Unterm Rad1 – Die Geschichte eines Burnout

 

Hans Griebenrath ist ein Bub mit einem feinen Kopf und überhaupt etwas Besonderes. So urteilen der Pfarrer, der Lehrer, der Rektor, die Nachbarn und sogar die Mitschüler eines unbedeutenden schwäbischen Dorfs über ihn. Denn damals gab es nur einen schmalen Karrierepfad für Begabte, der auf der Kanzel oder dem Katheder endete, vorausgesetzt die Eltern waren reich. Wie ähnlich sind inzwischen die Verhältnisse unserer Zeit mit den damaligen geworden! Zugegebenermaßen endet die Karriereleiter in unserer Zeit woanders – Wirtschaftswissenschaftler, Banker oder Jurist, Politiker – aber der Reichtum der Eltern ist immer noch Karriere bestimmend.

Hermann Hesse hat sein Buch: „Unterm Rad“ 1903 geschrieben. 2010 diskutiert die Öffentlichkeit über Bildungsgutscheine für Kinder, die aus verwahrlosten Familien stammen. Denn so ist das Gesetz in den Köpfen derjenigen, die sich einer Politik verpflichtet fühlen, die ihre Verantwortung im Plenarsaal abgeben hat: Die Verwahrlosung der Kinder ist direkt proportional zum Vermögen ihrer Eltern.

Auf Seite 140 wird der Leser über den Stand der Dinge, was Hans Griebenrath betrifft, informiert: „Nun lag das überhetzte Rößlein am Weg und war nicht mehr zu gebrauchen.“. Blendet man die schönen Seiten im Leben von Hans aus, ist der Leser nicht überrascht, weil Hans schon immer mit Wissen vollgestopft wurde und unter Kopfschmerzen litt. Etwa ein Indikator für etwas Schlimmeres? Sicherlich, aber das wird genauso wenig ernst genommen wie Hans selbst: Zittern, Weinkrämpfe oder Schwindelgefühle sind schließlich nichts anderes als die Anzeichen eines verweichlichten Gemüts und dieses Urteil ist heute noch gültig.

Zweifel kommen zwar auf, wenn man als Leiter eines Seminars zwei begabte Schüler allzu plötzlich verliert. Aber an die Öffentlichkeit darf so etwas nicht dringen. Und darin unterscheiden sich die Verantwortungsträger von heute nicht von den gestrigen. Doch was so unter den Teppich gekehrt wird, wird zwar verschwinden, aber manchmal gibt es dann doch die Gelegenheit, den Teppich zu lupfen. Dann wird der Schmutz vergangener Tage ans Licht gebracht und verursacht bei dem ein oder anderen die gleichen Reaktionen wie bei dem tapferen und sittlich starken Rektor im Buch: „er bannt die unnützen und finsteren Zweifel aus seiner Seele.“

Hans verlässt das Seminar endgültig und macht sich auf den Weg nach Hause. Welches zu Hause wartet auf ihn? Er hat Angst vor seinem enttäuschten Vater, dessen Hoffnungen er betrogen hat. Er selbst will nach all der Quälerei rasten, ausschlafen, ausweinen und austräumen, einmal in Ruhe gelassen werden und endlich diese Kopfweh loswerden. Hans ist ein Opfer seiner selbst, weil er es zugelassen hat, zu dem werden zu wollen, was andere in ihm sahen. Doch wird er das begreifen, wird er sich befreien können, von dem was er ist und doch nicht sein will? Oder ist die Angst vor dem Leben inzwischen so groß, dass allein der Tod die Erlösung bringen kann?

Wird eine Person von anderen so behandelt als sei sie ein Geisteskranker, so beruht das auf falschen Informationen, die man über diese Person bekommen hat. Das Bild wird zur Wirklichkeit und die Person wird von dieser Wirklichkeit derart bewegt, dass ihr nur die geistige Starre übrigbleibt.

Meldet sich die Kindheit dann noch einmal im Leben zurück, so kann die raue Wirklichkeit im romantischen Spiel der Fantasie verschwinden und einem Bild der Möglichkeit weichen, das sich noch entwickeln muss, um dem Leben einen neuen Raum zu bieten. Aber Hesse hat dafür bessere Worte gefunden: „Wenn ein Baum entgipfelt wird, treibt er gern in Wurzelnähe neue Sprossen hervor, und so kehrt oft auch eine Seele, die in der Blüte krank wurde und verdarb, in die frühlinghafte Zeit der Anfänge und ahnungsvollen Kindheit zurück, als könne sie dort neue Hoffnung entdecken und den abgebrochenen Lebensfaden neu anknüpfen.“

„Wenn Jagen eine Freude ist, so ist bekanntlich Wildern ein Hochgenuss“. Das lernt man nur von den Schmuddelkindern, mit denen man bekanntlicherweise nicht spielen darf, die man als Kind aber nur dann trifft, wenn Arm und Reich Gasse an Straße wohnen. Wer kann das heute in unserer Zeit schon sagen, gehen sich doch beide Gruppen eher aus dem Weg und schaffen sich ihre eigenen Ghettos. Wer ist heute in der Lage Jugendlichen, die keine Tom-Saywer-Romantik kennenlernen können, beizubringen, dass eine selbstgemachte Angel um Lichtjahre besser ist als eine in Läden Gekaufte? Damals wurden die Briefträger wegen Trunksucht entlassen, heute werden trunksüchtige Beamte oder Angestellte therapiert. Tausend Helferlein stürzen sich auf sie, vorausgesetzt sie können damit Geld verdienen. Pech für den, der keine Arbeit hat und der Trunksucht verfallen ist. Er wird in der Öffentlichkeit als Parasit der Gesellschaft verteufelt.

Die verlorenen Inhalte und Ziele des eigenen Lebens können an den Orten des vergangenen Wirkens nicht gefunden werden, auch wenn man diese aufsucht und vielleicht den ein oder anderen Huckleberry Finn wieder trifft. Als Grundrauschen bleibt eine Melancholie zurück, in die man langsam und wehrlos wie im weichen Schlammboden versinkt. Nur der Aufbruch zu neuen Ufern hält die Irrfahrt am Leben und ist doch nur ein kleines Intermezzo. So ist Griebenrath, der neue Landschaften entdeckt, der vorerst Glückliche, der glaubt, sich selbst aus dem Sumpf herausziehen zu können. Am Ende wird nur die bittere Wahrheit übrig bleiben.

 

© GOO, August 2010

1Unterm Rad, Suhrkamp, Frankfurt a.M.

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