Empört Euch! von Stéphane Hessel

 

Ein Kollektiv, das gemäß Meinungsumfragen Abschreiben und Steuerhinterziehung als Kavaliersdelikte betrachtet, wird sicherlich nicht darüber empört sein, wenn jemand behauptet, dass die internationalen Finanzmärkte bestimmen, welche Bedeutung Frieden, Freiheit, Gerechtigkeit, Gleichheit und Demokratie haben. Vielleicht wird ein Teil des Kollektivs sich in der Öffentlichkeit darüber beschweren, dass seine Gelder verloren gegangen sind. Aber daraus eine kollektive Aktion zu machen, würde vermutlich jedes Individuum als „abstrus“ abtun. Für welche Absurdität der Geschichte müssen solche Menschen die Idee eines in Deutschland geborenen Franzosen halten - Stéphane Hessel - der einen nur 20 Druckseiten langen Aufsatz mit dem Titel: Empört Euch! geschrieben hat?

Die jüngste Empörung in Tunesien und Ägypten war groß, hat zur kollektiven Aktion und letztendlich auch zur Veränderung geführt und wird vielleicht mehr Freiheit, mehr Gerechtigkeit, mehr Gleichheit und mehr Frieden zeitigen, soweit ich das überhaupt beurteilen kann. Und wer kann das schon, die Geschichte derart beurteilen, dass man das Geschehen auf der Welt in einen eindeutigen Zusammenhang einordnen kann?

Dazu muss man schon ein Philosoph sein. Ein Philosoph wie Hegel oder Benjamin eben, die die Geschichte gleichsam als These und Antithese betrachtet haben. Laut Hegel soll der Sinn der Geschichte in der Entwicklungsgeschichte einer Idee liegen, die sich durch den Menschen ein Denkmal in der Zeit setzt. Das geht nicht von heute auf morgen, sondern bedarf eines längeren Zeitraums und eines Verwirklichungsprinzips, mit dem die Ideen zur Gestalt werden. Doch was ist, wenn man die Geschichte nicht so rosig sieht, und den Fortschritt als Streben nach immer mehr, als einzige Katastrophe deutet, die Trümmer auf Trümmer häuft? Ich will hier mit der Zweierkisteantworten. Ein Songtext von Laurie Anderson gibt Auskunft darüber, wie unsere Indiviualität im Großen und im Ganzen eingebettet ist:

 

"Hansel and Gretel are alive and well

And they're living in Berlin

She is a cocktail waitress

He had a part in a Fassbinder film

And they sit around at night now drinking schnapps and gin

And she says: Hansel, you're really bringing me down

And he says: Gretel, you can really be a bitch

He says: I've wasted my life on our stupid legend

When my one and only love was the wicked witch.

She said: What is history? And he said: History is an angel

being blown backwards into the future

He said: History is a pile of debris

And the angel wants to go back and fix things

To repair the things that have been broken

But there is a storm blowing from Paradise

And the storm keeps blowing the angel backwards into the future

And this storm, this storm is called Progress" 1

 

So erleben wir in den Beziehungen zu anderen Menschen etwas Einmaliges, nur das Individuum betreffendes Etwas. Aber die Beziehung selbst ist viel allgemeiner als es uns unsere Erfahrung vorgaukelt. Für Marx waren die Beziehungen, die die Menschen untereinander eingehen, das Abbild äußerer Verhältnisse. Für viele Menschen ist das nicht akzeptabel. Wer will schon als Marionette der kollektiven Äußerlichkeit gelten? Heute sind die Beziehungen nichts anderes als das Abbild innerer Verhältnisse. Aber wer will schon eine Marionette seiner Innerlichkeit sein? Nein, ich bin Herr im eigenen Haus! Woher das isomorphe Bild einer Beziehung letztendlich kommt, ist unbedeutend, wenn ich meine Beziehungen beurteilen kann. So fordert uns Stéphane Hessel nicht nur auf, unsere Beziehung zur Geschichte zu beurteilen und die Empörung ist die erste Stufe in diesem schmerzvollen Prozess – nein, er fordert uns auf, diese Geschichte selbst zu gestalten, Neues oder Besseres zu schaffen, und dazu bedarf es eines kollektiven Widerstands: „Neues schaffen heißt Widerstand leisten. Widerstand leisten heißt Neues schaffen.“2

 

Ich habe dies Heft zu einem Zeitpunkt gelesen, wo ich mir selbst Gedanken mache, fast 40 Jahre nach der Studie Global 2000, wie die Zukunft für meine Enkel aussehen soll. Ich weiß, dass dies sehr abgedroschen klingt. Aber angesichts der Verknappung der Rohstoffe, der jahrelang andauernden, ungehemmten Spekulation mit den Rohstoffpreisen, der Tatenlosigkeit der Politik, die zu einem Verwaltungsakt verkommen ist, frage ich mich, wie die Welt dauerhaft zu einem kollektiven Paradies werden kann oder, anders gesagt, was verhindern könnte, dass die Welt zur individuellen Hölle des homo homini lupus verkümmert? Regt mich diese Frage auf, weil ich die Antwort schon weiß? Erschrecke ich vor der Schwierigkeit der Aufgabe – oder stelle ich mir ihr, wie der Dummkopf eben, der keine Schwierigkeiten kennt? Hoffe ich, dass die kollektive Gleichgültigkeit einem kollektiven Widerstand weicht, so wie in Tunesien oder Ägypten eben? „Allein machen sie dich ein, schmeissen sie dich raus, lachen sie dich aus, und wenn du was dagegen machst, sperr'n se dich in den nächsten Knast…“3

Ist es die Größe der Aufgabe, die mich nach dem Kollektiv schreien lässt oder das innere Trägheitsprinzip? Bin ich so vermessen, zu glauben, die Welt ändern zu können? Ist es das Wort „Widerstand“, das auch in meiner Individualität eine Bedeutung hat? Oder meldet sich nur der Widerstand gegen den Widerstand als ein Ausdruck meines Trägheitsprinzips oder gar der Angst, darüber verrückt zu werden?

„Es sind lauter Widerstände von Anfang an, wahrscheinlich schon immer gewesen. Widerstand, was ist Widerstand? Widerstand ist Material. Das Gehirn braucht Widerstände. Indem es Widerstände ansammelt, hat es Material, Widerstand?“4

Vielleicht muss ich endlich einsehen, dass ich ein Kranker bin, dem keiner helfen kann, nur er selbst eben. Die Krankheit heißt Angst vor der Zukunft. Sie zerstört die Zukunft, nicht nur die eigene, und gibt zugleich die Kraft für den Widerstand, der nötig ist, die Zukunft zu gestalten, wenn die Urteilsfähigkeit nicht verloren gegangen ist. Also ist die Aufsässigkeit mir gegenüber die Aufsässigkeit der Welt gegenüber. Keine andere Beziehung hat Sartre herausgefunden, als er von Freiheit und Verantwortung sprach.

© GOO, Februar 2011

 

1 Laurie Anderson, "The Dream Before (for Walter Benjamin)", http://www.sing365.com/music/lyric.nsf/The-Dream-Before-for-Walter-Benjamin-lyrics-Laurie-Anderson/A9480A38A5333A3948256976000EE1B5

2Stéphane Hessel, Empört Euch, Rückseite des Buchcovers, Ullstein

3Ton Steine Scherben, Allein machen sie dich ein, T/M: Rio Reiser und R.P.S. Lanrue , 1971, http://www.riolyrics.de/song/id:7

4Thomas Bernhard, Der Italiener, S. 97, München 1971

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