Ich lese nicht nur literarische Texte. Analysen sind auch manchmal darunter, zum Teil sehr interessante. Hier stelle ich ihnen eine vor: „Politische Führung in der Postdemokratie“, Claudia Ritzi und Gary S. Schaal, Aus Politik und Zeitgeschichte, 2-3/2010.

Abgesehen von der fürchterlichen, pseudowissenschaftlichen Sprache, geben die Autoren zwar zu, dass wir in keiner Demokratie leben, wenn man den ursprünglichen Sinn des Wortes zugrunde legt. Doch anstatt Wege aufzuzeigen, den ursprünglichen Sinn der Demokratie wieder in Kraft zu setzen, zeichnen sie ein neoliberales Bild der Demokratie. Auch eine Haltung, wenn man an die Fleischtöpfe will und nicht Zuckererbsen für jedermann fordert! Aber eins wird deutlich: die neoliberale Propaganda ist in der Demokratie angekommen. Bei der Besprechung habe ich in Klammern meine Lesart der wissenschaftlichen Begriffe gesetzt.

 

Demokratie verstehen die Autoren als ein Organismus, der eines Inputs bedarf, um einen Output zu produzieren. Dabei liefern die unterschiedlichen gesellschaftlichen Interessengruppen (Lobbyisten) den Input (Lebens- oder Überlebensmittel?) für die politische Führung (Politikrambos) – sehr originell. Durch einen camouflierten Stoffwechsel (der bis zur Bestechung geht), der sich unter den Augen des Volkes vollzieht, produzieren die Führungskräfte einen sichtbaren Output, der über bestimmte Katalysatoren oder Multiplikatoren (Bildzeitung, Staatsfunk, Internet) dem Volk vermittelt werden muss, um seine Akzeptanz zu erringen. Vox populi entscheidet dann nur noch über die Qualität der Vermittlung (Propaganda).

Damit das Ganze nicht als reine Propagandaveranstaltung missgedeutet werden kann, bedarf der vielfältige Input (Lobbyisten) einer politischen Führerpersönlichkeit (charismatisch nennt man das heute), die alles zum Wohle des deutschen Volkes (wozu braucht man es noch!!!), wie es im Amtseid so schön heißt, unter einen Hut bringt. Allerdings haben die Autoren (Politikwissenschaftler) so ihre Schwierigkeiten mit dem Begriff des Führers (warum eigentlich: sie arbeiten doch für die Bundeswehrhochschule und den Bürger in Uniform!), weil historisch vorbelastet (Führer befiel, wir folgen dir!). Er wird durch den englischsprachigen Begriff leader (verharmlosend) ersetzt. Eine sehr erfolgreiche Strategie, die schon oft angewandt wurde, wenn das Kind schon mehrmals in den Brunnen gefallen war: Aus Windscale wurde Sellafield, aus Citybank wurde Targobank, aus Führer wird CEO und BP sollte sich schleunigst einen neuen Namen überlegen. Populus ist schließlich blöd genug und merkt das nicht!

Um dem Ganzen einen Begriff zu geben, der griffig genug ist, greifen die Autoren auf Colin Crouch1 zurück, der in seiner Analyse der westlichen Demokratie von einer Postdemokratie spricht. Aber was versteht man unter dem Terminus „Postdemokratie“, bitteschön? Das lateinische "post" wird im allgemeinen Sprachgebrauch im Sinne von danach benutzt. Was ist also die Danachdemokratie? Fragt sich jeder, was vorher war, auf das sich dieses "post" bezieht? Hat es sie vielleicht doch gegeben, die Demokratie? Wie dem auch sei, vier Punkte werden herausgestellt, die die Danachdemokratie (als Prädiktatur) kennzeichnen.

 

1. Demokratische Prozeduren bleiben auf der institutionellen Ebene erhalten, soll heißen: Die Wahl wird es weiterhin geben – obwohl ich manchmal der Meinung bin, dass wir das Wählen in der Prädiktatur (mein Begriff für Postdemokratie) durch repräsentative Umfragen ersetzen können. Wäre doch angenehmer: Junger Mensch auf der Liegewiese – wie in der Werbung, stimmt gerade über die neue Regierungszusammensetzung ab. Einzelpersonen wären auch denkbar. Wir wählen jetzt einen neuen Kriegsminister; Entschuldigung: Verteidigungsminister natürlich. 2000 Bürger werden nach einem transparenten Auswahlverfahren ausgeguckt und nur wenige Klicks, schon ist der neue Minister gewählt. Untersuchungsausschüsse wird es weiterhin geben, die Verfassung wird es weiterhin geben und und und. Ob wir allerdings ein Einkommenswahlrecht bekommen werden, bleibt völlig offen. Aber darüber können wir ja schließlich abstimmen, oder?

 

  1. In Wirklichkeit haben diese Verfahren nur eine Feigenblattfunktion, weil die Möglichkeit, eine partizipative oder deliberative Demokratie zu organisieren, nicht mehr gegeben ist. Lässt sich das im Internetzeitalter den wirklich behaupten! Die Möglichkeiten für eine wahre Demokratie ist durch die Vernetzung der Menschen untereinander immer größer geworden. Aber sie wird nicht effektiv genutzt! Interessant wäre also die Beantwortung der Frage, warum das nicht der Fall ist?

Der Wähler entscheidet nicht mehr über politische Inhalte, so Crouch weiter, auch wenn die Parteien sie in Form von Wahlkampfprogrammatiken mit mehreren hundert Seiten zu jeder Wahl schriftlich festlegen. In der Danachdemokratie könnte man dies eigentlich streichen, weil:

 

3. An die Stelle klarer Parteiprogrammatik und dem Diskurs über politische Handlungsoptionen treten personalisierte Wahlkampfstrategien. Ja, hier wird die Wirklichkeit nun erfasst. Schröder im Widerspruch zur Parteibasis und die geschlossene Zerstrittenheit der Schwarz-Gelben an der Regierung!

 

4. Die Inhalte der Politik bestimmt die "Firma". Dies ist nicht nur ein mafiöser Ausdruck, sondern er bezeichnet die Politikmafia oder die Lobbyisten. Die Ziele der Politiker bestehen eben nicht darin Kompromisse oder einen Konsens zu erreichen, sondern weiterhin politisch unterstützt zu werden (durch die Bildzeitung, Wirtschaft oder andere sogenannte Leistungsträger unserer Republik).

Soweit so gut, denkt sich der geneigte Leser. Da hat der Mann sicherlich recht. Damit aber Postdemokratie nicht als Plutokratie in Jeans daherkommt, benutzen die Autoren einen neoliberalen Vergleich: Die Postdemokratie ist eine Angebotsdemokratie. Aber wo bleibt der freie Markt, werden sie sich vielleicht fragen? Schließlich stellt sich ein Gleichgewicht zwischen Angebot und Nachfrage dank seiner ideologischen Existenz ein.

Auch hierauf haben die Autoren eine plausible Antwort parat: Das Volk sieht in der Demokratie einen Einkaufszentrum für die eigenen fragmentarischen (egoistischen) Interessen. Angebotsdemokratie erzeugen eine Kluft zwischen der vielfältigen, fragmentarischen Nachfrage aus dem Volk und der politischen Umsetzung. Dann ist es für den armen Politiker schon besser, wenn er nicht von 50 Millionen Bürgern gleichzeitig zugeflüstert bekommt, was er tun soll, sondern sich bei den Lobbyisten dessen versichern kann.

Nun stehen die Autoren mitten im Leben und können auch nicht ignorieren, dass die Wahlbeteiligung stetig schwindet und sich immer mehr Staatsbürger von diesem Staat abwenden. Auch dafür haben die Autoren eine sehr einfache Erklärung dem Leser zu bieten: Warum das Volk immer weniger nachfragt, liegt an dem grottenschlechten Antwortverhalten der Demokratie, vergleichbar mit dem Internet vor zwanzig Jahren (www = world wide wait). Das Volk will zwar den Afghanistankrieg beenden, aber leider ist das heute nicht im Angebot der politischen Führung. Also: Pech gehabt! Einige verantwortungsvolle Unternehmer fordern höhere Steuern für die Reichen, aber leider hat die politische Führung das noch nicht im Angebot. Also: Wiederum Pech gehabt. In vier Jahren vielleicht noch einmal. Vollbeschäftigung? Das hat die politische Führung seit 1976 nicht mehr im Angebot! Aber ganz neu im Angebot ist existenzgefährdende Arbeit! Auch etwas, oder? Hartz IV für Arbeitslose ist schon länger im Angebot! Aber wenn die Löhne sinken, muss Hartz IV noch stärker sinken. Denn: Leistung = Arbeit pro Zeit soll sich wieder lohnen! Soll heißen: Die Angebote sind schließlich da, sie werden dem Volk allerdings schlecht vermittelt.

Offensichtlich sehen die Verfasser die Entwicklung zur Danachdemokratie als einen evolutionären Prozess im Sinne des Neoliberalismus an. Wenn keiner mehr nachfragen soll, will oder kann, dann ist die Welt eine Angebotswelt (Angebotswirtschaft, Angebotsdemokratie, Angebotskultur, ...). Die Welt ist nun einmal so, wie sie ist. Daran ist nichts Gutes und nichts Schlechtes. Man muss sich eben in dieser Angebotswelt einrichten. Erst dann kann man auch verstehen, warum das Arbeiten für zwei Euro die Stunde besser ist, als nicht zu arbeiten. Wer sich nicht anpasst, der wird in diesem evolutionären Prozess, den die Politik nur begleitet, untergehen.

Die Anhänger der deliberativen Demokratie im Sinne von Habermas sind Sozialromantiker. So heißt es im Text: „Die – vor allem von Anhängern partizipatorischer und deliberativer Demokratiemodelle geäußerte – Kritik an mächtigen politischen Einzelkämpfern beruht auf der Idealvorstellung, dass in demokratischen Systemen der „Wille des Volkes“ die Grundlage für das Handeln des Politikers sein sollte. Politiker würden demnach fast wie Marionetten an den Strippen der Bürgerinnen und Bürger hängen und im Rahmen institutioneller Regeln handeln.“ Die Vorstellung, dass der Wille des Volkes Grundlage für das Handeln eines Politikers sein soll, ist Populismus, reine Ideologie oder wie die Verfasser des Artikels es nennen: eine Idealvorstellung (sprich: naiv)! Mal abgesehen davon, dass die Autoren mit dem Terminus „Volkes Wille“ rein gar nichts anfangen können, wird es richtig spannend, welche Rolle das Volk in der Danachdemokratie der Berlusconis dieser Welt spielt?

Der angebliche Träger der Postdemokratie ist nicht das Volk, sondern sind die Experten dieses Landes, eben weil die Welt so kompliziert, sprich komplex geworden ist. So soll der Experte das richten, was B. Pascale schon früher einmal gesagt hat: „Vielfalt, die sich nicht in Einheit ordnet, ist Verwirrung. Einheit, die sich nicht in Vielfalt gliedert, ist Tyrannei.“ Die Mathematiker mit ihrem Sinn fürs Abstrakte hatten es immer einfach, solche Sprüche vom Stapel zu lassen. Aber bei den Experten, die man in der Öffentlichkeit zu Gesicht bekommt, klingt das Wort Experte wie eine neue deutsche zu Käse gewordene Sachlichkeit: Handkäs mit Musik. Zum Beispiel in der Person des Herrn Sinn von der INSM, oder eines weitblickenden INSM-Journalisten, wie zum Beispiel des Herrn Krumrey, der es immerhin bis zum stellvertretenden Chefredakteur geschafft hat.

Warum also alles so kompliziert machen? Weil es eine wissenschaftliche Arbeit ist! So heißt es am Ende des Textes dann: Auch vor dem Hintergrund empirischer Analysen erscheint die postdemokratische Entwicklungsrichtung problematisch.“. Klingt ein wenig nach politischer Untertreibung, wenn man die Analyse von Colin Crouch gelesen hat. Eine Entwicklungsrichtung zu Prädiktaturen ist immer problematisch, auch wenn man sich weigert, sie so zu nennen. Aber die Verfasser haben schließlich eine wissenschaftliche Arbeit abgeliefert!

Ist das Ganze eine technokratische Analyse? Ja, weil Demokratie als eine nach physikalischen Gesetzen funktionierende Maschine dargestellt wird, die den herrschenden Interessen dient. Deshalb gibt es auch eine technische Lösung, denn nicht umsonst besitzen die Herrschenden nicht nur die Produktionsmittel, sondern auch die Informationsmittel: „...die jedoch Kritik an der Funktionsweise und Performanz der implementierten Demokratieform üben – ist wohl weniger auf einen Mangel an politischen Führern zurückzuführen als auf die Wahrnehmung einer nicht ausreichenden Responsivität.“. Na, das kann eingerichtet werden: Verstärkung der Regierungspropaganda und der Meinungskontrolle durch Presse, Funk, Internet und was es sonst noch so an neuen Medien gibt!

Ein sehr gutes Beispiel lieferte jüngst der Wirtschaftswissenschaftler Dr. Klaus-Jürgen Gern, beschäftigt am Institut für Weltwirtschaft in Kiel. 2014 könnte es Wirklichkeit werden in Deutschland: Vollbeschäftigung. Immerhin eine gewagte Prognose, weil es seit 1976 in der damaligen BRD heute Deutschland keine Vollbeschäftigung mehr gab.

Das was als wissenschaftliche Arbeit daherkommt, ist dann doch nur Aufforderung zur Propaganda auf die so oft gehörte Klage der Politiker, dass sie ihre Entscheidungen wie zum Beispiel das Sparpaket der Bundesregierung nicht allen in der Öffentlichkeit gleichermaßen vermitteln können. So werden eventuell demnächst neue Arbeitsplätze in unserer Republik geschaffen: Die des Vermittlungsreferenten etwa? Er wird die Menschen per Telefon, Internet oder auf dem JobCenter nerven, um die Politik zu vermitteln, die inzwischen so schwer vermittelbar geworden ist. Oder anders ausgedrückt: Politik ist ein Experiment, dessen Ausgang völlig offen ist!

Man könnte ja Mitarbeitern einer Bundeswehrhochschule unterstellen, dass die wissenschaftliche Studie mit dem Afghanistankrieg zu tun hätte und dass man wenigstens in diesem Bereich einen Prototyp vorweisen wolle: Best Praxis der Responsivität (Propaganda) eben. Unter diesen Umständen würde auch ich diese wissenschaftliche Arbeit verstehen, wenn es dazu kommen sollte: Wissenschaftliche Studie zur Verbesserung der Responsivität, Auftraggeber: das Verteidigungsministerium. Hört sich nicht nur gut an, sondern wäre auch eine Arbeitsplatzsicherungsmaßnahme für den Fachbereich. Und gerade hier hätte man doch ein interessantes Testfeld für die Studie: Vermittlungsschwierigkeiten bei der Veröffentlichung der geheimen Kriegsprotokolle von TF 373 auf Wikileaks. Aber auch wenn nichts dabei herauskommt, würde der Bundesrechnungshof sicherlich keine Rüge erteilen. Das sind Peanuts, um es mit Hilmar Kopper zu sagen.

 

Zu den Autoren:

 

Dipl. rer. com., arbeitet seit 2008 als Wissenschaftliche Mitarbeiterin am Lehrstuhl für Politikwissenschaft, insbesondere Politische Theorie, der Helmut-Schmidt-Universität (UniBw) in Hamburg. Ihre Forschungsinteressen liegen im Bereich der Verfassung, empirischen Deliberationsforschung und des Feminismus.

 

Prof. Dr. Gary S. Schaal, Herausgeber der Zeitschrift für Politische Theorie (ZPTh), Mitglied der Geschäftsführenden HerausgeberInnengremiums der Österreichischen Zeitschrift für Politikwissenschaft (ÖZP)

1Colin Crouch, britischer Politikwissenschaftler und Soziologe, Postdemokratie, Suhrkamp, Frankfurt am Main 2008.

© GOO, Juli 2010

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