Inhalt

Einleitung

Das Lindenmännle

Eine wirklich scheniale Idee

Nicht gesellschaftsfähig

Zigeunerkind

 

 

 

 

OMUSCH-GESCHICHTEN1

 

 

Großmütter gibt es etliche auf der Welt. Vielen davon sagt man eine blühende Phantasie nach, nicht ganz so viele besitzen diese Eigenschaft auch tatsächlich. Manche können auch zaubern und haben diese blühende Phantasie gleichzeitig. Dann zaubern sie mit Hilfe dieser Gabe eine Welt, die ein wenig schöner, heller noch erscheint, als sie das heute ist. Und dieser ganz bestimmte Zauber tut in ganz bestimmten Momenten ganz besonders gut. Eine von diesen Zaubergroßmüttern hatte ich. Die Omusch, von der ich hier erzählen möchte, war sogar so besonders, dass sie sich einen ganz besonderen, nur beinahe oma-ähnlichen Namen zulegte – sie nannte sich Omusch.

Jetzt, da ich zwar noch Kind bin, aber nicht mehr so klein wie zum Zeitpunkt, von dem ich erzählen möchte, klingt dieses „Omusch“ für mich so heimelig altmodisch, so unwiederbringlich nach dem Kachelofen, am dem man sich im Winter die Fußsohlen verbrannte, nach Bratäpfeln, die darin schmorten, nach Kanarienvogel, Gobelin mit Jagdszene überm Sofa ... und nach dem Lindemännle. Nach Zauberei und Phantasie in einem. Ich bin nicht einmal so sicher, dass das Lindemännle, mit dem unsere Omusch uns Kinder auf so geheimnisvolle Weise vertraut machte, wirklich nur ein Produkt ihrer Phantasie war. Sie schien es nämlich tatsächlich zu kennen. Wie sonst hätte sie uns einen solch lebensnahen Eindruck geben können?

 

DAS LINDEMÄNNLE

 

Mit dem Lindemännle machte ich etwa zur gleichen Zeit Bekanntschaft wie mit der Omusch. Gemeinsam mit meiner sehr braven, um ein Jahr älteren Schwester, unserer Mutter und zwei Köfferchen kamen wir eines Tages, wenige Jahre nach Kriegsende, in Zähringen an. Während unsere Mutter täglich zur Arbeit in die Stadt fuhr, wurden wir zwei fünf und sieben Jahre alten Mädchen in Omuschs Obhut im „Dorf“ gelassen. Da waren wir nun: In einer fremden Umgebung, inmitten von Tanten, Onkels, einem Baby, einer uralten Dame, die uns nicht mochte und einer weniger uralten Dame, eben der Omusch. Und diese Omusch sah keineswegs so aus, wie ich sie mir nach all den süßen Päckchen, die sie uns ab und zu geschickt hatte, vorstellte: nämlich mit einer hohen Zuckertüte auf dem silberbehaarten Haupt. Es war schon traurig!

Leider ergab es sich, dass man recht bald herausfand, dass ich nicht ganz so gehorsam war wie meine sehr brave Schwester, und des Öfteren war ich ganz einfach verschwunden. Derweil stromerte ich in der dörflichen Gegend herum, entdeckte junge Kälbchen in verschlammten Ställen und erkundete auf bloßen Füßen das Dorf und die nähere Umgebung. Manchmal, nach dem Abendglockenläuten, vernahm ich Omuschs allabendlichen Ruf:

 

B i r r r r g i i i i t !!!!!!!!!!

 

aus geschätzt einem Kilometer Entfernung vom nun gemeinsamen Wohnhaus, und manchmal gehorchte ich dann auch, weil ich Hunger hatte. Dann schlenderte ich gemächlich, an Straßenrändern nach Fallobst oder, je nach Jahreszeit, zwischen Drahtzaunlücken nach Stachelbeeren suchend, nach Hause.

 

Einmal geschah es, dass man mich durch Erziehung zu bessern versuchte. Man drohte diese mal nicht nur mit dem Kochlöffel, nein, man holte ihn sogar! Aber selbst mit fünf Jahren verfügt man schon über Lebenserfahrung. Es kommt nur drauf an, dass man ständigen Kontakt mit gut informierten Dorfkindern pflegt! Bevor also das betreffende Familienmitglied, ich muss hinzufügen, es handelte sich dabei nicht um Omusch, mit dem besagten Kochlöffel aus der Küche zurückkehrt war, hatte ich meine Lederhose mit einer der gut gehüteten alten, sehr solide gewebten, mit Monogramm versehenen und jeden Schlag dämpfenden Leinenservietten von innen abgesichert. So war ich in der glücklichen Lage, die mir zugedachte „Strafe“ mit unbewegter Miene über ich ergehen zu lassen – und spürte von da an keinen Kochlöffel mehr. Offenbar hatte man festgestellt, dass mich selbst die härteste Strafe nicht rührte, geschweige denn besserte.

 

Es war dann Omusch, die einen Erziehungshelfer gewann. Und zwar akzeptierte ich diesen freiwillig. Schon so ziemlich seit unserer Ankunft im Dorf unternahmen Omusch und meine große (brave) Schwester täglich gemeinsame Spaziergänge. Wohin, wollte ich gar nicht wissen, da ich stets meine eigenen Pläne hatte. Aber eine Tatsache begann mich mit der Zeit doch zu interessieren: Die Schwester, trug stets irgendwelche winzig klein geschnittenen Obststückchen, Rosinen und Brotkrumen bei sich, wenn sie sich mit der Omusch auf den Weg machte. Da ich Rosinen ganz gern mochte (Äpfel konnte ich mir jederzeit und überall selbst besorgen), bot ich eines Tages freiwillig meine Begleitung an. Ich musste mich zwar erst wieder waschen, aber, wie gesagt, die Rosinen ...

Omusch ging mit uns gar nicht so weit weg. Wir kamen schon nach 10 Minuten auf dem Dorfkirchplatz an. Links erhebt sich die mächtige katholische Kirche, fast zu mächtig für eine Dorfkirche, deren herrlich buntes Innenschiff uns Kinder schon damals zum Schweigen brachte. Und vor dem Hauptportal dieser Kirche, ein wenig zur rechten Seite, steht die Linde. Jetzt, im Sommer, stand sie mächtig und grün da, mit einem gewaltigen, jahrhundertealten Stamm und einer betäubend duftenden Blätterkrone. Man konnte die Linde zwar nicht erklettern, dafür war der Stamm aber ringsum von einer hölzernen Bank umgeben. Während ich, wie gewohnt, ein paar Runden auf dieser Bank drehte, bemerkte ich zu meinem Erstaunen, dass meine brave Schwester unter der Bank hindurchkrabbelte, Omusch mit einer sportlichen Grätschbewegung ein Bein über die Bank hinwegsetzte und das andere elegant nachzog. Dass Omusch so etwas konnte, wusste ich und darauf war ich stolz. Kein Kind im Dorf hatte eine Oma nachweisen können, die ohne Leiter in einen Kirschbaum klettern konnte und sich während des Kirschenpflückens bis in die Baumspitze vorwagte!

Weiter beobachtete ich, dass die Schwester ihr sauberes Taschentuch auseinanderfaltete, sich vor eine Wurzelhöhle am Fuße des Baumes kniete und einige Blätter und Zweigchen mit der rechten Hand wegfegte. Dann beugte sie sich hinab und blinzelte in die dunkle Öffnung hinein. Sodann richtete sie sich zufrieden strahlend wieder auf und sagte in Omuschs Richtung: „Er hat sie gefunden!“  Omusch freute sich ebenfalls und wandte sich mir zu mit den geheimnisvollen Worten: „Siehst du, `s Lindemännle war da!“ Ich schwieg, denn ich spürte, dass es hier doch noch etwas gab, wohinter ich bisher nicht gekommen war. Und Omusch wollte erzählen, das spürte ich. Ebenso brav wie die Schwester setzte ich mich auf die Bank, mit dem Gesicht zum Höhleneingang, und lauscht gebannt.  „Hier wohnt’s, unser Lindemännle“, begann Omusch und nahm meine offensichtliche Neugierde mit Genugtuung zur Kenntnis. – „... Es hat sehr viel Freude an braven kleinen Kindern! ...“ Etwas ängstlich wurde mir zumute. „.. Aber alle Kinder können brav sein, wenn sie nur wollen ...“ – ein schwer zu deutendes Lächeln streifte mich. Und so erfuhr ich die ganze Geschichte um das Lindemännle. Ich wurde in das Geheimnis eingeweiht und wurde somit zum ein wenig gezähmten Verbündeten.

 

Schon Hunderte, vielleicht Tausende, aber auf jeden Fall mindestens ebenso viele Jahre wie die Linde da steht, wohnt das Lindemännle dort. Irgendwann, vor urlangen Zeiten, hatte es oben im Zähringer Wald gewohnt. Einmal in leuchtenden Fliegenpilzen, dann im Geheimgang unter der Zähringer Burg – und schließlich unter Baumwurzeln. Genau ausgedrückt, hatte es ein richtiges Zwergenmärchenbuch-Dasein geführt. Und das wurde ihm eines Tages zu bunt. Ob er nun Individualist war, sich zu Höherem berufen fühlte oder ganz einfach zwischen Menschenkindern leben wollte – es ist mir heute noch ein Rätsel. Damals zog also das überdrüssige Zwerglein in die noch junge Linde auf dem Zähringer Kirchplatz ein und nannte sich von da an „Lindemännle“, genauso wie eine Großmutter sich eines Tages einfach „Omusch“ genannt hatte. Zum Glück fand es in der Linde genug Raum vor, und so ging es zuerst einmal daran, eine Wendeltreppe einzubauen. Wie man das machte, hatte es den Erbauern der Ritterburg oben im Zähringer Wald abgeguckt. In den Zweigen richtete es sich mit Herbstlaub gepolsterte Zimmerchen ein, im Sommer bedeckte es sich mit grünen Blättern. Anfangs misstrauten ihm noch die Vögel, die in der Linde ihre Nahrung suchten und ihre Jungen aufzogen. Aber als sie merkten, dass er mit ihnen gute Nachbar­schaft pflegen wollte und keineswegs lästig wurde, brachten sie ihm sogar Kuchenkrumen und Obststückchen von ihren Streifzügen mit.

Mit der Zeit gewann das Lindemännle also immer mehr Freunde, sogar eine Unke aus dem nahegelegenen Reutebach stellte sich täglich zur Kaffeestunde ein und machte die Wohnung sauber. Wenn das Lindemännle tagsüber auf den Dorfplatz hinuntersah, so freute es sich an den Spielen der Kinder und war ab und zu recht böse über ihre Streiche. Manchmal wäre es sehr, sehr gerne seine Wendeltreppe hinabgestiegen, um sich unter die Kinder zu mischen. Aber dann fiel ihm wieder ein, dass es so alt sei und auch so winzig, dass man es kaum erkennen könne. Und dann wurde es immer wieder ein wenig traurig und musste sich von der Unke trösten lassen. 

Viele, viele Jahre verstrichen; der Baum war älter, innen aber viel, viel schöner und gemütlicher geworden. Sogar ein elektrischer Fahrstuhl ersetzte jetzt die Wendeltreppe. Damit konnte das Lindemännle jetzt richtig nach unten flitzen, sobald Kinder kamen, um auf dem Kirchplatz zu spielen. Inzwischen hatte es sich doch ein Herz gefasst und hockte sich sogar schon ab und zu einmal unter die Bank, um näher bei den Kindern sein zu können. Natür­lich so, dass man es nicht sehen konnte. Wenn es nun beobachtete, dass einem braven Kind etwa eine bunte Glasmurmel oder gar ein Zehnerle aus der Tasche fiel, so verbarg er sich unter einem Lindenblatt, huschte wie vom Wind gepustet in die Richtung des Kindes und sorgte geschickt dafür, dass es das Verlorene wiederfand. War ein Kind jedoch bös zu einem anderen, so kam das Lindemännle wieder ganz unauffällig herbeigehuscht und kniff einmal ganz schnell in das Bein, das eben vielleicht noch ein anderes Kind getreten hatte. ...

 

An dieser Stelle der Erzählung atmete ich erleichterte auf: war ich doch noch nie heimlich gekniffen worden, wenn ich einmal nicht besonders brav hier herumtobte! Ich verspürte eine Art Triumph!

 

... Mit der Zeit erfuhr das Lindemännle auch, was sonst noch so im Dorf vor sich ging. Alle Vögel, Mäuse und die alte Unke auch brachten täglich die neuesten Informationen mit und so blieb nichts mehr in der Linde verborgen. Einmal war wohl das Lindemännle nicht ganz so vorsichtig gewesen wie üblich – oder aber es fühlte sich schon so unsichtbar, wie es sich versteckte: Auf jeden Fall wurde es eines Tages doch von einem Menschen entdeckt. Und das war die Omusch, natürlich! Es kam kein Davonrennen infrage, denn respektgebietend muss die Omusch schon immer ausgesehen haben; und ein bisschen neugierig war das Lindemännle trotz seines schier unschätzbaren Alter geblieben. Erstaunlicherweise freundeten sich die beiden an (die Omusch hatte wohl schon immer was Süßes in der Tasche) und so kam es, dass sie so nach und nach die ganze Geschichte des Lindemännles erfuhr.

Omusch freute sich sehr, denn sie hatte drei Jungen zu Hause, die auch manchmal nicht so ganz brav waren, und so machten die beiden untereinander aus, dass das Lindemännle ab und zu ein Augen auf die Jungen haben solle. Dafür würde die Omusch regelmäßig mit den Kindern kommen und kleine Leckereien in die Baumhöhle legen. Waren die Kinder nun verhältnismäßig lieb gewesen, so wurden die Gaben angenommen; falls nicht, so hatte das Lindemännle alles beleidigt liegenlassen. Die Jungen wurden erwachsen und lernten, auf sich selbst aufzupassen. Aber sie, heirateten und ... viele Jahre später kamen wir zwei kleinen Mädchen von weit her, um bei der Omusch zu leben. Gewiss hatte das Männle schon geduldig darauf gewartet.

 

 Zugegeben: Es war schon vernünftig von der Omusch gewesen, zuerst das wohlgeratenere von uns beiden Kindern vorzustellen. Nach all den Jahren!  Und heute sah ich also mit eigenen Augen, dass das Lindemännle sich über meine liebe Schwester freute und ihre Apfelstückchen und Rosinen angenommen hatte! So beschloss ich, brav zu werden.

 

Auf meinen täglichen Streifzügen pflückte ich Gänseblümchen (denn wie die Omusch erzählt hatte, hatte das Lindemännle in seiner Wohnung winzige Väschen aus ausgehöhlten Eicheln, mit Tau gefüllt), und von den stibitzten Kirschen legte ich hin und wieder eine oder zwei dazu. Die brachte ich dann auf dem Heimweg bei der Linde vorbei und legte sie zu den bereits vorhandenen Geschenken.  Und - oh Wunder - am nächsten Tage war von meinen Gaben nichts mehr zu sehen. Nur später einmal, es war inzwischen Herbst geworden und ich hatte ein paar Walnüsse, die ich auf dem Schulhof gesammelt hatte, in die Wurzelhöhle am Fuße des Baumes gelegt, war am nächsten Morgen alles unverändert. Ich war sehr niedergeschlagen, denn ich konnte mich wirklich keiner nennenswerten Sünde entsinnen, die ich an diesem Tage begangen haben konnte. Und dass ich der meiner Schwester die Haarspange versteckt hatte, konnte niemand gesehen haben. Aber - schon kam mir in den Sinn, dass das Lindemännle ja so ururalt sei, vielleicht war auch der Fahrstuhl kaputt. Oder vielleicht hatte es Rheuma wie die Omusch, die an diesem Tag auch im Bett geblieben war ...? So sammelte ich Zweige und Laub, legte sie so ordentlich wie möglich in den Höhleneingang und tat noch zwei Nüsse dazu. Die dritte, die ich noch mitgebracht hatte, musste ich leider selbst essen. Es hätte sonst wirklich niemand durch den ohnehin schon schmalen Eingang gepasst. Und mit diesen Gaben konnte die freundliche alte Unke oben im Zimmer des Lindemännle den Ofen anheizen und ihm die Nüsse zum Abendessen zubereiten! Dieser Gedanke muss wohl wirklich sehr lieb von mir gewesen sein – denn schon am nächsten Morgen war nichts, aber auch gar nichts mehr im Höhleneingang zu entdecken!

 

Jahre sind inzwischen wiederum vergangen. Die Schwester ist inzwischen schon längst erwachsen geworden, ich hingegen nur älter. Wir wohnen auch nicht mehr bei der Omusch, nein, wir haben inzwischen selbst Kinder. Und wenn wir die Omusch dann mal besuchen mit unseren Kindern, dann nimmt sie sie an der Hand und macht mit ihnen den gleichen Spaziergang zum Kirchplatz und zur Linde wie damals mit uns - und denen erzählt sie dann auch eine ganz ähnliche Geschichte. Denn jedes Mal hat ihre Phantasie noch ein wenig hinzu- oder weggezaubert. Nur eines kann die Omusch absolut nicht mehr, ob mit oder ohne Zauberei: Sie kann die Bank nicht mehr mit einer Grätsche überqueren. Dazu ist sie nun wirklich schon ein wenig zu alt.

 

EINE WIRKLICH SCHENIALE IDEE

 

 

"Das Kind ist ein Schenie!" hörte ich die Omusch eines Tages im Dorfladen zur dicken Frau Willmann sagen, "höchste Zeit, dass es zur Schule kommt!" Zwar hatte ich das erforderliche Schulalter noch nicht ganz erreicht, aber "ein Schenie" zu sein war gewiss was ganz Besonderes - und die Aussicht, in die Schule zu kommen, war nicht ohne Reiz. Die Schwester hatte es in der Tat recht gut, seit sie dorthin ging: Für jede gute Note bekam sie ein Zehnerle. Warum sollte diese verheißungsvolle Quelle nicht endlich auch für mich fließen? Außerdem musste ich immer wieder feststellen, dass die Großen ab und zu immer noch mehr wussten als ich - und das durfte nicht länger so bleiben. So fügte ich mich also ein weiteres Mal in das unabänderliche Schicksal, ließ mich in ein Kleid zwängen, Knie und Hände waschen - und ab ging's, zur dörflichen Volksschule.

 

Der alte, große Mann, der so wichtig aussah und dem gewiss die Schule gehörte, forderte mich auf, meinen einen Arm so um den Kopf zu legen, dass er das andere Ohr berühren konnte. Das gelang nicht. Entweder war mein Kopf zu dick - oder aber der Arm zu kurz: auf jeden Fall war ich nun wohl doch kein Schenie und der Mann meinte, ich solle noch ein wenig spielen, bevor ich dann im kommenden Jahr zur Schule gehen könnte. Die Omusch machte einen sehr enttäuschten und auch traurigen Eindruck. Sogar ein Schulrektor hatte nicht erkennen können, welch ein überaus besonders kluges Kind ihre Enkelin sei! Während sie mich auf dem Weg nach Hause an einem meiner zu kurzen Arme hinter sich herzog, begann ich bereits, mir meinen leider zu dicken Kopf gewaltig anzustrengen, um mir eine Lösung für das Problem einfallen zu lassen. Mussten in einem großen Kopf nicht logischerweise auch große Ideen Platz haben? Schlimm, schrecklich schlimm, die Omusch so niedergeschlagen zu erleben und nichts dagegen tun zu können!

 

Im Kindergarten war ein Platz freigeworden - und den bekam ich. "Welch ein Glück", atmete die Omusch schon ein wenig erleichterter auf, "nun stromert sie wenigstens nicht mehr den ganzen Tag in der Gegend rum!" Morgens wurde ich von nun an auf den Weg geschickt, ein nagelneues rotes Lacktäschchen aus Igelit baumelte um meinen Hals, zwei Groschen bekam ich in die Hand gedrückt, für die ich mir auf dem Weg zum Kindergarten eine Banane kaufen und die Milchflasche füllen lassen sollte. Eine ganze Woche machte ich das mit. Dann aber kannte ich alle Kinder und Spielsachen und die Lieder waren langweilig geworden. Auch die Tante war nicht mein Fall: Ständig ließ sie uns die Hände waschen und aufs Klo gehen, selbst, wenn das gar nicht nötig war. So nahm ich mein Leben wieder selbst in die Hand. Morgens ließ ich mir weiterhin die Banane in das rote Lacktäschchen packen und die Milchflasche füllen. Die dicke Frau Willmann lächelte mich dann jedes Mal ganz lieb an und freute sich offensichtlich gemeinsam mit der Omusch darüber, dass mein Leben nun allem Anschein nach in geregelten Bahnen verlief. Diese Bahnen führten mich fast jeden Tag in eine andere Richtung, ganz wie früher. Manchmal kletterte ich aber auch in den großen Baum mit den kleinen roten Beeren, der vor der Dorfgärtnerei von Opa Ginter stand, setzte mich auf meinen Stammplatz in luftiger Höhe, wo niemand mich sehen konnte und von wo aus ich dafür den totalen Überblick über das Geschehen in der näheren Umgebung hatte. Während ich die Banane in mich hineinstopfte und ab und zu an der Milchflasche nippte, konnte ich zum Beispiel beobachten, wie die Omusch in den Milchladen ging, pünktlich um 10, um ihn dann so gegen 11 Uhr wieder, halbwegs zufrieden lächelnd, mit ihrem Einkaufsroller zu verlassen und den Heimweg anzutreten. So viel Zeit zum Austausch von Neuigkeiten hatte sie nun ja, weil sie der Sorge um mein Wohlergehen enthoben war. Die Uhrzeit kannte ich deshalb so genau, weil zu jeder vollen Stunde die Kirchenglocken läuteten. Der Anblick meiner nur halbwegs zufrieden lächelnden Omusch rührte mich jedes Mal - und pünktlich um 11 Uhr strengte ich meinen Kopf wieder an, um endlich die scheniale Idee zu bekommen, wie die Omusch vollends glücklich zu machen sei.

Eine Tages war mir wieder ganz besonders nach Spazierengehen zumute. Wieder war es Sommer geworden, Schwarzwaldhochsommer, der nach Heu, Tannen und Walderdbeeren gleichzeitig duftete. An diesem besonderen Tag schlenderte ich also gemächlich durch hochbewachsene Wiesen, pflückte ab und zu blühende Gräser, flocht sie mit Glockenblumen zu Zöpfen, die ich dann sorgfältig in meinem roten Igelit-Täschchen verstaute. Manchmal gelang es mir, sogar einen kleinen Marienkäfer auf den Handrücken zu setzen und ihn dort ein wenig krabbeln zu lassen. Das kitzelte und brachte mich zum Lachen. Ich zählte die schwarzen Punkte auf seinem roten Rücken: fünf ... sechs ... genauso alt wie ich. Und genauso frei. Nur, der konnte auch fliegen. Und so beobachtete ich ihn ganz aufmerksam und ein wenig sehnsüchtig auch, wie er meinen Zeigefinger emportippelte, ganz oben die Flügelchen spreizte, erst die ganz durchsichtigen und dann die schwarzgepunkteten roten - und schon hob er sich ganz federleicht ab und verschwand irgendwo als fröhliches kleines Pünktchen. Der musste garantiert um zwölf nicht zu Hause sein! Die Kirchturmuhr schlug elfmal kurz und zweimal lang, also war es schon wieder halb zwölf - als ich am Hof des Pfaff-Bauern angelangt war.

Alles war wie sonst: die Bauern waren auf dem Feld, die großen Kinder arbeiteten im Stall, die mittleren waren offensichtlich in der Schule, in die ich ja nicht durfte, die kleinen patschten irgendwo hinten beim Misthaufen durch die herrlich schlammige Gegend, barfuß. Die mussten keine Schuhe anziehen, und waschen und kämmen brauchten die sich auch nie! Doch halt: da war ja doch etwas anders als sonst: Auf dem kleinen Wäscheplatz neben dem Schweinestall stand heute ein Ding, das fast so aussah wie ein Kinderwagen. Früher, ganz früher waren solche Dinger wirklich einmal Kinderwagen gewesen, hatte die Omusch mir erklärt. Heutzutage aber dienten diese Holzkarren mit den sehr hohen Rädern und dem geschwungenen Schiebegriff als Lastenfahrzeuge für die alten Bauernweible, zum Holzsammeln im Wald etwa oder beim Kaninchenfuttersuchen. Ich näherte mich dem Gefährt, stellte mich auf Zehenspitzen - und wagte einen Blick hinein Was ich da sah, verschlug mir die Sprache: Keine Zweige, keine Maiskolben, kein Kaninchenfutter: Nein, da lag wirklich ein echtes Baby drin! Das schlief und war so niedlich und so winzig, viel, viel schöner noch als eine echte Puppe. Ich betrachtete das Baby, lächelte in mich hinein. Und das Lächeln traf sich auf einmal irgendwo ganz tief drinnen mit einem ganz wehmütigen Gedanken, dem ewig gehegten Wunsch nach einem Lebewesen, das ganz für mich da war.

Die Mutti hatte so seltsam gelacht, als ich sie sehr höflich um ein Brüderchen gebeten hatte; die Omusch erklärte, sie könne keine Babys mehr kriegen ("meine Güte - Ideen hat das Kind....!" hatte sie verblüfft hinzugefügt). Aber das waren mal wieder so typische Ausreden der Großen. Ich betrachtete noch immer andächtig das kleine Gesichtchen unter mir, streichelte sanft ein geballtes rosa Fäustchen und wünscht mir ganz sehnlichst, das Baby wäre meins, ganz allein meins. Sacht strich ich mit den Fingerspitzen der rechten Hand über die weichen Flaumhärchen auf dem kleinen Kopf... k leinen Kopf...und da hatte ich sie, die scheniale Idee: Plötzlich war sie da. Und so einfach noch dazu. Ich wusste auf einmal, wie ich die Omusch wieder fröhlich machen - und mir selbst meinen sehnlichsten Wunsch erfüllen konnte. Wer weiß, ob das Baby überhaupt einem gehörte, und wenn schon: Kinder lässt man nicht so einfach rumstehen. Die Leute hier auf dem Hof hatten schon zehn davon und mehr ging ja wohl nicht. Unmöglich! hatte ich die Omusch zu dieser Frage schon mal sagen hören. Außerdem kriegen Bauern ja sowieso nur Kinder, die von vornherein arbeiten können, Babies gibt's da überhaupt nicht. So meine feste Überzeugung. Und dann, ja, das war ja wohl ganz besonders wichtig: Das Baby hatte einen ganz kleinen Kopf - und wenn das Ärmchen nur noch ein ganz klein wenig wachsen würde, könnte es schon recht bald das andere Ohr erreichen. Also würde es auch mal zur Schule kommen - und die Omusch wäre glücklich. 

Na endlich!

Ich war auch sehr, sehr glücklich, packte den Wagen ganz unten beidseitig am Schiebegriff, damit ich nicht auf Zehenspitzen gehen musste - und schob den Wagen, fröhlich vor mich hinsingend, den langen Wiesenweg zurück, nach Hause. Als ich dort ankam, schlug die Kirchturmuhr gerade zwölfmal: ich war pünktlich! So sachte wie möglich schob ich den Kinderwagen über den knirschenden Kiesweg in den Vorgarten des Hauses und stellte ihn - mitsamt meinem Baby - vor der Veranda ab. Da erwachte das Kleine und begann, zu meinem großen Erschrecken, zu weinen. Aber da ich nun schon mal eine scheniale Idee gehabt hatte, war da auch noch eine zweite: ich holte das noch halb gefüllte Milchfläschchen aus meiner roten Umhängetasche, schraubte den Verschluss ab - und bot es dem Baby an. Das schrie aber nur noch stärker und schlug mit dem Fäustchen gegen die Flasche, so dass sie überschwappte. Das war einfach zu viel - ich weinte mit. Da kam die Omusch aus dem Haus, erstaunt, dass ich pünktlich vom Kindergarten zurück war. Noch mehr erstaunt war sie allerdings, als sie entdeckte, was ich ihr mitgebracht hatte.

"Birrrrgit! - Was hast du bloß jetzt schon wieder angestellt!" rief sie laut - offensichtlich war sie der Meinung, ich habe Holz für sie gesammelt in dem alten Wagen oder aber Kaninchenfutter! Ich beeilte mich, die Tränen zu trocknen, zeigte auf mein Baby, das sich für einen Moment beruhigt hatte, kuschelte mich an die Omusch und sagte leise: "Für dich!" Dabei bemühte ich mich sehr, sie durch den verbliebenen Tränenschleier hindurch anzustrahlen. Da sagte die Omusch erst mal gar nichts, drückte mich nur ein klein wenig an sich und rief die Tante Inge, damit die sich um mein großartiges Geschenk kümmerte. Mich nahm sie mit ins Haus und beobachtete mich nachdenklich beim Mittagessen. Am Nachmittag war das Baby nicht mehr da. Ich weinte sehr, bis die Omusch mir vorsichtig erklärte, es hätte sich doch die richtige Mama für das Baby angefunden, und ohne weiteres würde sie es uns wohl nicht überlassen, sie habe es selbst ziemlich lieb. - Außerdem würde ich ja nicht allzu viel Zeit mehr haben, ein Baby zu versorgen, wenn ich in ein paar Wochen, nach den Sommerferien, zur Schule käme. 

Zur Schule käme? Also doch ein Schenie?

0h, ich hatte es ihnen ja gezeigt, wozu auch ein zu großer Kopf gut sein kann. Und mir selbst auch. Und da das mit dem Baby nun ja nicht geklappt hatte, wünschte ich mir eines von den kleinen Kätzchen, die gerade in der Nachbarschaft auf die Welt gekommen waren. Das bekam ich auch. Klein, kuschelig und warm. Ganz für mich allein zum Liebhaben und Schmusen. Und wenn ich es streichelte, dann schnurrte es. Einmal noch, kurz nach meiner diesmal geglückten Einschulung, stellte ich mich vor den Spiegel und machte den Versuch mit dem Arm und dem Ohr nochmal. Und jetzt hatte ich's raus: Ich musste nur den Kopf ganz dicht an die rechte Schulter drücken, dann den rechten Arm darüberlegen – und schon bedeckte die ganze Hand das linke Ohr. So einfach war das doch im Grunde. Hätt' ich's nur schon früher gewusst!

 

  

NICHT GESELLSCHAFTSFÄHIG

 

Mit 6 sollte ich mein Debüt in der Gesellschaft2 geben. Es gab da nämlich, nach langen Fußmärschen und Straßenbahnfahrten, irgendwo draußen in einer ruhigen Wohngegend der Stadt, inmitten eines waldähnlichen Parks ein Haus, das aussah wie ein Spukschloss. Nur waren die Räume anscheinend alle bewohnt, wenn auch mit ziemlich gespensterähnlichen Gestalten. (Vielleicht waren's echt welche?) Es waren vielleicht welche - und alle hießen sie "Tante". Komisch war, dass da auch Kinder wohnten, inmitten des großen Parks. Kinder, die anscheinend immer saubere Kleider anhaben mussten, weiße Strümpfe bis zum Knie und blanke schwarze Schnallenschuhe. (Nun ja, vielleicht machen Gespenster das tagsüber so.)

Nach einem kurzen "Nur-mal-so-Besuch", der ausreichte, um all die eben geschilderten Eindrücke festzuhalten, stand es also eines anderen Tages fest: Die zwei kleinen Flüchtlingsmädchen - dabei handelte es sich offensichtlich um die Schwester und mich - sollten ihren offiziellen Antrittsbesuch bei der feinen Verwandtschaft machen. Die Omusch, als Begleitperson geradezu prädestiniert, zerbrach sich also den Kopf, wie das Ereignis einigermaßen reibungslos über die Bühne zu bringen sei. Und das tat sie, es muss zugegeben werden, mit Recht. Von Kleidern undsoweiter hielt ich nämlich nicht besonders viel, auch Schuhe empfand ich zuweilen als störend. Meine Zivilkluft bestand aus einer Lederhose und dem Turnhemd. Für einen Tag sollte sich das ändern!

Man stelle sich vor: Da lagen an diesem denkwürdigen Tag neben unseren Betten zwei richtige kleine Elfenkleidchen: eines rosa und eines hellblau; beide aus ganz weichem, dünnem Stoff mit winzigen aufgedruckten Blümchen. Hellblau war - wie meistens - meine Farbe. Denn rosa steht ja bekanntlich nur richtigen Mädchen, wussten die Erwachsenen diese Farbwahl zu begründen Bei den Kleidchen blieb es nicht etwa. Wie sich recht bald herausstellte, sollte die fertige Kostümierung haargenau derjenigen gleichen, die die Gespenstermädchen in jenem zu besuchenden Haus trugen. Das heißt: weiße Kniestrümpfe, schwarze Lackschuhe und - mitten im Sommer!!! - kleine weiße Handschuhe. Ein Problem stellten anscheinend meine Hände dar. Gepasst hätten die Handschuhe wohl, die weißen Handschuhe jedoch standen in etwas zu hartem Kontrast zu der ungleichmäßig verteilten gesunden Farbe meiner Gliedmaßen.

Nun ja, die Omusch schaffte es, mich mit einem Trick zu überlisten. Sie füllte etwas warmes Wasser in eine Schüssel, streute Seifenflocken dazu und schlug mir vor, doch einmal die Kleidchen meiner Puppe Monika zu waschen. Das tat ich auch, so gut es eben ging. Zum Schluss hatte ich folgendes erreicht: Der Fußboden war durchnässt, die Schwester irgendwie auch, die Schüssel war leer und - die Farbe meiner Hände stimmte nun in etwa mit der Farbe der Handschuhe überein! 

So war der Vormittag vergangen, das Mittagessen - und die Stunde der Feierlichen Einkleidung war gekommen. Mein Gott, was hatten sie aus mir gemacht! "Eine kleine Dame", wie die Omusch ganz gerührt und wohl auch verblüfft feststellte. Sogar rote Bäckchen hatte ich wie eine Dame, allerdings vor Aufregung. Und los ging's. Ein Hochgefühl muss das für die Omusch gewesen sein: An jeder Hand ein weißbehandschuhtes Kleinmädchenhändchen, zu jeder Seite ein fein gemachtes Prinzesschen! Voller Spannung sah ich dem Abenteuer entgegen: einem Nachmittag im Gespensterhaus! Heimlich stellte ich bereits Spekulationen an: Könnte man in dem Spukschloss wohl herumstöbern wie auf Omuschs Speicher und dabei Schätze aus längst vergangenen Zeiten finden? Gab's da wohl auch graue Hornissennester hinter modrigen Dachbalken, so schön hinter fast unsichtbaren Spinnennetzen versteckt - oder ganz enorm giftige blaue Rattengiftkügelchen in der Ecke? Etwa auch eine Eule, die man immer nur hörte und nie sah?

Dermaßen in Gedanken versunken, hatten wir inzwischen die Hälfte des Weges zur Straßenbahnhaltestelle zurückgelegt und waren an der Eisenbahnunterführung angekommen. Den Weg bis hierher hatte uns der Reutebach begleitet, und eben dieser Dorfbach führte hier an dieser Stelle unter der Straße hindurch, um auf der anderen Seite der Unterführung wieder neben der Straße her zu plätschern. Einmal hatte ich's schon gewagt - und das war wohl sehr mutig von mir gewesen: Genau dem großen Sohn vom Pfaff-Bauern hatte ich's nachgemacht - und der wäre ja fast steckengeblieben unter der Straße: Nur - mir hatte das Publikum gefehlt. Gewiss konnte die Omusch gar nicht glauben, dass ich auch so etwas konnte (nicht nur eine richtige kleine Dame sein!). Eventuell würde ich bei meinem Vorhaben ja etwas nass werden, aber bei der Sonne trocknet sowas ja schnell - und außerdem schadet Wasser nie!

Soweit also meine Überlegungen vor dem Entschluss, an eben jener Stelle, wo der Bach unter der Straße verschwand, ohne jeden Anlauf einfach zu springen. Unten kam ich auf beiden Beinen an - wie es sich für ein sportliches Mädchen gehört! - und watete auch direkt weiter, auf die Unterführung zu. Ein halb ersticktes, entsetztes: Birrrgit!!! Komm sofort zurück!!! hallte mir zwar noch nach, aber: die sollten sich wundern - ich würde noch vor denen auf der anderen Seite sein! Es wurde unter der Betondecke nun zwar etwas dunkel und wirklich sehr eng, aber ich konnte ja auf allen Vieren weiterkrabbeln und in der Ferne sah man schon etwas Licht. Also weiter!

Fast hätte ich singen mögen vor Glück, hätte ich mich nicht zu sehr auf meine Entdeckertätigkeit konzentrieren müssen. Und außerdem hingen da so glitschig-kühle Dinger von der niedrigen Decke, unter denen ich hindurchkrabbeln musste und ab und zu ein klebriges Spinnennetz, so dass ich doch lieber mit geschlossenem Mund meinen Weg fortsetzte. Und dann hatte ich's geschafft! Wahrhaftig, und ohne auch nur einen Augenblick an Umkehren gedacht zu haben. So voller Glück und enormen Stolzes über die bestimmt überaus mutige und anerkennungswürdige Leistung versuchte ich etwas mühsam, auf der anderen Seite meinen Kopf aufzurichten und Omusch und die Schwester mit einem siegesfrohen Lächeln zu empfangen. Doch - was da vor sich ging, enttäuschte mich so sehr und traf mich ganz tief: Die Omusch brüllte rum, dass man es bestimmt im ganzen Dorf wieder hören mußte, die Schwester heulte drauf los und schimpfte auch.

Kein einziges Wörtchen der Anerkennung oder Bewunderung? Jetzt müsste der Besuch ausfallen? So wie ich aussähe? Zugegeben, ein bisschen nass war ich ja, auch ein wenig grünlich im Gesicht vielleicht und auch an den Händen. Eventuell auch etwas verklebt im Haar. Aber - war das denn ein Grund, jetzt so bös mit mir zu sein? Jetzt, da wir sowieso zu Gespenstern gingen? Weggejagt wurde ich - nach Hause. Und an diesem Tag wurde also nur die Schwester in die Gesellschaft eingeführt. Ich hatte den Anschluss verpasst – ein für allemal.

 

ZIGEUNERKIND

 

Die Schule wurde - trotz aller großer Erwartungen - ein glatter Reinfall. Das begann schon mit der Zuckertüte: Die war in den meisten Fällen bis fast oben mit Papier - oder, im günstigeren Fall - mit "sehr gesundem Obst" gefüllt, danach erst kamen ein paar Süßigkeiten, die man noch nicht einmal in der ersten Schulstunde lutschen oder kauen durfte. Geschweige denn in der folgenden Zeit. 0 weh!

 

Unsere Lehrerin, das Fräulein Nägele, hatte ein freundliches Gesicht und lächelte oft. Ansonsten war sie reichlich dumm. Von wem wollte sie wissen, was in der Fibel für Zeichen gemalt waren? Von uns. Und wenn wir ihr mal keine Antwort geben konnten, lächelte sie gar nicht mehr so freundlich und tat dann so, als hätte sie die Lösung ganz allein gefunden! Und ich hatte gedacht, sie ließe uns gleich schreiben und lesen! Manchmal, wenn sie wohl zu müde oder aber zu faul zum Buchstabenlernen war (alleskonnten wir ihr ja schließlich noch nicht beibringen) erzählte sie uns Geschichten. Die handelten mal von Bergen, mal von Flüssen, von Pflanzen oder von Tieren. Aber auch von Menschen. Und diese Menschengeschichten liebte ich am meisten. So lernte ich den Zundelfrieder kennen, den Till Eulenspiegel, die Schildbürger und auch die Sieben Schwaben. Von mir aus hätte das dann ewig so weitergehen können mit der Schule. Im Übrigen ging es dort leider schrecklich langsam voran, so dass ich mich gezwungen sah, mich schließlich selbst ums Lesenlernen zu bemühen. Während also das Fräulein Nägele sich an der Tafel bemühte, das 0 zu erlernen, indem sie zuerst einen Sack malte und den dann oben mit einer Schleife zuband, so: 

 

(aha, sie hatte 's endlich begriffen!) interessierte mich im Grunde viel mehr, wie die Räuber das anstellten, so viel Gold zu klauen, das angeblich in dem Sack drin war. Wie und wo sie lebten, hätte ich in der Schule lieber erfahren ... und überhaupt. Ganz gern hätte ich auch mal echte Räuber kennengelernt oder zum Beispiel ein Räuberbuch gelesen, anstatt dämliche Os in Schönschreibzeilen zu zwängen. Es dauerte keine zwei Tage, bis ein anderes, wenn auch verwandtes Thema mich zu fesseln begann. Seit ich zur Schule ging, unternahm ich meine Streifzüge nämlich gemeinsam mit der Angela, und das bedeutete für jeden Tag ein neues Abenteuer. Die Angela war fast noch ein wenig freier als ich, sie kannte als im Dorf aufgewachsenes Kind mehr von der Umgebung als ich, und das wollte schon etwas heißen. Ihr Wortschatz war zudem noch um einiges umfangreicher als der meine – und eben deswegen durfte ich eigentlich gar nicht mit ihr spielen. Ganz genau genommen lernte ich von ihr meine erste Fremdsprache, wirklich enorm unanständige Wörter wie zum Beispiel ... ach, Ihr kennt die Sprache auch?

 

Die Angela marschierte an diesem Tag mit mir zum Sauplatz - so heißt der wirklich und er war deswegen immer wieder besonders anziehend - wo wir eigentlich vorhatten, uns in einer Höhle unter den Brombeerhecken zu verstecken und die neuesten schlimmen Witze zu erzählen. Es kam aber anders. Am Waldrand, der an den Sauplatz angrenzte, war heute etwas anders als sonst. Die Wiese war wie von Wagenrädern durchfurcht, Herbstzeitlosen waren umgeknickt, hier und da lagen ein paar Pferdeäpfel, ein zerlöcherter Emaille-Eimer gar - und, warum hatte ich 's nicht gleich gesehn: die Überreste eines Lagerfeuers. Kaum zur Kenntnis genommen, hatte ich bereits blitzschnell kombiniert:

DIE RÄUBER WAREN DA! Echte, wilde Räuber! Meine Freude kannte keine Grenzen. Die Angela ließ sich, leider Gottes, kaum anstecken von meiner freudigen Rumhüpferei. Sie hatte nur ein überlegenes Achselzucken übrig für meine Naivität und meinte leichthin: "Vonwegen Räuber! Zigeuner waren das. Sieht doch jeder!" ZIGEUNER. Das Wort durchfuhr mich wie ein Blitz. Noch am Sonntag hatte ich die Mutti, die zu Besuch aus der Stadt in unser Dorf gekommen war, zur Omusch sagen hören (ich hatte wirklich nur ein klein wenig an der Küchentür gelauscht): „Wie das Kind bloß rumläuft, wie ein Zigeuner! Es wird Zeit, dass es ein geregeltes Leben kennenlernt." Und sie hatte ein mir unbekanntes Fremdwort benutzt, das "Internat" hieß oder so ähnlich. Die Omusch war anschließend ganz verärgert oder traurig gewesen, ich wusste das bei ihr nie so recht. Und sie hatte danach so komische Andeutungen gemacht, dass ich nun wohl bald wieder zur Mutti sollte... Ich bettelte die Angela förmlich an um mehr Informationen, wer diese Zigeuner waren. Vielleicht war ich eine von ihnen? Dass ich ein Stadtkind sein oder werden sollte, wollte mir einfach nicht in den Kopf gehen.

Was die Angela alles von den Zigeunern zu erzählen wusste, gefiel mir so sehr, dass ich am liebsten auf der Stelle hinterhergezogen wäre. Sie selbst hatte schon mal welche gesehen: Die hatten Wohnwagen, die von Pferden gezogen wurden, wie richtige Zirkusleute. Die Frauen trugen lange, bunte Kleider, sie hatten schwarzes Haar, braune Gesichter und jede Menge Kinder, die immer spielen und rumstromern durften. Keine Schule? Nee, keine Schule. Oh. Aber von Bergen und Flüssen und Pflanzen und Tieren lernten die auch so genug, die zogen ja immer in der Natur rum. Und, das absolut Tollste: Die klauen Kinder! Ja, kannste mir ruhig glauben! Mein kleines Zigeunerherz hüpfte bei dieser Eröffnung. Jede Menge Kinder klauen die, fuhr die Angela fort, denen färben sie dann die Haare und die Haut mit dem Saft von Walnussschalen. Kennt keiner mehr wieder. Deswegen haben die auch so viele! Endlich ging mir ein Licht auf, wie eine Erleuchtung kam es über mich: So, wie die Zigeuner Kinder klauten, verloren sie gewiss auch mal eins, bei der Menge fällt das wohl nicht besonders auf. Und so, wie man hierzulande kleinen Kindern abends mit der Wurzelbürste zu Leibe rückte, konnte das schönste Naturbraun wirklich erbleichen. Wen wunderte das dann noch?

Noch eines musste ich unbedingt von der Angela wissen: Haben Zigeuner besonders dicke Köpfe? Die Angela guckte etwas dumm, fasste sich aber sofort wieder und nickte: Na klar, besonders dicke - genau wie du! Jetzt wusste ich's: ich hatte mich, meine Identität gefunden! Für mich war jetzt nur noch wichtig zu wissen, wo die Zigeuner zur Zeit lagerten, sie zu finden - und mich zu erkennen zu geben. Der Omusch erzählte ich zu Hause nichts von meinem einschneidenden Erlebnis. Ich fragte sie nur, so ganz nebenbei, ob sie schon mal Zigeuner gesehen habe? Sie war etwas erstaunt, erzählte mir aber tatsächlich, dass in den vergangenen Tagen zwei Zigeunerinnen an der Haustür gewesen seien, um Körbe zum Verkauf anzubieten und dass sie anschließend um ein Glas Wasser gebeten hätten. Und, stell dir vor, Birgit, fügte sie hinzu, anschließend war an der Hauswand neben der Tür ein Kreidezeichen aufgemalt, das ging ganz schlecht wieder ab! So viele Informationen an einem Tag! Für mich war es nun endgültig zur Gewissheit geworden, dass ich in Wirklichkeit ein verlorenes Zigeunerkind sei und dass es sich bei einer der beiden Zigeunerinnen um meine Mutter gehandelt haben könnte, die verzweifelt nach mir suchte, im Haus Verdacht geschöpft hatte und allein aus diesem Grund die Hauswand markierte. Ob die Omusch das wohl ahnte?  

An den folgenden Nachmittagen war ich eifrig damit beschäftigt, in der Gegend rumzustromern, um noch mehr Spuren meiner vermeintlichen Sippe zu sichern. Ich wollte es umgekehrt meinen Leuten ganz besonders leicht machen, mich wiederzuerkennen und zermatschte zwischen Steinen grüne Walnussschalen, deren Saft allerdings mehr meine Hände als die Wangen bräunlich färbte. Die Omusch schüttelte abends nur noch den Kopf und schrubbte mich gründlicher als je zuvor. Das tat weh, innen wie außen, und ich fühlte mich im Grunde meiner Zigeunerseele hin und her gerissen. Übertrieb sie es mal wieder - oder hatte sie mich so lieb, dass sie mich wirklich nie mehr verlieren wollte - und sei es an meine wahre Familie? Der Verdacht verstärkte sich in mir, dass sie es am Ende selbst gewesen war, die mich eigenhändig geklaut hatte? Ganz vielleicht könnte ich ja noch ein wenig länger bei ihr bleiben, wo sie schon keine eigenen Babies mehr bekommen konnte. Schließlich musste ich unbedingt noch erfahren, was alles das Fräulein Nägele in der Schule noch zu bieten hatte. Viel konnte das eh nicht mehr sein.

 

Der Schulalltag pendelte sich wieder ein, und da es im Winter keine frischen Walnussschalen mehr gab, bräunte ich vorübergehend meine Haut mit Schuhcreme, Marke Erdal, war jedoch ganz schön erleichtert, allein schon des Gestankes wegen, als die Fasnachtszeit kam und sanft parfümierte Indianerschminke meine Zigeunerwangen zierte. Der Winter war vorbei, es lag nur noch ein klein wenig Schnee draußen. Die letzten Schneeglöckchen verblühten im Garten, beiseitegedrängt von farbenfroherem Krokus - und die Osterferien standen vor der Tür. Ich saß bei der Omusch am noch geheizten Kachelofen, mein schnurrendes Kätzchen auf dem Schoß, und träumte vor mich hin, während ich auf den Bratapfel wartete, der gerade im Ofen wunderbar duftend und ab und zu leise aufzischend briet. Da klingelte es draußen. Die Omusch sprang auf, indem sie in hohem Bogen die Beine von der Couch schwang, mein Kätzchen sprang erschreckt hinterher - und ich war aus meinen Träumereien gerissen. Als nächstes hörte ich die Omusch im Flur mit jemandem reden. Leise erst, dann immer lauter und aufgeregter - schließlich öffnete sie hastig die Wohnzimmertür, stieß fast mit mir zusammen, nahm mich etwas zu fest in den Arm und sagte mit ganz seltsam klingender Stimme: "Deine Mutter ist da. Sie will dich mitnehmen. "

 

Was sollte ich da sagen. Wie sollte ich da reagieren? Meine Mutter, auf die ich so lange gewartet hatte. Meine Zigeunermutter hatte mich endlich gefunden! Und da stand die Omusch nun und weinte tatsächlich. Meine Omusch, die mich geklaut hatte, weil sie mich, nur mich wollte und liebhatte. Meine Omusch, die doch keine Babies mehr kriegen konnte, die so schöne Geschichten erzählen konnte, die mir mein Kätzchen geschenkt hatte, die Bratäpfel ganz allein für mich briet - für mich. Ein ganz dicker Kloß saß plötzlich in meinem Hals. Die Tür öffnete sich, und im Raum stand ... nicht die Zigeunerin mit dem schwarzen Haar und dem bunten Rock, die ich erwartet hatte, nein, da stand meine Mutti - die aus der Stadt. Da stand sie, einen Koffer neben sich, und streckte ihre Arme nach mir aus. Ihr Gesicht sah ich nicht. 

Ich rückte noch enger in meine Ecke am Ofen, klammerte mich an mein Kätzchen, das wieder auf meinen Schoß geflüchtet war, drückte mein Gesicht in sein weiches, kuscheliges Fell und weinte. 

 

1 Verfasst noch zu Lebzeiten meiner Großmutter Olga Ohlsen geb. Jungé (1892-1981) und dieser gewidmet

2 Gemeint ist die entfernt verwandte Familie Mez, Garnfabrikanten in Freiburg

 

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