat sie es im Vorübergehn gehört? Vom Himmel seien sie gefallen, einfach so, vielleicht ja auch aus einem Fenster im ersten Stockwerk eines Mietshauses. Gleich am folgenden Tag sucht das Mädchen die Nähe der anderen, die sich die Geschichte vielleicht ja nur ausgedacht hat, um damit anzugeben.
III.
Die andere ist aus gutem, wenn nicht gar prominentem Hause, das ist sie, und dies betont sie, so oft sich die Gelegenheit dazu bietet. Niemand wird dies übersehen können, niemand überhören. Wenn du möchtest, kannst du ja mal gucken kommen! Dies Angebot kommt unverhofft.
An einem der darauf folgenden Tage beeilt das Mädchen sich, das Haus und die Wohnung der anderen ausfindig zu machen. Ihr Herz klopft zum Zerspringen. Leises, rhythmisches Violinzirpen begleitet jeden ihrer Atemzüge.
Endlich hält sie einen der beiden Geigenkästen in der Hand. Sie schließt die Augen, als sie der rauen Kontur mit den Fingerspitzen nachspürt. Ein umhäkelter Griff, dann der sanft geschwungene, dunkle Corpus, die Beschichtung leicht ramponiert. Vorsichtig öffnet sie die angerosteten Schnappschlösser. Nein, ihr Herz bleibt nicht stehen, als sie das mit der Zeit matt gewordene Instrument aus seinem mit rotem Spiegelsamt ausgeschlagenen Bett hebt. Gleich im nächsten Augenblick erschrickt sie zutiefst: Armes, verletztes Kind, deiner Seele fehlt eine Saite! Oder ist sie etwa nur gerissen? Sie presst das geschundene Instrument an den Leib, nimmt ihre Umgebung nicht mehr wahr. Träumend verlässt sie das Haus. Der Geigenspieler, den sie dabei so dicht wie nie in ihrer Nähe spürt, trägt ihr das Instrument hinterher. Lächelnd schlendert sie durch die Straßen, sie ist nicht mehr allein!
All ihr Denken und Fühlen ist von nun an auf das vollendet geformte, dunkel glänzende Holz gerichtet. Noch am selben Tag fährt sie in die nächst große Stadt, ein freundlicher Geigenbauer verspricht ihr, zu tun, was möglich ist. Eine einsame Woche wird sie sich gedulden müssen.
Das Glück ist unbeschreiblich, als es soweit ist. Zu Hause angekommen, bringt sie eine Saite nach der anderen zum leisen Klingen. Niemand wird sie hören können, niemand sie stören, denn längst hat sie sich im Keller des Altbaus ihr eigenes kleines Refugium eingerichtet. Der hölzerne Liegestuhl ist nun eine Staffelei, auf der erste eigene Farbkompositionen und Zeichnungen entstehen. Der Klumpen Ton hat auf dem drehbaren Tortenteller längst Gestalt angenommen: ein dünnes, für sein Alter viel zu kleines Mädchen, schüchtern angedeutete weibliche Formen. Ein halb blinder Spiegel dient als Modell.
Sorgsam bettet sie das Instrument neben ihre eigene, flüchtig aufgestellte Liege, wärmt es zwischen alten Kleidern, geht nicht mehr zur Schule. Träumt wieder und wieder von Chagalls fliegendem Geigenspieler.
Fast ungehört die Türklingel oben im Erdgeschoss … “più non si trovano“ … Es klingelt zum wiederholten Mal… „fra mille amanti…”. Lautes, aufgeregtes Gerede, höfliches Gegurre “ ….sol due bell’anime“… - Nein, meine Tochter klaut nicht - „…che sian costanti“ – Oder – tut sie es etwa doch? „E tutti parlano di fedeltà!“
Das Mädchen hat die Geige aus seinem schützenden Bett genommen, hält sie sanft gegen Oberkörper und Wange geschmiegt, zupft an der erneuerten, eigenen Saite und, oh Wunder, mit einem Mal fliegt es, die Decke des einstigen Luftschutzraums öffnet sich, bald entschweben beide, eng umschlungen, in die himmelblaue Kunstkartennacht.
©birgit ohlsen. Feb.09
Anm.: Die ursprünglich hier eingefügten Chagallbilder sind aus Urheberrechtsgründen nicht in den Text eingebunden