Junge, schnell wachsende Familien mit nicht zu verachtenden, regelmäßigen Zuwächsen auf ihren Bankkonten haben der Gemeinde zudem ein erkleckliches Steuereinkommen beschert, wofür diese sich wiederum nicht lumpen ließ und eine per Ratsbeschluss im Vorfeld der Erschließung abgeholzte Streuobstwiese flugs zum Festplatz erklärte. Ökomärkte, Kleintiermessen, Nachbarschaftsfeste sowie – ich habe ihn bereits erwähnt – der Osterflohmarkt sorgen für die notwendigen Farbtupfer in dieser neu entstandenen Gemeinde, einem weiteren Vorort der Schwarzwaldmetropole F.

Die letzten Tapeziertische sind gerade aufgebaut, als Juliane den Festplatz erreicht. Sie hat sich Zeit gelassen, niemand erwartet sie. Oftmals ist sie auf dem Weg stehen geblieben, hat sich umgesehen, sich gebückt. Einfach so, den Schnee zu fühlen, ihn zu schmecken. Stumm sieht sie sich um. Gemächlich streift sie durchs österlich geschmückte Spalier, zufrieden, dass sie keiner kennt.

Knospende und bereits erblühte Frühlingszweige, behängt mit ausgeblasenen, von Kinderhand bemalten Ostereiern, schmücken weiße und bunte Wachstuchdecken. Winzige, sonnengelbe Küken aus gefilzter Wolle (die aufgeklebten Papieraugen sind zuweilen verrutscht), niedlich anzusehende Dürerhäschen aus Keramik machen hier und da, dass einer dieser mit Bedacht dekorierten vorösterlichen Markttische Punkte gewinnt fürs Preisgericht und zudem Käufer anzieht. Kaffee und selbst gebackener Kuchen, preiswerter als in der Konditorei am Marktplatz, wird an einem überdachten Gartentisch angeboten, ein paar Stühle laden zum Verweilen ein.

Längst ist das Geschachere ums günstige Angebot in vollem Gange: Kristallvasen, die letzten Andenken an längst entsorgtes Biedermeiermobiliar, von Urgroßmüttern einst mit der Hand geklöppelte Spitzendeckchen, nach dem letzten Weltkrieg im Fluchtgepäck über Grenzen hinweg gerettet, mit Leidenschaft zusammengetragene Pfeifensammlungen der Urgroßväter wechseln in rascher Abfolge den Besitzer. Raumverdrängende Erinnerungen an längst Vergangenes müssen weichen und suchen ihren neuen Ort. Abschied ist angesagt vom alten bürgerlichen Leben: Die Symbole werden weitergereicht. Die Kinder dieser Abschiednehmer und Weiterreicher (die, dies sei am Rande vermerkt, die wieder modern gewordenen Vornamen der Generation ihrer Urgroßeltern tragen: Henriette und Josephine, Friedrich und Gustav), haben ihre eigenen Laufmeter zugeteilt bekommen. Mit ungelenker Schrift (was wiederum als Beleg für erwiesene Eigeninitiative zu werten sein wird) haben sie kleine Pappschilder mit erstaunlich gut kalkulieren Preisen bekritzelt, die sie, gut sichtbar, vor ihrem ausgespielten Spielzeug in Position bringen. 99 Cent hinterm Komma! Gut haben sie dazugelernt beim Einkauf ihrer Eltern, diese gelehrigen Kleinen; es wunderte mich nicht, könnten sie die Börsenkurse bald schon ebenso gut daher beten.

Männer und Frauen, denen die fehlende Zugehörigkeit zur Gesellschaft der Gesättigten ins Gesicht geschrieben steht, haben sich im Schutz der paar verbliebenen Bäume auf Klappstühlen niedergelassen und sehen mit stoischer Gelassenheit der nächsten Gelegenheit entgegen, ihre Ware in klingende Münze umzuwandeln. Ausgebreitet auf Decken und Planen findet sich da kleineres Haushaltsgerät neben intakter oder defekter Unterhaltungselektronik; Gitarren mit und ohne Saiten harren in stummer Gesellschaft mit Mundharmonikas und Blockflöten ihrer neuen Besitzer. Fahrräder zweifelhafter Herkunft stützen sich gegenseitig und verdecken die Kinderkarre, der das letzte Kind gerade entwachsen scheint. Jennifer und Jessica, Kevin und Pascal werden sie gerufen, diese wilden Kleinen, die nun, vor Kälte bibbernd, neben ihren Eltern hocken, Fangen spielen oder Verstecken.

Längst zweifelt Juliane, ob es Sinn macht, an diesem Ort weiter nach ihren Bildern zu suchen. Es ist ein Anfang, immerhin.

Gerade ist sie stehengeblieben. In einem weit aufgeklappten Schrankkoffer ist ihr Blick auf ein kleines Kästchen gefallen, das ihr bekannt vorkommt. Sie weiß nur nicht mehr, woher. Darf ich? Ihre Augen bitten den Verkäufer, er nickt zustimmend. Aus einem Gewirr von Kabeln, eingeschweißten Batterien und Handy-Ladegeräten zieht sie das verstaubte Ding hervor, dessen geschmeidige Form sie magisch anzieht. Dann hält sie unversehens ein verloren geglaubtes Stück ihrer Kindheit in den Händen: eine schwarze, bei Gegenlicht leicht ins Weinrote changierende Box, etwas größer als ein Margarinewürfel. Wenige Zentimeter über der Linse der leicht ausgeblichene, einst weiße Schriftzug Boy. Ein Geschenk, von der Großmutter, zum zehnten Geburtstag: der erste Fotoapparat. Spätestens mit zwölf der Wunsch, Fotografin zu werden, nichts anderes als Fotografin, erinnert Juliane sich und lächelt.

Behutsam dreht sie das kostbare Fundstück in den Händen. Führt es dann, in Erwartung des erinnerten Bakelit-Geruchs, dicht ans Gesicht. Dabei fällt ihr Blick auf die Ziffer ‚9‘, die, mit etwas Mühe, durch das winzige Kontrollfenster auf der Rückseite des Kästchens hindurch zu sehen ist. Ein Film ist eingelegt, seit Jahrzehnten vielleicht. Und keine Möglichkeit mehr, hinter das Geheimnis seiner Geschichte oder derjenigen des darauf Abgebildeten zu kommen. Fünf Euro in eine derbe Männerhand gedrückt, und schon wechselt die Box ihren Besitzer.

Tief in den Anblick ihres eingeholten Schatzes versunken, bemerkt Juliane zunächst nichts vom Aufruhr, der sich zur selben Zeit, vom Rondell der Anwohner her kommend, in ihre Richtung bewegt. Dröhnendes Getrappel nähert sich auf dem vom Schnee befreiten Weg. Geballte Fäuste und lautes Geschrei verfolgen eine flüchtende Person, die, kaum ist es zu erkennen, ein Stoffbündel an den Leib gepresst hält. (Fast könnte man meinen, es handelte sich dabei um einen Säugling, machte das Ding nicht einen eigenartig leblosen Eindruck.)

Haltet den Dieb, haltet den Dieb!

Kinder, die für diese kleine Abwechslung sorglos ihre Geldkatzen aus den Augen gelassen haben, verstärken den Chor der Verfolger mit ihrem übermütig gesungenen Refrain: Ein Die-hieb, ein Die-hieb!

Ein paar Meter ist die Meute noch von ihr entfernt, als Juliane unversehens beiseitegestoßen wird und fällt. Im Sturz gelingt es ihr gerade noch, sich zu fangen. Ihr Blick fällt dabei in einen matt gewordenen, mehrfach gesplitterten Spiegel. Schwarze Sprenkel und Risse in der Silberbeschichtung machen, dass sie in das gespaltene Gesicht einer alten Frau sieht: älter, als sie es zu diesem Zeitpunkt ist, älter, als sie es jemals sein wird. Sie erschrickt heftig. In nicht allzu weiter Entfernung ist die den Verfolgern glücklich Entkommene gerade im Begriff, die Beute auf dem Gepäckträger eines Fahrrades zu verstauen.

Kaum hat Juliane am späten Nachmittag das Hofgelände erreicht, fällt ihr vielleicht erstmals der hoch aufgetürmte Holzstapel auf. Morsche Zaunpfähle, Baum- und Strauchschnitt, geknickte Fichtenäste von beträchtlichem Ausmaß, seit Mittag bis in erstaunliche Höhen gegen den hoch aufragenden Hauptstamm geschichtet.

Ein vorzüglicher Unterschlupf für Igel und Vögel, ihren Nachwuchs zu hegen, könnte man meinen, wüsste man es nicht besser. Juliane hält einen Augenblick lang inne. Geht weiter, froh, endlich anzukommen.

Vor ihrem Haus liegt das Fahrrad mit dem notdürftig geflickten Speichennetz im Schnee. Gerade verschwindet die Katze im Schuppen. Sie trägt ein Junges im Maul. Juliane denkt daran, ein Foto zu machen. Wartet hinterm Fenster darauf, dass die Katzenmutter wiederkommt. Dreht spielerisch am elfenbeinfarbenen Knebel, der den Film weiter transportiert. Drückt auf den Auslöser, dreht weiter. Die ‚12‘ erscheint hinter der kleinen roten Scheibe. 12 Bilder sind auf jedem Film, daran erinnert sie sich genau.

Als es vollends dunkel geworden ist, packt sie im Schein der Kerze ihre Habseligkeiten zusammen. Endlich hat sie den Entschluss gefasst, diesen Ort zu verlassen. Gleich am nächsten Morgen wird sie sich auf den Weg machen. Über den Berg, dann durch die Täler, immer geradeaus, in Richtung Süden. So hat sie es sich oftmals vorgenommen, jetzt ist die Zeit gekommen.

Ich muss mich nicht einmal verabschieden, schreibt Juliane K. an diesem Abend in ihr Schulheft. Es gibt ja niemanden, der mir nahe genug wäre, als dass ich ihm Lebwohl sagen müsste. Es wird nicht einmal auffallen, dass ich gegangen bin.

Sie lässt den DjaDja-Tee ziehen, trinkt ihn und spürt allmählich die Wärme in sich aufsteigen. Eine weitere und vielleicht noch eine dritte Tasse, die endlich macht, dass sie müde wird und bald darauf einschläft.

Drüben, auf der Anhöhe, haben unterdessen ein paar angeheiterte Burschen ihre brennenden Zigaretten ins Holz gesteckt. Hier und da steigen erste Rauchfahnen aus dem Gestrüpp.

Ein großer, schwarzer Vogel wird vom heftiger gewordenen, aus nordwestlicher Richtung kommenden Wind, einem späten Ausläufer des Sturmtiefs Melli, über die bald hoch auflodernden Flammen hinweggetragen. Mit weithin vernehmbarem Wehgeschrei lässt er sich auf dem Giebel des Backhäuschens nieder.

Am Ostermontag – es ist jetzt kurz vor Einbruch der Dämmerung – kehrt Zaccaria, den Rucksack auf dem Rücken, zur Brandstelle zurück. Er ignoriert das rot-weiß markierte Plastikband und steigt über die Absperrung hinweg. Mit einer Taschenlampe leuchtet er das aus, was geblieben ist. Stochert mit einem Schürhaken darin herum, zieht hier und da ein paar Dinge hervor, die ihren ursprünglichen Zustand, ihre einstige Bestimmung erahnen lassen: die verrußten Stahlfedern eines Feldbetts, einen leicht angesengten Notizblock, ein nahezu unversehrtes Buch. Er dreht den kleinen Band in den Händen, müht sich dann, die vom Löschwasser miteinander verklebten Seiten voneinander zu lösen. Hält in diesem Tun inne und sieht zum Himmel, der sich gerade zuzieht. Sollte es doch möglich sein, dass der Geist den Menschen überdauert? Darüber wird er sich bei Gelegenheit Gedanken machen müssen.

Zu Hause angekommen, geht Zaccaria sogleich in sein Kontor, das, wie wir inzwischen wissen, auch seine Werkstatt ist. Ein oder zwei Computer verbinden ihn mit der Welt, eine kleine Funkanlage verschafft ihm Zugang zu Informationen, die von weit abgelegenen Orten zu ihm dringen. Das Dossier, das er, um ein Beispiel zu nennen, als Ergebnis dieser Kontakte über den aktuellen Stand der Gletscherschmelze in der Arktis angelegt hat, legt er nun beiseite und stellt an seiner Stelle den Rucksack auf den Tisch. Dann zieht er die Vorhänge zu, macht Licht. Nacheinander entnimmt er dem Rucksack die Dinge, die ihm sinnvoll erscheinen, das Bild, das er im Lauf ihrer kurzen Bekanntschaft von Juliane K. hat gewinnen können, zu ergänzen.

Ein Schulschreibheft mit handschriftlichen Notizen ist zum größten Teil erhalten, der Rest lässt sich restaurieren. Zaccaria blättert ein wenig, gibt sich Mühe, kaum noch Lesbares zu entziffern, dabei den beißenden Brandgeruch zu vergessen, der am Papier, am Stoff haftet. Es gelingt ihm nicht immer. Er wird sich mit Fachkollegen beraten müssen, wie das Geschriebene, sobald es wieder hergestellt ist, zu bewerten sei.

Als Nächstes geht er an den Vitrinenschrank und entnimmt ihm den längst prall gefüllten Ordner, den er vor knapp zwei Wochen erst mit dem Namen der Juliane K. versehen hat. Aus einer Schublade zieht er ein leeres Blatt und macht darauf mithilfe einer in einem hölzernen Federhalter steckenden Stahlfeder, die er zuvor in ein zierliches Tintenfässchen getaucht hat, mit schwungvoller Schrift folgenden Eintrag: vorl. Abschl. Akte Juliane K. Gleich dahinter setzt er die Datumsziffern des heutigen Tages: Montag, 24. März .

Nichts anderes als eine (durch welche Umstände auch immer) weitgehend unversehrt gebliebene Puppe hält er jetzt in seinen großen Händen. Den kleinen Leib umgeben die Überreste von verdorrten Laubblättern, um Hals und Hüften ist ein mehrfach verknüpfter Bindfaden gewunden. Der leicht angesengte Schopf über dem einst womöglich bemalten Gesicht scheint aus Wurzelfasern gefertigt zu sein.

Noch kann Zaccaria sich keinen Reim auf diesen seltsamen Fund machen. Eine eigenartig archaische Form, wie er sie nie zuvor in dieser Region zu Gesicht bekommen hat. Gleich wird er sie fotografieren und archivieren.

Am nächsten Tag, kaum ist das seltene Stück getrocknet und vermessen, fügt er es seiner Kuriositätensammlung hinzu. Danach begibt er sich ein weiteres Mal vors Haus, hält die Nase in die frische Luft, schnuppert ein wenig und stellt mit einem schnellen Blick zum Himmel befriedigt fest, dass es fürs Erste aufgehört hat zu schneien.



© bio, April, 2014

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